Rote Ampel für Geisterfahrer
Zur (hoffentlich letzten) EuGH-Entscheidung in Sachen Vorratsdatenspeicherung
Der „Neustart der Geisterfahrer“, wie Kurt Graulich die nach der Digital Rights Ireland-Entscheidung (C-293/12 u.a.) entfachte Debatte über die Vorratsdatenspeicherung beschrieb und damit die Intensität der Auseinandersetzung zwischen Befürwortern und Gegner gut einfing, hat auf den ersten Blick ihr vorläufiges und erwartbares Ende in Luxemburg gefunden. Dass die Entscheidung hier besprochen wird, bedeutet keinesfalls, dass sie neuartige Impulse bringt oder, wie der Bundesjustizminister meint, (in einem rechtlichen Sinne) „historisch“ sei. Denn die Unionsrechtswidrigkeit der deutschen Vorratsdatenspeicherung war spätestens ab 2016 deutlich (statt vieler auf diesem Blog Nikolaus Marsch). Jedoch verspürte der deutsche Gesetzgeber in der Vergangenheit offensichtlich keinen ausreichenden Anreiz zur Reform, trotz der zahlreichen, ihn nur scheinbar nicht betreffenden, Entscheidungen etwa zur französischen, belgischen, schwedischen oder irischen Rechtslage. Ausflüchte gibt es nun keine mehr.
Über weite Strecken wärmt der EuGH nun in SpaceNet und Telekom (C-793/19, C-794/19) nur die Ausführungen aus Commissioner of An Garda Síochána (C-140/20) und La Quadrature du Net – LQDN (C-512/18) auf. Trotz der klaren Aussagen und der Abkehr von einem strikten Verbot der Vorratsdatenspeicherung konnte die LQDN-Entscheidung die Debatte nicht beenden, denn die beiden belgischen und französischen vorlegenden Gerichte interpretierten sie vollkommen konträr. Auch das BVerwG hielt ausdrücklich an seinem Vorabentscheidungsersuchen fest, was der Generalanwalt irritiert zur Kenntnis nahm und darauf verwies, dass die Vorabentscheidungsersuchen eigentlich nach Art. 99 VerfO-EuGH zu erledigen gewesen wären. Der französische Conseil d’Etat war allerdings sogar kurz davor, seinen Kontrollvorbehalt (Äquivalenzkontrolle) gegenüber dem Unionsrecht durchgreifen zu lassen, wenn der EuGH seine Unionsrechtsauslegung, die die französische anlass- und unterschiedslose Vorratsdatenspeicherung billigt, nicht akzeptieren würde (ausführlich Gerhold, DÖV 2022, 93 ff.). Vor diesem Hintergrund ist die erneute Bekräftigung auch Ausdruck einer gewissen Selbstbehauptung des EuGH im „rauen und ohne Nachsicht geführten Richterdialog“.
Für die Vorgeschichte des deutschen Verfahrens, insbesondere die Aussetzung der Regeln durch das OVG NRW, kann auf den Beitrag von Jürgen Kühling verwiesen werden. Erstaunlich schien, dass der Generalanwalt in den Verfahren zur deutschen (C-793/19) und zur irischen Regelung (C-140/20) am gleichen Tag (18.11.2021) seine Schlussanträge stellte, die Entscheidung zu Deutschland allerdings fünf Monate später erging – ohne dass auf die Schnelle Unterschiede zwischen den Entscheidungen ins Auge springen würden. Sowohl das BVerfG, bei dem immer noch die Verfassungsbeschwerden (Az. 1 BvR 141/16 u.a.) gegen die aktuellen Vorschriften anhängig sind, als auch der EuGH nehmen grundsätzlich an, dass eine anlass- und unterschiedslose Speicherung von Verkehrs- und Standortdaten geeignet ist, um Kriminalität zu bekämpfen. In ständiger Rechtsprechung betont der EuGH aber, dass sie einen unverhältnismäßigen Eingriff (Art. 52 GRC) in das Kombinationsgrundrecht aus Art. 7 und 8 GRC bewirkt, wenn die Speicherung nur für die Bekämpfung schwerer Kriminalität erfolgt. Aus den gespeicherten Daten ergeben sich – so der EuGH – sensible Informationen. Zudem könnten Menschen die Ausübung ihrer Grundrechte nicht mehr wahrnehmen aufgrund des diffusen Gefühls überwacht zu werden (chilling effects).
Schwere Kriminalität als Aliud zur Bedrohung der nationalen Sicherheit
Der EuGH erinnert wiederholt daran, dass die Abwehr einer Bedrohung für die nationale Sicherheit, die eine anlass- und unterschiedslose Vorratsdatenspeicherung ermöglicht, sich von der Bekämpfung schwerer Kriminalität ihrem Wesen nach unterscheidet. Diese Trennung hatte die Europäische Kommission in Zweifel gezogen, während der französische Conseil d’Etat als Reaktion auf die LQDN-Entscheidung schlicht eine eigene Definition des Schutzgutes der nationalen Sicherheit vornahm, die über jene des EuGH hinausging. Für den EuGH müssen tragende Strukturen eines Landes im Bereich Verfassung, Politik und Wirtschaft real und aktuell, zumindest aber vorhersehbar bedroht sein. Eine latente Gefahr terroristischer Anschläge genügt nicht. Die vom Conseil d’Etat vertretene Auffassung, wonach die allgemeine Situation eines bestimmten Mitgliedstaates sich als Bedrohung der nationalen Sicherheit darstelle, wurde erneut zurückgewiesen. Was bleibt ist aber, dass strukturell die anlass- und unterschiedslose Vorratsdatenspeicherung bei einem relativ unscharfen Geschehen erlaubt wird. Man könnte sich fragen, ob der russische Angriffskrieg auf die Ukraine – zumindest in bestimmten Mitgliedstaaten – diese Ausnahme aktiviert.
Für die Bekämpfung schwerer Kriminalität wiederholt der EuGH im jüngsten Urteil sein „Angebot“ an die Mitgliedstaaten, das sich aus drei Elementen zusammensetzt. Der Gesetzgeber kann relativ genau ablesen, was ihm unionsrechtskonform erlaubt ist. Die entscheidende Frage ist, was er davon umsetzen will.
Gezielte Vorratsdatenspeicherung
Ebenfalls seit LQND ist es zulässig, gezielt – das heißt in personaler wie geographischer Hinsicht anhand objektiver Kriterien beschränkt – Verkehrs- und Standortdaten zu speichern. Sollten Mitgliedstaaten weitere objektive und diskriminierungsfreie Kriterien begründen können, sind auch diese zulässig. Für das personale Kriterium soll genügen, dass ein mittelbarer Zusammenhang zwischen der Person und einer schweren Straftat oder einer schwerwiegenden Störung der öffentlichen Sicherheit besteht. Es muss sich nicht um Verdächtige der Straftat handeln. Dem EuGH stehen hier unter anderem als Gefährder eingestufte Personen vor Augen, ebenso Vorbestrafte, bei denen eine Rückfallgefahr besteht. Das geographische Kriterium präzisiert der EuGH dadurch, dass der Gesetzgeber sich an der Verbrechensstatistik orientieren kann oder die Speicherung für strategisch bedeutende Orte (Bahnhöfe, Flughafen, Mautstellen) anordnen kann.
Diese Ausnahme der gezielten Vorratsdatenspeicherung erscheint schwer greifbar. Schaut man auf das französische Verfahren im Nachgang zu LQDN, hatte der rapporteur public ersichtlich Probleme mit dieser Ausnahme, die er als rein theoretische und praxisferne Verhältnismäßigkeitserwägung abtat und die mit den Bedürfnissen der Behörden nichts zu tun habe. Mehrere Gründe nannte er gegen dieses Instrument: Zum einen würden die TK-Unternehmen zu weitgehende Einblicke in die Strategie der Nachrichtendienste erhalten. Das Unternehmen Free erklärte es für technisch nicht realisierbar, eine Speicherung für bestimmte Gebiete vorzunehmen. Zu Recht wurde auch die Frage nach einer diskriminierungsfreien Implementierung aufgeworfen, weil die (zumal fehlerhafte) Vorstellung, Kriminalität lasse sich geographisch verorten, zur Stigmatisierung bestimmter Personengruppen führen würde. Der EuGH will keine Probleme erkennen, und falls solche doch auftreten, mahnt er gleich an, dass die Schwierigkeiten mit der gezielten Vorratsdatenspeicherung kein Grund für eine allgemeine und unterschiedslose Speicherung sind. Der deutsche Gesetzgeber sollte die Finger von der gezielten Vorratsdatenspeicherung lassen; sie könnte sich als Danaergeschenk erweisen.
Speicherung der IP-Adresse
Erneut hat der EuGH den Mitgliedstaaten ermöglicht, zur Bekämpfung schwerer Kriminalität und Verhütung schwerer Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit anlass- und unterschiedslos IP-Adressen zu speichern. Genauer gesagt geht es um den Zugang zu diesen Daten, weil jede IP-Adresse gespeichert werden wird. Der EuGH erkennt, dass der Grundrechtseingriff eine beachtliche Schwere aufweist, weil Personen von dieser Pflicht erfasst werden, die legitimerweise erwarten dürfen, dass ihre Daten nicht gespeichert werden. Insbesondere für den Kampf gegen Kinderpornografie soll diese Speicherung zulässig sein, weil hier nur die IP-Adresse als Anhaltspunkt für die Ermittlung besteht. Welche weiteren Straftaten in die Kategorie der „schweren Kriminalität“ fallen, muss der Gesetzgeber entscheiden. Der EuGH scheint hier keine Vorgaben zu machen. Die Dauer der Speicherung darf das „absolut Notwendige“ nicht überschreiten – auch hier bleibt der EuGH vage. Rechtspolitisch haben die Bundesinnenministerin wie auch Bayern bereits angekündigt, auf die Wahrnehmung dieser Möglichkeit zu drängen.
Quick-Freeze
Anders als beispielsweise das französische Recht sah das deutsche Recht bislang nicht die Möglichkeit zum Quick-Freeze vor. Wie die Reaktionen des Bundesjustizministers und weiter Teile der Koalition in den sozialen Medien nahelegen, ist dies derzeit eine präferierte rechtspolitische Lösung. Dabei handelt es sich um eine verfügte „umgehende Sicherung von Standort- und Verkehrsdaten“. Durch Richtervorbehalte für das Einfrieren wie Auftauen kann der Grundrechtsschutz durch Verfahren gestärkt werden. Seit der LQDN-Entscheidung war klar, dass der EuGH das Quick-Freeze für die Bekämpfung schwerer Kriminalität billigt. Auch insoweit bringt SpaceNet nichts Neues. Auch in Deutschland wurde das Quick-Freeze vor dem heutigen Tage diskutiert (bspw. Sandhu, EuR 2017 453, 468 f.) Im Anschluss an die LQDN-Entscheidung hat Sabine Leutheusser-Schnarrenberger gleichfalls hierfür plädiert (zu Vorschlägen aus dem Justizministerium auch schon Arning/Moos, ZD 2012, 156 ff.). Der Einwand gegen das Quick-Freeze ist natürlich naheliegend und wurde im französischen Verfahren nach der LQDN-Entscheidung diskutiert. Das zentrale Problem ist, dass sich Quick-Freeze auf noch vorhandene und noch anfallende Standort- und Verkehrsdaten beschränkt, so dass es aus Sicht der Befürworter bisheriger Regelungen keine Alternative für die anlass- und unterschiedslose Vorratsdatenspeicherung sein kann. Die Lösung, die das französische Gericht fand, war eine Kombination von Quick-Freeze und den gespeicherten Daten für die nationale Sicherheit, um über diesen Umweg den europarechtlich verbauten Zustand herbeizuführen. Auch die dänische Regierung wollte Zugang zu den für die nationale Sicherheit gespeicherten Daten auch für die Bekämpfung schwerer Kriminalität. Der EuGH weist dies zurück, weil ansonsten der Zugang für Zwecke der Kriminalitätsbekämpfung von einer Bedrohung der nationalen Sicherheit abhängen und das Verbot der anlass- und unterschiedslosen Vorratsdatenspeicherung umgangen würde. So wie es dem EuGH vorschwebt, ist das Quick-Freeze allerdings durchaus weitgehend: Es kann in personaler Hinsicht weit gefasst werden, es kann auf ein bestimmtes Gebiet bezogen werden, und es kann zu einem frühen Zeitpunkt (der sich nach mitgliedstaatlichem Recht richtet) angeordnet werden.
Manches kann, was muss?
Die gestrige Entscheidung trifft auf einen nun vorhandenen politischen Willen, alte Zöpfe abzuschneiden und die wiederholt bestätigte Rechtslage mitsamt ihren Optionen fortan zur Kenntnis zu nehmen. Dies macht Hoffnung, dass im politischen Diskurs entschieden wird, wie die vom EuGH eingeräumten Spielräume wahrgenommen werden sollen. Das Parlament ist der richtige Ort, um diese Fragen zu debattieren. Denn der EuGH hat den Mitgliedstaaten zwar Möglichkeiten aufgezeigt, doch ob und inwieweit diese ausgeschöpft werden sollen, ist eine rechtspolitische Frage, die die Koalition aushandeln muss. Der erste Schritt dazu wäre, jene Vorschriften aufzuheben, deren Unionsrechtswidrigkeit als (endgültig) geklärt gelten kann.