Schulden- statt Notbremse
Das Wetter in Karlsruhe
Dem Urteil zur Schuldenbremse fehlt jene Begründungsstrenge, die der Zweite Senat dem Gesetzgeber abverlangt. Ein Begriff von Krise hätte die „außergewöhnliche Notsituation“ präzisieren und die Regeln des Haushaltsrechts an den Klimaschutz anschließen können.
Zwei Entscheidungen
Zur Erinnerung: Der Erste Senat des BVerfG fasste am 24. März 2021 einen weit vorausblickenden Beschluss von gewiss historischer Bedeutung.1)Er gab den Beschwerdeführer:innen insofern Recht, als er feststellte, der Gesetzgeber habe ihre Grundrechte verletzt, weil er keine ausreichenden Vorkehrungen getroffen habe, die ‒ wegen der gesetzlich bis 2030 zugelassenen Emissionen in späteren Zeiträumen möglicherweise sehr hohen ‒ Emissionsminderungspflichten grundrechtsschonend zu bewältigen (Rn. 182). Denn die Grundrechte, so der Senat, „verpflichten den Gesetzgeber, die nach Art. 20a GG verfassungsrechtlich notwendigen Reduktionen von CO2-Emissionen bis hin zur Klimaneutralität vorausschauend so zu gestalten, dass die damit verbundenen Freiheitseinbußen trotz steigender Klimaschutzanforderungen weiterhin zumutbar ausfallen und die Reduktionslasten über die Zeit und zwischen den Generationen nicht einseitig zulasten der Zukunft verteilt sind“ (Rn 192). Nach Erreichen der „verfassungsrechtlichen Grenzen der weiteren Erderwärmung“ steige die Gewichtung des Klimaschutzgebots und gebiete (gemäß Art. 20a GG) auch die Herstellung von Klimaneutralität (Rn. 198).
Das Urteil des Zweiten Senats vom 15. November 20232) fällt ebenfalls „historisch“3) aus, allerdings eher buchhalterisch. Unabhängig davon, ob man der in Berlin regierenden Ampelkoalition nahe- oder fernsteht, lässt sich kaum bestreiten, dass ihre (juristisch nicht gut beratene und noch weniger gut begründete) „Haushaltsverrechnung“ dem Gebot des Klimaschutzes entgegenkommen sollte. Die im Haushaltsjahr 2021 nicht unmittelbar benötigte Kreditermächtigung in Höhe von 60 Milliarden Euro sollte dem „Energie- und Klimafonds“ (EKF), einem unselbständigen Sondervermögen des Bundes, zugeführt und für künftige Haushaltsjahre genutzt werden. So entschieden im Jahr 2022, hinsichtlich der Buchungsmodalitäten also mit Rückwirkung. Entsprechend seiner Aufgabe, darüber zu wachen, dass das Grundgesetz eingehalten wird, entschied der Zweite Senat in Zeiten der Erderwärmung kühl, das Zweite Nachtragshaushaltsgesetz 2021 (von der Ampelkoalition eingebracht) sei mit Art. 109 III, Art. 110 II und Art. 115 II GG unvereinbar – und nichtig.
Der Senat stützte seine Entscheidung auf drei Gründe, die er für sich genommen und insgesamt für „tragfähig“ hielt: Der Gesetzgeber, sprich: die Regierungsmehrheit des Bundestages, habe, erstens, den „notwendigen Veranlassungszusammenhang zwischen der festgestellten Notsituation und den ergriffenen Krisenbewältigungsmaßnahmen“ nicht ausreichend dargelegt. Zweitens widerspreche die „zeitliche Entkoppelung der Feststellung einer Notlage (Art. 115 II 6 GG) vom tatsächlichen Einsatz der Kreditermächtigungen“ den „Verfassungsgeboten der Jährlichkeit und Jährigkeit“. Daher sei die faktisch unbegrenzte Weiternutzung von notlagenbedingten Kreditermächtigungen in nachfolgenden Haushaltsjahren ohne Anrechnung auf die „Schuldenbremse“ bei gleichzeitiger Anrechnung als „Schulden“ im Haushaltsjahr 2021 unzulässig. Drittens verstoße die Verabschiedung des Zweiten Nachtragshaushaltsgesetzes 2021 nach Ablauf des Haushaltsjahres 2021 gegen den Haushaltsgrundsatz der Vorherigkeit (Art. 110 II 1 GG). Das alles ist auf den ersten Blick plausibel.
Zum Budgetrecht
Kurz vor dem Verteidigungsfall regelt das Grundgesetz Haushaltsrecht und Kreditbeschaffung. Das Budgetrecht, wir erinnern uns, gilt als das „Königsrecht des Parlaments“. Im Nachgang zur Monarchie und zur Prärogative des Königs sollten nach dessen Abdankung in der demokratischen Republik nur die Abgeordneten darüber entscheiden, wann und wofür der öffentliche „Lederbeutel“, sprich „Geldsack“4) geöffnet wird. In der Geschichte des demokratischen Staates war das Budgetrecht weiterhin, nun zwischen Volksvertretung und Regierung, umkämpft. Seine heutige Ausprägung fand es im Wesentlichen in der Reichsverfassung von 1871. Diese wiederum hatte sich an den Haushaltsvorschriften der preußischen Verfassung von 1850 orientiert. In seiner Doppelfunktion als Gestaltungs- und Kontrollrecht steht das „Königsrecht“ im Zentrum parlamentarischer Befugnisse. Es umfasst die Bewilligung und den Vollzug. Mit den Vorschriften zur Staatsbuchhaltung (Art. 109 ff. GG) tritt das BVerfG in die Konflikte ein.
Zur Schuldenbremse
Lange vor der Schuldenbremse fand das BVerfG die Entwicklung der Staatsschulden Besorgnis erregend. Die zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts eingeführte Schuldenregel monierte es als zu unbestimmt und meldete Reformbedarf an.5) 2009 kamen das Ende der (post- ?)keynesianischen Gleichgewichtsideen und der Anfang des Streits um die Schuldenbremse. Begrüßt einerseits als Entscheidung natürlich von „historischer Bedeutung“ gegen den „Schraubstock der Verschuldung“, andererseits scharf abgelehnt als „verfassungspolitisch verfehlt“ und „aktive Sterbehilfe der Länder“, trat die Schuldenbremse – nach der Begrenzung der Staatsschulden auf der Ebene der EU6) und der globalen Finanzkrise von 2008/09 − ihren Dienst an.
Art. 115 II 1 GG konkretisiert, was unter dieser – an den Bund und vor allem die Länder gerichteten – Bremse (früher war eher von Schuldengrenze die Rede) zu verstehen ist: das „grundsätzliche Verbot der strukturellen Neuverschuldung“ als Maßstab für die Einhaltung der Schuldenregel, das im Übrigen, laut Programm der Liberalen, auch inflationären Entwicklungen das Wasser abzugraben bestimmt ist.7) Strukturell heißt nach den Regeln für Haushaltswirtschaft und Kreditaufnahme, dass Einnahmen und Ausgaben grundsätzlich ohne Einnahmen aus Krediten auszugleichen sind. Bei „grundsätzlich“ werden Jurist:innen grundsätzlich hellhörig. Ganz strikt will das Verbot der Kreditaufnahme des Bundes denn doch nicht sein.8) Bei normalem Konjunkturverlauf darf sich der Bund in Höhe von 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) verschulden. Strukturell, versteht sich.9) Die zusätzlichen, aus konjunkturellen Gründen entstehenden Effekte auf die Nettokreditaufnahme werden durch eine „Konjunkturkomponente“ errechnet (nach Art. 109 III 2 iVm Art. 115 II 3 GG), „wonach bei einer von der Normallage abweichenden konjunkturellen Entwicklung die Auswirkungen auf den Haushalt im Auf- und Abschwung symmetrisch berücksichtigt werden können.“10) Das Ergebnis ist eine „atmende“ Schuldenregelung. Ein schönes Bild. Es will uns sagen: Erstens, die Inhaber:innen des Budgetrechts haben sich (angespornt durch das BVerfG) Fesseln angelegt. Zweitens, allzu eng sollen sie nicht sein.
Zum Unterschied von Normal- und Notlage
In Normallagen, die das, was grundsätzlich gelten soll, definieren (Art. 115 II GG), bekommen Regierungsprojekte also genügend Luft. Wenn Klimakatastrophe, Krieg und seit langem brachliegende öffentliche Güter, wie vor allem Bahn und Bildung, zusammentreffen, dann steigen die Bedarfe massiv; und die Schuldenbremse zeitigt eine den fiskalischen Strom abdrosselnde Wirkung. Es sei denn, die Regierung bedenkt dies bei ihren Haushaltsberatungen und vermag, eine „außergewöhnliche Notsituation“ zu begründen, die dem spezifischen, normativen Gewicht einer „Naturkatastrophe“ vergleichbar ist. Beide Ausnahmefälle sieht Art. 115 II 6 GG vor.
Nach der Vorlage des Ersten Senats vom März 2021 hätte sich das, man möchte sagen: mit leichter Hand, bewerkstelligen lassen. Aus dem Ruder laufende Klimaschäden, drohende „Kipppunktprozesse im Klimasystem“,11) kombiniert mit Hilfeleistungen in Milliardenhöhe zur Verteidigung der Ukraine und für die über eine Million Geflüchteten,12) sollten die tatbestandlichen Voraussetzungen erfüllen. Einzurechnen wären schließlich noch die Bedarfe einer Infrastruktur, die nach jahrelangem Sanierungsstau auf Reparatur wartet.
Mit festem Blick auf die Regeln der Staatsbuchhaltung rügt der Zweite Senat, die Regierung(smehrheit) habe die Begründungslast hinsichtlich der „außerordentlichen Notsituation“ weder im Gesetz noch in der Erwiderung auf den Normenkontrollantrag angemessen abgetragen. Gewiss war der Senat seinerseits nicht gehalten, die Begründung einer Notlage zum Nachtragshaushaltsgesetz13) – gleichsam im Wege der Ersatzvornahme – nachzureichen. Ist es doch nicht Aufgabe eines Verfassungsgerichts, sich den Kopf einer Regierung zu zerbrechen. Freilich: Karlsruhe ist Ort der Deutungshoheit in Fragen des Grundgesetzes. Diese bewährt sich bei der Auslegung unbestimmter Verfassungsbegriffe. Hier nun verliert sich die vom Senat eben noch dem Gesetzgeber abverlangte Pflicht, gefälligst die Notsituation zu begründen,14) auf der anderen Seite im Nebel des Ungefähren.
Was also versteht der Zweite Senat unter einer „außergewöhnlichen Notsituation“ in Art. 115 II 6 GG, gleichsam als Vorspiel zum Verteidigungsfall in Art. 115a GG? Der Begriff ist deutungsoffen, das heißt, mehr als landläufig unbestimmt und stellt eine semantische Falle. In diese schreitet der Zweite Senat geradewegs hinein. Die Richter:innen übersehen, dass Notlagen von Hause aus außergewöhnlich sind. Andernfalls würden diese sich über kurz oder lang in die Normallage, von der Art. 115 II GG und Art. 109 III 2 GG handeln, einfügen − oder durch Normalisierung einfügen lassen. Zumindest „grundsätzlich“. Carl Schmitt hatte dafür ein feines Gespür.
Verlangen Art. 115 II 6 GG wie auch Art. 109 III 2 GG also eine gesteigerte Notlage? Und worin könnte sie bestehen? Das Grundgesetz gibt sich im Kontext zu Haushaltswirtschaft und Kreditaufnahme wortkarg. Es verlangt, dass sich diese Notsituationen, erstens, „der Kontrolle des Staates entziehen“15) und dass sie, zweitens, „die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigen“. Drittens, fügt der Zweite Senat hinzu, wäre eine Kausalbeziehung zwischen Notlage, erhöhtem Finanzbedarf und Störung der Lage der staatlichen Finanzen nachzuweisen. Er will den Teufel der Unbestimmtheit mit seinem Bruder, dem Beelzebub der gesteigerten Auslegungsbedürftigkeit, austreiben.
Das wäre also der Moment für ein Verfassungsgericht, die hohe Schule der Auslegungskunst zu reiten, zumal Einschränkungen der Justiziabilität der hier inmitten stehenden Haushaltsrechtsnormen nicht „in Rede stehen“. Der Zweite Senat schreitet zur Tat und mäandriert beim Definieren im Ungefähren, manchmal Selbstverständlichen. Er legt Kontrollverlust des Staates, Beeinträchtigung der staatlichen Finanzlage und „Veranlassungszusammenhang“ ausführlich dar (Rn. 108-136). Auffällig knapp fällt die Deutung der „außergewöhnlichen Notsituation“ aus (Rn. 104-107), immerhin Achse von Schuldenbremse und verfassungsgerichtlicher Intervention. Der Zweite Senat assoziiert „außergewöhnliche Störungen der Wirtschafts- und Finanzlage“ durch einen „exogenen Schock“ und die „Auslösung eines ereignisbedingten erheblichen Finanzbedarfs“. Und fährt fort, der Begriff der „außergewöhnlichen Notsituation“ sei im Kontext des Staatsschuldenrechts „haushaltsrechtsspezifisch zu interpretieren“. Mithin sei er nicht auf die Anwendungsfälle eines „besonders schweren Unglücksfalls“ (Art. 35 II, III GG) beschränkt, den er jedoch umfassen könne. Man ahnt: bei „haushaltswirtschaftlicher Relevanz“ (Rn. 105).
Warum „außergewöhnlich“? Durch das Attribut der Außergewöhnlichkeit der Notsituation komme zum Ausdruck, dass „nicht jede Beeinträchtigung der Wirtschaftsabläufe der Ausnahmeklausel des Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG unterfällt.“ (Rn. 107) Wer hätte je daran gezweifelt? Und weiter: Beeinträchtigungen der Finanz- und Wirtschaftslage seien nicht schon dann ein Anwendungsfall dieser Norm, wenn es sich um „bloße Auf- und Abschwungbewegungen eines zyklischen Konjunkturverlaufs“ handelt. Gewiss nicht. Schließlich sollen „unerhebliche“ Folgen für die Finanzlage des Staates keine notlagenbedingte Neuverschuldung rechtfertigen (Rn. 112). Damit schließt sich der Zirkel.
Die Pointe oder einfach nur des Pudels Kern: Krisenfolgen, die „lange absehbar waren oder gar von der öffentlichen Hand verursacht worden sind“, können eine Notsituation nicht begründen und nicht mit Notkrediten finanziert werden. Nach der Deutung des Zweiten Senats wäre die Klimakrise mithin einerseits weder eine Naturkatastrophe noch eine „außergewöhnliche Notsituation“, weil ihr die Unvorhersehbarkeit fehlt. Andererseits wäre sie vielleicht doch eine Notlage, wenn sich darlegen ließe, sie sei „unbeherrschbar“ (Rn. 109).
Wer – als Gericht – strenge Maßstäbe an Gesetzesbegründungen anlegt, Darlegungspflichten verschärft und einer Regierung auf dem, weiß Gott, steinigen Weg zur Transformation der Wirtschaft in die Parade fährt, muss sich an diesen – seinen eigenen – Maßstäben messen lassen und eine von Kriterien geleitete, geordnete Präzisierung des Außergewöhnlichen einer Notlage vorlegen. Daran scheitert der Zweite Senat. Das wäre unter Umständen nicht weiter aufgefallen, hätte sich der Zweite Senat darauf verstehen können, wenigstens die Nichtigkeit des Zweiten Nachtragshaushaltsgesetzes zurückzustellen16) und den Darlegungsangeboten der Regierung(smehrheit) zu Krisenkonnexität und Krisenbewältigung näher zu treten.
Zur Notsituation als Krise
Was wäre damit gewonnen? Auf den ersten Blick: nichts. Die Literatur zum Begriff der Krise ist kaum zu überschauen. Auf den zweiten Blick: Die ausgeuferte Diskussion lässt sich auf Haushaltsrecht und Kreditaufnahme übertragen und engführen, um so der „außergewöhnlichen Notsituation“ mehr Kontur zu geben. Und wenn Krise nicht nur eine problematische Entwicklung, brenzlige Lage oder dergleichen bezeichnet, sondern eine Lage mit systemgefährdender, struktureller Konfliktdynamik, könnte der Begriff im Kontext von Art. 109 III GG und Art. 115 II GG durchaus hilfreich sein.17)
Mit Klimakatastrophe, Krieg, Migration und Pandemie hat das der Regierung geschnürte Problembündel Krisen im Angebot, die sich durch vier Merkmale auszeichnen: Sie sind, erstens, mit den eingeübten Routinen und Regeln haushaltsrechtlicher Problemlösung nicht zu bewältigen, weil die vorhandenen Wissensbestände und verfügbaren Maßnahmen nicht ausreichen, die Einbrüche in die Normallage vorauszuberechnen bzw. zu korrigieren. Zweitens zeichnet es den Notlagencharakter von Krisen dieses Zuschnitts aus, dass die zuvor herrschende Normallage nicht ohne weiteres w