19 February 2024

Schutz ist gut, Vertrauen ist besser

Böckenförde-Diktum und die Reformdebatte um das Bundesverfassungsgericht

Wehrhafte Demokratie“, „Grundrechtsverwirkung“ und „Parteiverbot“ klingt es dieser Tage durch Straßen, Foren und Medien. „Endlich“ möchte man meinen, schließlich zeigen Beispiele in Polen, Ungarn, Israel und den USA, welch bemerkenswert fragile Gebilde Demokratie und Rechtsstaat weltweit sind. Die Forderungen zum Schutz der Verfassung sind nicht länger nur Parolen. Stattdessen gibt es inzwischen konkrete Überlegungen, das Bundesverfassungsgericht besser zu schützen, also institutionelle Vorkehrungen zu treffen, um seine Arbeitsfähigkeit und politische Unabhängigkeit stärker als bisher rechtlich abzusichern. Entsprechende Überlegungen dürfen allerdings nicht den Blick dafür verstellen, dass auch eine erfolgreiche Reform beileibe nicht alle Gefährdungen beseitigen würde.

Der Preis für besseren Schutz

Um das Bundesverfassungsgericht besser abzusichern, wird in der öffentlichen Diskussion konkret vorgeschlagen, zentrale – bislang nur einfachgesetzliche – Garantien in die Verfassung zu übernehmen. Angedacht sind insoweit insbesondere Regelungen zur Richterwahl mit Zweidrittelmehrheit,1) zur Amtszeit der Richter und zum Ausschluss ihrer Wiederwahl, zur Bindungswirkung der Entscheidungen sowie zur Begrenzung auf zwei Senate mit jeweils acht Richtern. Das hätte zur Folge, dass die entsprechenden Regelungen dann nicht mehr einfachgesetzlich, also mit einfacher Mehrheit, sondern nur mit der Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages und des Bundesrates geändert werden könnten, Art. 79 Abs. 2 GG.

Weil die erforderliche Zweidrittelmehrheit für die Richterwahl, derzeit §§ 6 Abs. 1, 7 BVerfGG, im Umkehrschluss bereits einer Minderheit von gut einem Drittel der Stimmen die Möglichkeit eröffnet, eine Richterwahl zu boykottieren, gibt es zudem Überlegungen, im Blockadefall ein Alternativorgan mit der Wahl zu betrauen. Diskutiert werden insoweit die wechselseitige Aktivierung von Bundestag und Bundesrat bei Blockade im jeweils anderen Wahlorgan, ein Einschreiten des Bundespräsidenten qua Reservefunktion und ein Richterwahlausschuss aus den Präsidien der obersten Bundesgerichte.

All diese Überlegungen bewegen sich auf dem schmalen Grat, einerseits den stärkeren rechtlichen Schutz des Bundesverfassungsgerichts leisten zu sollen, andererseits aber langfristig nicht zu stark in den Gestaltungsspielraum des einfachen Gesetzgebers eingreifen zu dürfen. Klar ist: Sinn und Ziel entsprechender Überlegungen ist es gerade, bestimmte Regelungen änderungsfester zu machen, sie also dem Zugriff der einfachen Parlamentsmehrheit zu entziehen. Verminderte gesetzgeberische Steuerungsfähigkeit ist also der Preis für einen verfassungsrechtlich ausgestalteten besseren Schutz des Gerichts.

Zustimmungsvorbehalt für das Bundesverfassungsgericht?

Das große Ziel, das Gemeinwesen vor Verfassungsfeinden zu schützen, werden die genannten Vorschläge schon deshalb nicht erreichen, weil sie nicht die einzige „offene Flanke“ des Grundgesetzes in Bezug auf möglicherweise übergriffiges Verhalten einer gewählten Mehrheit gegenüber Demokratie und Rechtsstaat sind. Jenseits der angesprochenen Regelungen bestehen noch mannigfaltige Möglichkeiten, einfachgesetzlich auf das Gericht und seine Arbeitsweise einzuwirken, die eine autoritäre Regierungsmehrheit bei entsprechender Agenda auch dazu nutzen könnte, die verfassungsgerichtliche Kontrolle erheblich zu schwächen. Als Beispiele seien etwa das Höchst- oder Mindestalter der Richter erwähnt, Fragen der Geschäftsverteilung und der Reihenfolge der Bearbeitung von Verfahren, Befangenheitsvorschriften oder prozessuale Vorgaben für Rechtsbehelfe, wie Fristen- oder Kostenregelungen, außerdem formale Vorgaben zur richterlichen Befassung mit verfassungsgerichtlichen Eingaben oder Pflichten zur Begründung von Entscheidungen.2)

Um all diese Gefahren rechtlich zu bannen, könnte der Verfassungsgesetzgeber jegliche Änderungen am Bundesverfassungsgerichtsgesetz unter den Vorbehalt stellen, dass das Bundesverfassungsgericht ihr zustimmt; oder – wie Konrad Duden jüngst auf dem Verfassungsblog vorschlug – nach französischem oder spanischem Vorbild, sogenannte Organgesetze (loi organique/ley orgánica) schaffen, die nur unter strengeren Bedingungen änderbar sind. Die erste Variante ist bereits heute ungeschriebene Staatspraxis.

So einleuchtend dieser Gedanke zunächst scheint, sähe er sich der verfassungspolitischen Kritik ausgesetzt, den Gesetzgeber erheblich zu binden und das Bundesverfassungsgericht über Gebühr in eigener Sache zu begünstigen. Einen so umfangreichen Zustimmungsvorbehalt des Betroffenen gegenüber dem demokratisch legitimierten Gesetzgeber kennt die Verfassung aus gutem Grund an keiner anderen Stelle. Überdies begegnete ein solcher Zustimmungsvorbehalt massiven Umsetzungsproblemen. Das Bundesverfassungsgerichtsgesetz regelt das Verfassungsprozessrecht mitnichten umfassend. Stattdessen enthält es an einigen sensiblen Stellen nicht3), nur rudimentär4) oder durch Verweisungen auf das Prozessrecht der Fachgerichte (vgl. etwa: Vgl. etwa: §§ 17, 28 Abs. 1, 38, 61 BVerfGG). Ergänzend gilt – wenn auch eingeschränkt – das Deutsche Richtergesetz, §§ 69 f. DRiG.

Folglich müsste der Gesetzgeber entweder das Verfassungsprozessrecht umfassender novellieren und die bestehenden Regelungslücken im Bundesverfassungsgerichtsgesetz schließen, bevor er einen grundgesetzlichen Zustimmungsvorbehalt einführt, oder er müsste diesen Vorbehalt über das Verfassungsprozessrecht hinaus auch auf Materien der Gerichtsverfassung und des Fachprozessrechts erstrecken. Das hätte indes zur Folge, dass das Gesetzgebungsverfahren für entsprechende Materien mit dem Bundesverfassungsgericht (einer judikativen Kontrollinstanz!) um ein weiteres Organ bereichert wäre. Auch der Ansatz über ein „Organgesetz“ begegnet Bedenken. Während es sich dabei nach dem französischen Recht um eine für Fragen der Staatsorganisation etabliertes und häufiger verwendetes Vehikel handelt, ist dem Grundgesetz eine solche Figur bisher unbekannt. Sie würde also nur für das Bundesverfassungsgericht in die Verfassung aufgenommen werden, während andere durchaus ebenfalls sensible Fragen von Demokratie und Rechtsstaat weiterhin dem einfachen Gesetzgeber vorbehalten blieben, etwa Wahlen, Medien, Fachgerichtsbarkeit etc.

Neben diesen denkbaren Gefährdungen durch den Gesetzgeber seien hier solche durch die Exekutive angerissen. Das Verfassungsgericht hat keine Truppen. Das führt u.a. dazu, dass der Objektschutz des Gerichtsgebäudes der Bundespolizei obliegt, einer Behörde des Bundesinnenministeriums. Was harmlos klingt und in der Praxis bisher hervorragend funktioniert, birgt gleichwohl die Gefahr, polizeiliche Befugnisse gegen das Gericht gewendet zu sehen. Sie mag in der aktuellen Situation abwegig erscheinen. Entsprechende historische Erfahrungen, konkret der Missbrauch polizeilicher Befugnisse gegenüber dem Parlament während der Herrschaft des Nationalsozialismus, haben indes an anderer Stelle zu anderen Vorkehrungen geführt. So obliegt die Polizeigewalt im Bundestag dem Bundestagspräsidenten, Art. 40 Abs. 2 GG, samt eigenem Polizeibezirk, der Bundestagspolizei.

Als Verfassungsorgan untersteht das Bundesverfassungsgericht nicht der Dienstaufsicht durch ein Ministerium und hat einen eigenen Haushalt. Gleichwohl stammen auch seine Mittel aus dem Bundeshaushalt, in dem das Bundesverfassungsgericht über ein eigenes Kapitel verfügt. Auch insoweit bestehen also faktische Möglichkeiten von Regierung und Parlamentsmehrheit, Einfluss auf die Funktionsfähigkeit des Gerichtes zu nehmen.

Böckenförde-Diktum auch bei der Resilienz des Bundesverfassungsgerichts

Die Erkenntnis aus diesen Überlegungen ist ambivalent. Zum einen mag es sinnvoll sein, mit Augenmaß einige wenige zentrale Garantien in Bezug auf das Bundesverfassungsgericht in die Verfassung aufzunehmen, etwa jene, die Richter mit Zweidrittelmehrheit zu wählen, ihre Amtszeit auf zwölf Jahre festzusetzen, eine Wiederwahl auszuschließen und die anderen Staatsorgane an die Entscheidungen des Gerichts zu binden. Zum anderen führte aber auch eine solche Reform mitnichten dazu, dass die von autoritären politischen Kräften ausgehenden Gefahren für das Gericht umfassend gebannt wären. Wo ein entsprechender politischer Wille besteht, gäbe es weiterhin eine Vielzahl von einfachrechtlichen Einfallstoren, um der verfassungsgerichtlichen Kontrolle Fesseln anzulegen. Verfassungsgerichte sind fragile Institutionen. Das gilt auch für das Bundesverfassungsgericht. So wünschenswert eine solide verfassungsrechtliche Grundlage für sein Funktionieren ist, kommt es daneben (und vor allem) auf andere Faktoren an. Deren wichtigster ist die Akzeptanz des Gerichtes und seiner Entscheidungen in der Gesellschaft, verbunden mit der Bereitschaft der Zivilgesellschaft, ihre Stimmen und Demonstrationsplakate gegen mögliche Übergriffe zu erheben und im Konfliktfall beharrlich für die Unabhängigkeit des Gerichts einzutreten. Diese Bereitschaft kann man nicht erzwingen, nur fördern und auf sie hoffen. Auch insoweit lebt also „der freiheitliche, säkularisierte Staat“ „von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann“5), nicht einmal durch Verfassungsrecht. Das mag für einen Rechts- und Verfassungsstaat bedauerlich erscheinen, weil der verständliche Wunsch nach einem auch im Konfliktfall widerstandsfähigen Verfassungsgericht sich mit den genuinen Werkzeugen dieses Staates – dem Recht und seiner Durchsetzung – nicht erfüllen lässt, sondern letztlich auf Hoffnung und Vertrauen gründet. Nicht nur die Demokratie, auch der Rechtsstaat lebt aber von der Beteiligung der Bürger. Der regelmäßige Gang an die Wahlurne genügt dafür nicht.

Die staatlichen und politischen Akteure verdammt dieser Befund indes nicht zur Tatenlosigkeit. Staatlicherseits sind Öffentlichkeits- und Medienarbeit sowie politische Bildung in Bezug auf das Bundesverfassungsgericht nicht „nice to have“, sondern aktive Beiträge zu seinem Schutz. Für die politische Auseinandersetzung folgt aus dem Wissen um die Bedeutung und Verletzlichkeit des Gerichts ein Gebot der Mäßigung. Demokratie und Rechtstaatlichkeit bedürfen neben den geschriebenen Normen ergänzender „weicher Leitplanken“; ihre wichtigsten sind gegenseitige Achtung und institutionelle Zurückhaltung.6) Dementsprechend ist es zu begrüßen, wenn selbst bei Entscheidungen von enormer Tragweite die politische Reaktion darin liegt, umgehend die Einhaltung der verfassungsgerichtlichen Vorgaben zu versichern (vgl. zum Nachtragshaushaltsgesetz) statt das Gericht oder den politischen Gegner zu delegitimieren.

Die Debatte über einen besseren Schutz des Bundesverfassungsgerichts sollte dementsprechend für alle Demokraten eine Mahnung sein, selbst an diesem Schutz mitzuarbeiten, entsprechende Gefährdungen selbst zu unterlassen, zu benennen und anzuprangern. Wenn sie zu konkreten Änderungen der Verfassung führen sollte, muss dabei eines auf jeden Fall vermieden werden: Der Eindruck, nun sei alles Erforderliche getan, Demokratie und Rechtstaat seien hinreichend gesichert, man könne sich also beruhigt zurücklehnen. Er wäre die größte Gefahr für das Bundesverfassungsgericht.

References

References
1 Vgl. zur Empirie dieser Regelung, die dazu führt, dass eher gemäßigte Kandidaten zu Verfassungsrichtern gewählt werden: Engst/Gschwend/Schaks/Sternberg/Wittig, JZ 2017, 816.
2 Vgl. für weitere Gefährdungen auch: Reutter, Werner: Wer wacht über die Wächter?: Anmerkungen zu aktuellen Vorschlägen zum Schutz von Verfassungsgerichten, VerfBlog, 2024/1/30
3 Vgl. etwa zur Frage, ob die Verfahren nach der Dispositions- oder der Offizialmaxime zu führen sind: Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, 4. Aufl., Rn. 345 ff.; für Fragen der Prozesskostenhilfe: BVerfGE 1, 109, 110 ff.
4 Etwa bei Kostenfragen, vgl.: BVerfG, Beschluss vom 07.12.1977 – 1 BvR 148/75 -, NJW 1978, 259.
5 Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, Suhrkamp 1991, S. 92, 112.
6 Levitsky/Ziblatt, Wie Demokratien sterben, S. 120.

SUGGESTED CITATION  Dittrich, Lars: Schutz ist gut, Vertrauen ist besser: Böckenförde-Diktum und die Reformdebatte um das Bundesverfassungsgericht, VerfBlog, 2024/2/19, https://verfassungsblog.de/schutz-ist-gut-vertrauen-ist-besser/, DOI: 10.59704/51e6d7b1fb1103d7.

2 Comments

  1. Koppe Fri 23 Feb 2024 at 08:32 - Reply

    Ein Blick nach Brandenburg zeigt:
    Auch ein Festschreiben von Wahlregeln in der Verfassung (oder eben im Grundgesetz) bringt keinen Schutz des Gerichtes vor falscher Besetzung.
    In Brandenburg sind die Regelungen in Art. 108 Abs. 2 und Art. 112 Abs. 2 LV enthalten. Danach sind
    – 3 Berufsrichter (m/w/d)
    – 3 Rechtsanwälte (m/w/d) (“Mitglieder mit der Befähigung zum Amt der Richterin oder des Richters oder Diplomjuristinnen und Diplomjuristen”) und
    – 3 Männer und Frauen aus dem Volke (die keine Juristen sein müssen)
    als Verfassungsrichter einzusetzen.

    Die “demokratischen” Parteien haben jedoch das Verfassungsgericht mit
    – 6 Berufsrichtern (m/w/d)
    – 2 Rechtsanwälten (m/w/d) und
    – 1 Frau aus dem Volke
    besetzt.
    Zwar besteht nach § 8 bbg VerfGG noch Beschlußfähigkeit, nämlich ausschließlich in der Besetzung
    – 1 Frau aus dem Volke,
    – 2 Rechtsanwälte (m/w/d) und
    – 3 Berufsrichter (m/w/d),
    in dieser Besetzung entscheidet das Landesverfassungsgericht jedoch nie (bzw. so gut wie nie – mir ist jedenfalls kein Fall bekannt) .

    Also selbst Regelungen im Grundgesetz sind kein Schutz des Bundesverfassungsgerichtes, wenn es keinen Schutz gegen die verfassungswidrige Besetzung des Verfassungsgerichtes gibt.

    • Marlene Thu 23 May 2024 at 11:31 - Reply

      Hallo, ich habe Ihren Kommentar mit sehr viel Interesse gelesen und wollte noch einmal nachfragen:

      1. Ist in Art. 112 II nicht offen gelassen, ob es wirklich 3 Vertreter/Vertreterinnen aus dem Volk sein müssen? Dort steht ja “… die diese Voraussetzungen nicht erfüllen müssen”. → Das heißt doch aber im Umkehrschluss, dass sie die Voraussetzungen erfüllen “können”, oder?
      2. In § 8 des VerfGGBbg sehe ich keine konkreten Anforderungen an die einzelnen Mitglieder, sondern dass min. 6 Verfassungsrichter im Amt sein müssen. Woraus lesen Sie dort die konkrete Besetzung, die Sie in Ihrem Kommentar geschildert haben?

      Über eine Antwort würde ich mich freuen, es interessiert mich wirklich sehr.

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