„Racial Profiling“ ist verfassungswidrig
Inwiefern es einen Akt „schöngeistiger Rechtspflege“ (so der Vorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft, Rainer Wendt) darstellt, das Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 GG zu effektuieren, darüber lässt sich füglich streiten. Jedenfalls hat das OVG Koblenz gestern doch noch einmal dem Grundgesetz den Vorrang vor vermeintlichen Zwängen polizeilicher Praxis eingeräumt.
Ein Architekturstudent aus Kassel war im Dezember 2010 auf einer Bahnfahrt durch Hessen von Beamten der Bundespolizei einer Identitätskontrolle nach § 22 Abs. 1a BPolG unterzogen worden. Er schöpfte zu Recht den Verdacht, allein aufgrund seiner schwarzen Hautfarbe in das Raster gefallen zu sein. Denn andere Fahrgäste blieben von der Maßnahme verschont. Den Beamten ging es um einen möglichen Verstoß gegen aufenthaltsrechtliche Vorschriften – und das ausgerechnet in Treysa, weit entfernt von der Bundesgrenze und – wohlgemerkt – auf dem Weg hin nach Frankfurt mit seinem internationalen Flughafen. Doch die Polizisten wähnten die Statistik auf ihrer Seite, nach der Menschen mit dunkler Hautfarbe häufiger ausländerrechtliche Vergehen begingen.
Damit hatten sie das VG Koblenz noch überzeugt, welches allerdings in geradezu grotesker Ignoranz das eigentliche Problem des Falles mit keinem Wort erwähnt hatte. Stattdessen hatten die Richter sich in ihrem lapidaren Urteil vom 28.2.2012 (Az. 5 K 1026/11.KO) allenfalls mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung auseinander gesetzt und durch die Berücksichtigung polizeilicher Lageerkenntnisse ein willkürliches Vorgehen für ausgeschlossen gehalten. (Daneben lief noch ein Strafverfahren wegen Beleidigung, da der Kläger bei der Ausweiskontrolle „SS-Methoden“ anprangerte. Dieses endete in zweiter Instanz mit einem Freispruch.)
Das OVG Koblenz als Berufungsinstanz zeigte sich nun in seiner fünfstündigen Verhandlung deutlich problembewusster. Die Praxis des „Racial“ oder „Ethnic Profiling“ verstoße gegen das Verbot der Diskriminierung aufgrund der „Rasse“. Dieser nicht unproblematische Rechtsbegriff muss hier als Reaktion des Grundgesetzes auf rassistische Verfolgungen unter dem Nationalsozialismus verstanden werden. Allein aufgrund der Hautfarbe muss keine Person Einschränkungen ihrer persönlichen Freiheit hinnehmen. Nach überwiegender Ansicht in der – freilich spärlichen – juristischen Literatur zu diesem Thema können rassistische Diskriminierungen niemals durch eine Abwägung mit anderen Rechtsgütern gerechtfertigt sein. Doch selbst wenn man eine solche Diskriminierung einer Abwägung zugänglich machen wollte, kämen hier höchstens Effizienzvorteile für die Arbeit der Bundespolizei bei der Durchsetzung des Aufenthaltsrechts in Frage. Diese fußen indes eher auf Stereotypen als auf belastbarem statistischem Material. Jedenfalls kommt den Vorschriften des Aufenthaltsrechts nicht ein solches verfassungsrechtliches Gewicht zu, dass sie die Diskriminierungsverbote des Art. 3 Abs. 3 GG überwögen.
Zweitens verstößt die Praxis des „Racial Profiling“ gegen völkerrechtliche Verpflichtungen Deutschlands. Insbesondere hat der UN-Menschenrechtsausschuss im Fall Rosalind Williams Lecraft gegen Spanien (vgl. Communication No. 1493/2006) zu einem fast identischen Sachverhalt festgestellt, dass verdachtsunabhängige polizeiliche Maßnahmen, die allein auf Menschen mit bestimmten physischen oder ethnischen Zuschreibungen abzielen, das Diskriminierungsverbot aus Art. 26 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte verletzen:
“However, when the authorities carry out such checks, the physical or ethnic characteristics of the persons subjected thereto should not by themselves be deemed indicative of their possible illegal presence in the country. Nor should they be carried out in such a way as to target only persons with specific physical or ethnic characteristics. To act otherwise would not only negatively affect the dignity of the persons concerned, but would also contribute to the spread of xenophobic attitudes in the public at large and would run counter to an effective policy aimed at combating racial discrimination” (UN Human Rights Committee, a.a.O., par. 7.2).
Jenem Fall war immerhin eine Beschwerde (amparo) an das Spanische Verfassungsgericht vorausgegangen, das im Jahre 2001 ethnische Zuschreibungen als legitimen Indikator der Nationalität erachtet hatte:
„(…)the police took the criterion of race merely as indicating a greater probability that the person concerned was not Spanish. None of the circumstances surrounding the incident suggest that the National Police officer’s conduct was dictated by racial prejudice or any particular intolerance of members of a specific ethnic group (…). The action taken by the police occurred in a place of transit, a railway station, where, on the one hand, it is not unreasonable to suppose that there might be a greater probability than elsewhere that people who are selectively requested for identification may be foreign; and, on the other hand, the inconvenience that any request for identification may cause is minor and a reasonably acceptable part of daily life. (…) Nor has it been proved that the police officers carried out the procedure in an inconsiderate, offensive way or gratuitously hindered the complainant’s freedom of movement (…), since they took only as long as was necessary to carry out the identity check. Lastly, it may be excluded that the police officers acted in an angry or strident fashion which attracted attention to Ms. Williams Lecraft and the persons accompanying her, making them feel ashamed or uncomfortable in front of the other people in the railway station (…). What might have been discriminatory was the use of a criterion (in this case a racial one) which bore no relation to the identification of the persons for whom the legislation stipulated the administrative measure, in this case foreign citizens” (zitiert nach UN Human Rights Committee, a.a.O., par. 2.6 fn. 1).
Die fehlende Sensibilität für die Belastungswirkung der Ungleichbehandlung als solcher irritiert an diesem Spruch genauso wie die Tatsache, dass die Richter aus der Einsicht, dass die Hautfarbe in keinem direkten Zusammenhang mit dem Ausländerstatus stehe, keine Konsequenzen zogen. Woher nahmen die Richter diese Chuzpe in einer mosaikhaften, postmigrantischen Gesellschaft?
Anders in Koblenz, wo es noch (Berufungs-)Richter gibt. Diese erklärten das VG-Urteil – vielleicht auch unter dem Eindruck reger zivilgesellschaftlicher Beteiligung – für verfassungswidrig und legten der Bundesrepublik die Kosten des Verfahrens auf. So hatten Amnesty International, das Deutsche Institut für Menschenrechte, die Initiative Schwarze Menschen in Deutschland und das Büro zur Umsetzung von Gleichbehandlung den Fall seit längerem begleitet.
Es gilt fürderhin wachsam zu beobachten, ob die Polizeibehörden ihre Praxis tatsächlich von rassistischer Diskriminierung freihalten werden. Jedenfalls offen rassistische Argumentationsmuster sind nun ausgeschlossen.
Beide Autoren haben für das Büro zur Umsetzung von Gleichbehandlung e.V. das Verfahren vor dem OVG Koblenz ehrenamtlich begleitet.
[…] des Art. 3 Abs. 3 GG zu effektuieren, darüber lässt sich streiten”, heißt es auf dem Verfassungsblog. Klar ist, das OVG räumte mit seiner Entscheidung dem Grundgesetz den Vorrang vor vermeintlichen […]
Nach meinen Informationen wurde, nachdem die Bundespolizei auf richterlichen Hinweis hin die Verfassungswidrigkeit zugestanden und sich beim Kläger entschuldigt hat, der Rechtsstreit für erledigt erklärt. Danach gab es gerade kein Urteil, das die Verfassungswidrigkeit feststellt – oder liege ich falsch?
Dass die Polizei im zweiten Rechtszug erkannt hat, dass ihr Verhalten entschuldigungswürdig ist, spricht wohl nur für eine pragmatische Einsicht in eine spezifische Prozesslage wie auch die spätere Erklärung aus den Reihen der Polizeigewerkschaft vermuten lässt.
Dabei kann man sich nicht des eigenen grundrechtsgeleiteten Reflexes erwehren, dass eine solche Art der Auswahl bei einer verdachtlosen Kontrolle schreiend rechtswidrig ist. Denn in der Tat, leitet ausschließlich die Hautfarbe das Handeln der Beamten gegenüber dem Kläger. Er ist somit der gewissermaßen oberflächlich Verdächtigste unter den Unverdächtigen. Und genau da liegt das Problem. Wenn nun die Polizei auf Statistiken verweist, die grenzpolizieliche Erfahrungswerte zeigen, dass im statistischen Verhältnis vermehrt Personen anderer Hautfarbe den Zug zu unerlaubter Einreise in das Bundesgebiet nutzen, so kann man diese Grundlage (mag sie auch noch so zutreffend vergangene Erfahrung abbilden) für das Auswahlermessen bei einer verdachtlosen Kontrolle schlicht als von Art. 3 Abs. 3 GG verboten ansehen.
Das Problem scheint aber weitere grundlegendere Facetten zu haben, die man abseits von dem racial profiling (und dem Reflex) diskutieren kann und muss (ein grundsätzliches Problem des Gleichheitssatzes): man kann nämlich weitergehen und sagen, dass alle Unverdächtigen gleich unverdächtig sein müssen (also auch diejenigen, bei denen es äußerlich so wirkt, dass sie einen ganzen Hausstand mitführen oder ähnliches). In der Konsequenz würde dies dann bedeuten, dass nur blinde Stichproben gemacht werden dürften, die Auswahl leitende polizeiliche Erfahrung quantité négligeable sei, sein muss. Der Gedanke polizeilicher Erfahrungswerte birgt nämlich immer eine an oberflächlichen Merkmalen orientierte Vorauswahl, welche ein trügerisches (Vor-)Urteil beinhalten kann. Eine Diskriminierung würde sich dann nur vermeiden lassen, wenn alle Zuginsassen gleichermaßen überprüft würden (oder niemand). Dass das wenig effizient ist, leuchtet irgendwie ein (es sei denn man glaubt, es gebe keine polizeiliche Erfahrung). Gleichzeitig sind alle anderen unterschiedslos aber übermäßig mit der jeweiligen Maßnahme belastet, was wiederum eine ganz eigene Problemlage ist. Anders gewendet: Die Diskriminierung verschwindet, weil in die Recht aller eingegriffen wird (oder in die Rechte von niemanden). Ich empfinde hier ein gewisses Dilemma.
@ Nora Markard: Es stimmt, dass die Parteien nach einer Entschuldigung durch die Bundespolizei den Rechtsstreit übereinstimmend für erledigt erklärt haben. Das OVG konnte daraufhin nur noch das erstinstanzliche Urteil für wirkungslos erklären und einen Kostenbeschluss nach § 161 Abs. 2 Satz 1 VwGO erlassen. Für die Kostenentscheidung war jedoch maßgeblich, dass das Gericht die polizeiliche Maßnahme und dementsprechend auch das erstinstanzliche Urteil als Verstoß gegen Art. 3 Abs. 3 GG wertete.
@Alexander Tischbirek: Danke für die Klarstellung! Also ist da doch mehr als ich dachte.
@Leser: Das Problem ist, dass dem Selektionsmechanismus Hautfarbe zwei problematische Annahmen zugrundeliegen: 1. dass Deutsche in der Regel weiß sind, 2. dass Nichtdeutsche in der Regel nicht-weiß sind. Auch wenn das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht seit der Kolonialzeit einen deutlichen Einfluss darauf gehabt hat, dass der Anteil nicht-weißer Deutscher vergleichsweise gering geblieben ist, gibt es natürlich auch nicht-weiße Deutsche, denen gerade keine ausländerrechtlichen Vergehen zur Last fallen können – und ebenso weiße Nichtdeutsche, die möglicherweise ihr Visum überzogen haben. Lässt man Stichproben nach der Hautfarbe dennoch zu, müssen Nichtweiße in Deutschland dauerhaft mit dem Stigma leben, als mögliche Rechtsbrecher angesehen zu werden, dauernd Ausweispapiere bei sich führen zu müssen, usw. – während Weiße von solchen Kontrollen verschont bleiben. Dies stellt eine Benachteiligung dar, die das GG ausdrücklich verbietet, und es nährt problematische Stereotype. Ineffizient? Wenn man überlegt, wie divers Ausländer und Ausländerinnen in Deutschland aussehen, bin ich davon nicht überzeugt. Doch selbst wenn: Ein Rechtsstaat muss mit gewissen Ineffizienzen leben – wir wollen ja aus guten Gründen auch keine “gläsernen Bürger”, obwohl das doch am aller-effizientesten wäre.
@ Nora
ich bin auf Deiner Seite, dass für die Betroffenen die Kontrolle außerordentlich ausgrenzend und entwürdigend ist sowie dass subkutane Sterotype verstärkt werden.
Was ich nicht verstehe, ist Deine Bezeichnung von problematischen Annahmen. Keiner