13 May 2021

Pushbacks sind illegal – und zwar immer

Mittlerweile kann kaum mehr bestritten werden, dass an den europäischen Außengrenzen Menschen zurückgewiesen werden, ohne ihr Schutzgesuch geltend machen zu können und ohne ein Prüfverfahren gewährleistet zu bekommen. Und dass es sich dabei nicht nur um Einzelfälle und um Maßnahmen einzelner skrupellosen Grenzschutzakteur*innen handelt, sondern um ein systemisches Vorgehen unter der Order der Regierungen vor Ort, unter Beteiligung der Grenzschutzagentur Frontex, sowie mit Unterstützung eines Großteils der Mitgliedstaaten einschließlich Deutschlands. Derweil werden immer mehr Stimmen laut, die nicht allein die Tatsachen, sondern zugleich das Recht und damit in Frage stellen, dass sogenannte Pushbacks den Menschenrechten, dem Völkerrecht und dem Europarecht widersprechen. Gründe genug für eine Klarstellung: Pushbacks sind illegal, und zwar immer.

Allein nach offiziellen Zahlen sind im Rahmen von Einsätzen der Europäischen Grenzschutzagentur Frontex seit März vergangenen Jahres 132 Flüchtlingsboote von der griechischen Küstenwache abgefangen worden. Das Uno-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) hat nach eigenen Angaben seit Beginn des vergangenen Jahres „mehrere Hundert Fälle“ von Zurückweisungen registriert. Gewichtige Hinweise sprechen nach Recherchen von Report Mainz, Bellingcat, dem Spiegel und weiteren Medien dafür, dass Frontex auch selbst und unmittelbar in illegale Zurückweisungen verwickelt ist. Für die kroatisch-bosnische Grenze zählt der Danish Refugee Council allein in 2020 16.000 Zurückweisungen von Geflüchteten ohne Verfahren.

Unterdessen behauptete der griechische Migrationsminister Notis Mitarakis im April mit Blick auf Geflüchtete, die angeblich von der türkischen Kriegsmarine in griechische Gewässer gelotst worden seien und daraufhin von der griechischen Wasserpolizei an der Weiterfahrt gehindert wurden, dass es sich bei den Menschen nicht um Flüchtlinge handele – die Genfer Flüchtlingskonvention beträfe Menschen, die vor Gefahren fliehen, „nicht Menschen, die von einem Nachbarstaat bei der Überfahrt unterstützt werden.“ Der Direktor von Frontex, Fabrice Leggeri, sagte anlässlich der Vorwürfe gegenüber seiner Agentur, dass Boote, die sich nicht in Seenot befinden und wenn der Verdacht des Menschenhandels bestehe, angewiesen werden dürften, ihren Kurs zu ändern und zu einer Kuränderung gezwungen werden könnten – dies sei von der EU-Verordnung zur Überwachung der Seegrenzen auch für Frontex-Einsätze und allgemein durch internationales Seerecht gedeckt.

Der Rechtswissenschaftler und Migrationsrechtler Daniel Thym schließlich führte in einem Beitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zuletzt aus, dass die Situation juristisch keineswegs eindeutig sei, und Pushbacks keineswegs pauschal als illegal bezeichnet werden könnten – und begründet dies unter anderem mit den eingeschränkten Prüfpflichten auf Hoher See, der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) und einem Verweis auf das UN-Zusatzprotokoll gegen die Schleusung von Migranten von 2000 sowie der EU-Verordnung zur Überwachung von Seeaußengrenzen von 2014.

Es soll nicht bestritten werden, dass sich bei der Grenzschutzpolitik und dem Umgang mit Schutzsuchenden, bei der Kollision von staatlicher Souveränität einerseits und Menschenrechten und Flüchtlingsrecht andererseits, komplexe rechtliche Fragen stellen. Komplexe Fragestellungen können dennoch zu einer klaren Antwort führen: Pushbacks, verstanden als Zurückweisungen und das Zurückdrängen von Schutzsuchenden ohne ein effizientes Verfahren und eine ernsthafte Prüfung der Schutzgründe, verstoßen gegen fundamentale Vorgaben des Völkerrechts und des Europarechts.

Effektives Verfahren statt rudimentärer Prüfpflichten

Zunächst zu der Frage, welche Person überhaupt von einem Pushback betroffen sein kann. Thym weist darauf hin, dass das Europarecht zwar die Möglichkeit vorsehe, dass ein Asylantrag auch in den Hoheitsgewässern gestellt werden könne – die Grenzpolizei „entlang der Grenze im Wald oder auf See jedoch keine allzu großen Aufklärungspflichten“ habe. Dementsprechend stehe keinesfalls fest, dass Adressat*innen einer Zurückweisung regelmäßig einen Asylantrag gestellt haben. Tatsächlich setzt die Geltendmachung eines Schutzgesuchs keineswegs die ausdrückliche oder formale Stellung eines Asylantrags voraus, sondern reichen auch die implizite Äußerung oder die für die Behörden ersichtlichen Gesamtumstände aus, um von einem Schutzgesuch zu sprechen. Diese Lesart ist auch im deutschen Recht bei der Frage, ob ein Asylgesuch im Sinne von § 13 des Asylgesetzes vorliegt, unbestritten. Auch gelten die non-refoulement-Gebote, also die Zurückweisungsverbote aus der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), unabhängig von Äußerungen und Antragstellungen: In der für die menschenrechtliche Prüfung von Zurückweisungen ganz zentralen – von Thym an keiner Stelle zitierten – Hirsi-Entscheidung des EGMR von 2012 heißt es dementsprechend, dass das Zurückweisungsverbot aus Art. 3 EMRK nicht deshalb ausgeschlossen sei, „because the applicants failed to ask for asylum or to describe the risks faced as a result of the lack of an asylum system in Libya.“ In der Entscheidung Ilias und Ahmed gg. Ungarn aus dem November 2019 betont der EGMR, dass die handelnden Staaten auch unabhängig von einer Antragstellung eigenständige Aufklärungspflichten haben, und also verpflichtet sind, „[to] carry out of their own motion an up-to-date assessment […] with reference to the facts which were known to the national authorities at the time of expulsion but it is the duty of those authorities to seek all relevant generally available information to that effect.“ Schließlich kann etwa mit Blick auf Zurückweisungen in der Ägäis kaum bestritten werden: Menschen, die aus der Türkei nach Griechenland flüchten, suchen Schutz – dafür braucht es kein ausdrückliches Schutzgesuch.

Davon zu unterscheiden ist die Frage, welche staatlichen Pflichten aus einem Schutzgesuch folgen – und unter welchen Umständen diese Pflichten ausgeschlossen sein könnten. Zentrale Vorgaben enthalten hierbei die EMRK und die GFK: Aus der reichhaltigen Rechtsprechung des EGMR zum non-refoulement-Gebot aus Art. 3 EMRK ergibt sich, dass die jeweils handelnden Behörden verpflichtet sind, ein effektives Verfahren bereit zu stellen. Darin muss das Schutzgesuch geprüft und die Person über das Verfahren informiert werden, wenn sie, wie der EGMR an anderer Stelle ausführt “were or should have been aware that the first applicant was an asylum-seeker who might have needed international protection”. Daneben verlangt Art. 13 EMRK einen Rechtsschutz, der rechtlich wie tatsächlich effektiv zugänglich sein muss. Diese individuellen Verfahrensgarantien gelten grundsätzlich auch dann, wenn eine Zurückweisung nicht in den Herkunftsstaat, sondern in einen als sicher deklarierten Drittstaat in Rede steht.

Auch sind diese Verfahrensvorgaben weder ausgeschlossen noch eingeschränkt, wenn eine staatliche aktive Maßnahme außerhalb des Territoriums stattfindet, wie der EGMR nicht zuletzt in der zitierten Hirsi-Entscheidung klargestellt hat. Insofern können sich Behörden wie Küstenwachen auch nicht darauf berufen, dass ein Asylverfahren praktisch nicht durchführbar ist, sondern sind sie im Zweifel verpflichtet, den Antrag anzunehmen und an die jeweils zuständige Stelle weiterzuleiten. Die territoriale Auslagerung von Grenzschutzmaßnahmen führt nicht zu einem geringeren Schutzstandard. Insofern weist Thym zwar zutreffend darauf hin, dass auf Hoher See zwar nicht die unionsrechtliche Asylverfahrensrichtlinie gilt, jedoch führt dies nicht zu nur „rudimentären Prüflichten.

Vorrang der Menschenrechte

Andere Rückschlüsse ergeben sich auch nicht aus der verschiedentlich angeführten Entscheidung des EGMR im Verfahren N.D. und N.T. gegen Spanien. In der Entscheidung aus dem Februar 2020 ging es um die Rückschiebung von zwei Personen aus Mali und der Elfenbeinküste aus der spanischen Exklave Melilla nach Marokko und der Rechtmäßigkeit anhand des Verbots der Kollektivausweisung gem. Art. 4 4. Zusatzprotokoll EMRK. Das Urteil hat zu Recht massive Kritik erfahren, indem es den Schutzanspruch und die Geltung der Menschenrechte im Fall eines illegalen oder gewalttägigen Verhaltens der Betroffenen auszuschließen scheint. Vor allem kann aus dem Urteil nicht abgeleitet werden, dass Zurückweisungen ohne Verfahren ohne Weiteres rechtmäßig sein können: Denn erstens wird die geltend gemachte Kollektivausweisung in dem Urteil zudem mit der Möglichkeit einer legalen Einreisealternative legitimiert – welche für Schutzsuchende in der Ägäis offensichtlich nicht existiert. Zweitens: Maßstab des Urteils ist allein das Verbot der Kollektivausweisung aus Art. 4 4. ZP., nicht hingegen das refoulement-Verbot aus Art. 3 mitsamt der besagten Verfahrensvorgaben – zu eben diesen macht der EGMR in der Entscheidung keine Aussagen und revidiert damit auch nicht seine Rechtsprechung.

Ergänzend ergibt sich auch und ebenfalls ohne eine territoriale Einschränkung aus Art. 33 GFK die staatliche Pflicht, den Zugang zu einem behördlichen und individuell effektiven Verfahren zu gewährleisten und effektiven Rechtsschutz zu ermöglichen. Demensprechend hat auch der UNHCR als maßgebliches Gremium für die Auslegung der GFK zuletzt angesichts der zahlreichen Berichte über Zurückweisungen an den europäischen Land- und Seeaußengrenzen an die EU und die betreffenden Mitgliedstaaten appelliert, Geflüchteten „Zugang [zu] gewähren, sie auf See retten und ihre Ausschiffung erlauben sowie neu ankommende Asylsuchende registrieren und unterstützen“, denn „Pushbacks sind schlicht und einfach illegal.

Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem UN-Zusatzprotokoll gegen die Schleusung von Migranten auf dem Land-, See- und Luftweg zum Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität von 2000. Dieses sieht zwar in Art. 8 Abs. 7 vor, dass im Fall eines Verdachts, dass ein Schiff für die Schleusung von Migranten auf dem Seeweg benutzt wird und keine Staatszugehörigkeit besitzt, das Schiff angehalten und durchsucht werden und geeignete Maßnahmen ergriffen werden können, um die Schleusung zu unterbinden. Die Vorschrift stellt aber sogleich klar, dass dies allein im Einklang mit dem einschlägigen – und oben ausgeführten Völkerrecht – erfolgen darf.

Gleiches gilt im Ergebnis für die EU-Verordnung von 2014 zur Festlegung von Regelungen für die Überwachung der Seeaußengrenzen im Rahmen von Frontex-Operationen: Auch diese Verordnung sieht – sowohl für die Hoheitsgewässer der Mitgliedstaaten als auch für die Hohe See – die Befugnis vor, für den Fall eines Schleusungsverdachts das betreffende Schiff anzuweisen, seinen Kurs zu ändern. Auch diese Befugnis gilt bereits normenhierarchisch nur im Rahmen der Menschenrechte und des Völkerrechts – zugleich wird die Einhaltung des refoulement-Verbotes auch ausdrücklich in Art. 4 der Verordnung festgelegt und definiert.

Richtig ist, dass weder aus der EMRK noch aus der GFK auch bei konsequenter Anwendung dieser Maßgaben ein „Recht auf Asyl“ folgt. Der EGMR betont regelmäßig, dass „that neither the Convention nor its Protocols protect, as such, the right to asylum“ – im Gegensatz etwa zu Art. 18 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Dies adressiert jedoch nur die an den Schutzanspruch geknüpfte Qualität des Bleiberechts – schränkt indes nicht den Umfang der Verfahrensrechte aus den Menschenrechten ein.

Relativierung und Banalisierung des Rechtsbruchs

Während die EU-Kommission einen Willen zur Aufklärung der massiven Rechtsbrüche an den Außengrenzen jedenfalls suggeriert, sind die tragenden Mitgliedsstaaten an einer bedingungslosen Offenlegungen der systemischen Menschenrechtsverletzungen nicht interessiert – ganz im Gegenteil: So hat das Bundesinnenministerium (BMI) bei der Aufklärung einer illegalen Zurückweisung im August 2020 durch die griechische Küstenwache wissentlich Informationen zurückgehalten. Im April sprach sich das BMI außerdem gegenüber dem Verwaltungsrat von Frontex gegen die Einrichtung einer Arbeitsgruppe zur Aufarbeitung von Pushbacks in der griechischen Ägäis aus. Der Mangel an Transparenz und Aufklärungsbereitschaft kommt nicht von ungefähr: Die Politik eines rigiden Grenzschutzes, der Menschenrechte strukturell missachtet und institutionell eingekleidet ist in eine gänzlich unkontrolliert und intransparent agierende Behörde namens Frontex, ist politisch – und zuvorderst von den Mitgliedstaaten – gewollt.

Umso brisanter ist es, wenn nunmehr gewichtige Stimmen mit scheinbar differenzierenden, aber im Ergebnis maximal fragwürdigen Argumenten Menschenrechtsverletzungen auch juristisch relativieren, den rechtlichen Diskurs verschieben – und damit meinungsbildend zur Banalisierung eines systematischen Rechtsbruchs beitragen. Daniel Thym schreibt abschließend: „Schließlich offenbart sich in der Ägäis ein Grundproblem des europäischen Asylrechts, wenn dieses auf hochkomplizierte Verfahren setzt, die in der Praxis nicht funktionieren. […] Das Versprechen bleibt vorerst eine Illusion, mittels kurzer Anhörungen und schneller Asylverfahren einerseits die Grenzen effektiv zu schützen und andererseits die Menschenrechte zu beachten.“ Ich möchte es anders formulieren: Eine kluge Rechtswissenschaft muss Umfang und Reichweite von Menschenrechten bestimmen – die praktische Umsetzung ist eine Frage des politischen Willens.