Seine Zeit ist gekommen
Den Wahltag verbrachten wir in Pennsylvania, dem Bundesstaat, der – so die Theorie – in diesem Kampf das entscheidende Schlachtfeld hätte sein können. Beide Kampagnen lagen Kopf an Kopf im Rennen darum, eine kleine, nur schwer fassbare Gruppe unentschiedener Wähler:innen in den „purple“ Countys und Vororten für sich zu gewinnen. Der Tag begann unter strahlend blauem Himmel, mit vorsichtigem Optimismus, den die engagierten Demokratischen Freiwilligen verbreiteten – eine Stimmung, die schon an unserem Vorwahlwochenende in Georgia in der Luft lag. Am Abend blieb das düstere Gefühl der Niederlage: Noch vor Mitternacht zeichnete sich ab, dass Donald J. Trump auf dem Weg war, der 47. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika zu werden.
Wir zogen durch mittelgroße, gentrifizierte Städte wie Allentown, die ländlichen Gegenden von Bucks County und die Schwarzen Viertel im Norden Philadelphias, deren Vorgärten Wahlplakate zierten, während sich die Anzeichen für einen Wahlsieg von Harris noch zu verdichten schienen. In Allentown stand eine 76-jährige Psychologin aus New York – Sonnenbrille, Locken, ansteckende Energie – den ganzen Tag vor einem Wahllokal, mit nichts als einem Kugelschreiber und einer Broschüre in der Hand. Sie sprach sämtliche Passant:innen an und fragte: „Wählen Sie Kamala?“ Viele – Schwarze, Hispanics, Männer, Frauen – antworteten stolz mit „Ja“, und von den Unentschlossenen überzeugte sie immerhin fünf. „Viele wissen nicht, wen sie wählen werden, wenn sie hier reingehen. Einen Versuch ist es also immer wert“, sagte sie.
In Bucks County inspizierte eine 72-jährige Wahlbeobachterin – blond, mit blau lackierten Fingernägeln und einem T-Shirt mit der Aufschrift „I’m a woman, watch me vote“ – die Wähler:innen, die auf das Wahllokal zusteuerten. Selbstsicher erzählte sie uns, dass mehrere Frauen mittleren Alters, die mit ihren republikanischen Ehemännern auftauchten, ihr heimlich signalisiert hätten, für die Demokraten stimmen zu wollen. „Frauen werden diese Wahl entscheiden“, war sie sich sicher. „Sie werden die Rechte zurückgewinnen, für die ich mein Leben lang gekämpft habe.“
Etwas später, in einer Schwarzen Gemeinde am Stadtrand von Philadelphia, sorgte ein DJ vor dem Wahllokal für Stimmung, voller Energie und Optimismus. Die Menschen empfingen uns mit strahlenden Gesichtern und entschlossener Haltung: „So eine Wahlbeteiligung haben wir noch nie gesehen“, berichtete ein Wahlhelfer. Eltern hatten ihre gerade wahlberechtigten Kinder im Schlepptau, sie wussten, wie wichtig dieser Tag sein würde. Die gesamte Community wurde mobilisiert. Vor dem DJ-Pult wurde fröhlich getanzt, die Erleichterung war spürbar. Als wir gegen 19 Uhr aufbrachen, zeigte sich der Vorsitzende des lokalen Demokratischen Komitees siegessicher: „Philadelphia wird liefern. Ich habe volles Vertrauen. Kamala Harris wird gewinnen.“
Doch das tat sie nicht. Donald Trump gewann die Präsidentschaftswahl 2024 – fair und mit deutlichem Vorsprung. Pennsylvania spielte als Swing State letztlich keine zentrale Rolle. Trump sicherte sich fünf der sechs vorhergesagten Swing States und die Mehrheit der Stimmen im Electoral College sowie aller abgegebenen Stimmen des „Popular Vote“. Bei Redaktionsschluss liegt er landesweit fünf Millionen Stimmen vor Kamala Harris. Dieser Vorsprung könnte sich verringern, sobald alle Stimmen aus Kalifornien ausgezählt sind, doch das Ergebnis scheint festzustehen.
Amerikas Wahl
Die amerikanische Bevölkerung – in all ihrer Komplexität und Vielfalt – hat Trump als Präsident bestätigt, und das nicht aus Versehen, sondern bewusst. Trump hat es offenbar geschafft, ein Wähler:innenkollektiv nach seinen Vorstellungen zu formen: eine breite, überraschend diverse Koalition, die radikale Veränderungen der politischen Strukturen fordert und wohl auch durchsetzen wird. Seine Kampagne nutzte republikanische Klassiker, versprach Steuersenkungen und den Abbau des New Deal, wagte sich jedoch auch auf neues Terrain: Umgestaltung der Außenpolitik, Einflussnahme von Tech-Oligarchen, Massendeportationen und die schleichende Rücknahme von Minderheiten- und Frauenrechten.
Nun stehen die hochengagierten Freiwilligen, die wir auf unserem Weg durch Pennsylvania – und letzte Woche in Georgia – getroffen haben vor der bitteren Realität, dass ihre Bemühungen dieses Mal vergeblich waren.
Wir haben versucht, sie zu erreichen – ohne Erfolg. Sicherlich sind sie erschöpft, noch immer schockiert und enttäuscht, und sie werden sich fragen, ob sie die Kraft haben, das Ganze ein weiteres Mal durchzustehen.
Wie soll man diesen klaren Wahlsieg verarbeiten? Wie abfinden mit der Aussicht auf weitere vier Jahre Trump im Weißen Haus, einer republikanischen Kontrolle des Senats und vielleicht sogar des Repräsentantenhauses? Was bedeutet das für die Verwaltung, für die von Trump ins Visier genommenen sozialen Gruppen – insbesondere für undokumentierte Einwanderer:innen – und was sagt das über den Zustand der amerikanischen Demokratie aus?
Also doch: The Economy, Stupid?
„Nun, seine Zeit ist gekommen“, meint Sam Issacharoff, Verfassungsrechtler und Professor an der New York University. Es ist Mittwochabend, und wir sitzen in einem Büro im vierten Stock der Law School. Issacharoff – ein erfahrener Akademiker und Anwalt, der Verfassungen mitgeschrieben und vor dem Supreme Court plädiert hat – wirkt gefasst und, zu unserer Überraschung, nicht sonderlich besorgt. Diese Wahl sei in erster Linie ein Referendum über die wirtschaftliche Situation nach COVID gewesen, meint er, und vor diesem Hintergrund sei das Ergebnis kaum überraschend. Weltweit verlieren derzeit die Amtsinhaber:innen. In nahezu allen größeren Wahlen der letzten Jahre wurden Regierungen aus dem Amt gefegt. Harris war zwar nicht Amtsinhaberin, aber immerhin Vizepräsidentin.
Das heißt allerdings nicht, dass die Mehrheit der Amerikaner:innen, die für Trump gestimmt haben, tatsächlich wollen, dass er vom ersten Tag an „als Diktator“ regiert oder gar die Verfassung „abschafft“. Solche Warnungen waren zentral im Wahlkampf der Demokraten, doch sie schienen die meisten Wähler:innen nicht zu überzeugen. Ob dies darauf hindeutet, dass die Wähler:innenschaft demokratische Prinzipien für wirtschaftliche Erleichterungen aufzugeben bereit ist, die von Trump ausgehende Gefahr für die Demokratie als nicht allzu groß einschätzt oder schlicht ökonomisch frustriert ist, bleibt offen.
Einige in Trumps Wähler:innenschaft mögen autoritären Tendenzen gegenüber aufgeschlossen sein, aber das gilt sicher nicht für alle. In ländlichen Gegenden Pennsylvanias sprachen wir mit republikanischen Freiwilligen. Eine zweifache Mutter mittleren Alters bezeichnete die Wahlleugnung als „Unsinn“, noch bevor wir das Thema überhaupt ansprechen konnten – ihre Tochter, ebenfalls Republikanerin, verachtet Trump und wählt die Demokraten. Für sie war es das Gemeinschaftsgefühl, das sie zur Republikanischen Partei zog, nicht spezifische politische Inhalte. Doch selbst diese Gemeinschaft scheint zunehmend gespalten. Der Freiwillige neben ihr, geschmückt mit Trump-Memorabilia, begann jedes Gespräch mit der Anschuldigung, die Demokraten würden „Kinder töten“.
Es wird nicht einfach sein, die Komplexität dieser Wahl zu verstehen. Doch eine plausible Lesart deckt sich mit unseren Erfahrungen in Georgia, den frühen statistischen Analysen und vor allem den Verschiebungen in einigen Minderheitendistrikten: die Demokraten haben darin versagt, „die Menschen dort abzuholen, wo sie sind“, wie Issacharoff es ausdrückt. Sorgen wegen der Inflation als übertrieben abzutun, während die Menschen darunter leiden, war keine gewinnbringende Strategie.
Zerrüttete Institutionen und „Constitutional Rot“
Selbst wenn eine Mehrheit der Amerikaner:innen sich keinen autoritäreren Trump wünschen, haben sie ihn dennoch gewählt – in dem Wissen, dass ein autoritärer Turn unter einem Präsidenten Trump keinesfalls ausgeschlossen ist. Trump hat klare Signale gegeben, die viele als gefährlich, potenziell autoritär oder sogar als faschistisch bezeichnen würden. Im Rückblick wird niemand sagen können, man habe nicht gewusst, worauf man sich da einließ.
Begriffe wie „autoritäre“ oder gar „faschistische“ Tendenzen sollte man nicht überstrapazieren, da sie sonst ihre analytische Kraft verlieren. Viele von Trumps Vorschlägen mögen kurzsichtig oder schockierend sein, bleiben aber innerhalb eines demokratischen Systems legitime politische Entscheidungen – etwa Steuererleichterungen für Milliardäre, Förderung fossiler Energien, Impfverbote oder die Behörde für Lebensmittelsicherheit auszuhöhlen.
Andere Vorschläge überschreiten jedoch Grenzen. So plant Trump, die Kontrolle über die Bundesverwaltung weiter zu zentralisieren. Verwaltungsbehörden zu entmachten mag ein fragwürdiges, aber legitimes Ziel eines US-Präsidenten sein. Doch alles – von Sozialleistungen bis hin zu Katastrophenhilfe – den unkontrollierten Launen eines Mannes zu unterwerfen, der einst Desinfektionsmittel als COVID-Medikament vorgeschlagen hat und seine Gegner drangsaliert, öffnet dem Missbrauch Tür und Tor. Institutionen, die für legitime Zwecke geschaffen wurden, könnten so für illegitime umfunktioniert werden, insbesondere für Vergeltungsakte.
Zurück im Oval Office, könnte Trump ziemlich schnell den Arbeitsschutz des öffentlichen Dienstes für Tausende von Beamt:innen zurückbauen, wie der Rechtshistoriker Noah Rosenblum von der New York University betont. Er könnte Gelder zurückhalten, Schlüsselpositionen in Behörden unbesetzt lassen oder staatliche Ausgaben für Behörden, Hochschulen, Katastrophenhilfe und Infrastruktur an politische Loyalität knüpfen. Einzelne dieser Maßnahmen mögen unscheinbar wirken, doch zusammengenommen könnten sie eine Art „Gleichschaltung“ herbeiführen, wie Rosenblum es formuliert.
Angesichts des fragilen Zustandes der amerikanischen Institutionen ist dies besonders bedenklich. Der Verfassungsrechtler Mark Graber erinnerte kurz nach Bekanntwerden der Wahlergebnisse an Jack Balkins Konzept des „constitutional rot“. Das Konzept beschreibt, dass das demokratische Gefüge der USA mitsamt den sozialen Normen einem schleichenden Verfall ausgesetzt ist.
Graber sagt, dass er sich mehr Sorgen um seine Kinder mache als um sich selbst. Auch wenn Verfall Zeit braucht, zeigten sich bereits erste Anzeichen: Zeitungen verzichten auf Wahlempfehlungen, Verfassungsvorschriften bleiben ungenutzt, und zunehmend parteiische Gerichte versagen dabei, die Regierung zu kontrollieren.
Einige äußerst beunruhigende Anzeichen sind schon sichtbar. Vergangene Woche warnten wir vor der Rolle von Tech-Oligarchen in einer zweiten Trump-Regierung. Diese Woche telefonierte Trump Berichten zufolge mit Elon Musk und dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj. Was daraus folgt, wissen wir noch nicht, doch es steht viel auf dem Spiel – von der Ukraine über den Nahen Osten bis Taiwan. Der Kollaps der deutschen Regierung, kaum einen Tag nach Trumps Wahlsieg, ist ein weiteres Signal, dass Europa möglicherweise zumindest die Unterstützung für den ukrainischen Widerstand gegen die russische Aggression nicht wird aufrechterhalten können.
Da bleibt wenig Hoffnung, dass „die Institutionen“ – wie auch immer man sie definiert – Trumps zerstörerisches Potenzial eindämmen werden.
Responsive Politik und Neuverhandlung des Progressiven
Doch auch Rosenblum – ein energischer Brooklyner mit enzyklopädischem Wissen über die US-Geschichte – scheint nicht allzu besorgt. Vielleicht ist es die Perspektive des Historikers, die ihn in die Widerstandsfähigkeit der amerikanischen Demokratie vertrauen lässt. Rosenblum merkt an, dass die amerikanische Demokratie weitaus schlimmere Turbulenzen standgehalten habe. Issacharoff ist „absolut“ überzeugt, dass es 2028 Wahlen geben werde, und Rosenblum stimmt zu. „Denken Sie an Lincoln,“ sagt er. 1864, mitten im Bürgerkrieg und ohne große Gewinnchancen, hielt Lincoln Wahlen ab – und gewann. Auch Issacharoff war erleichtert, dass „das Wahlsystem“ am Dienstag „phänomenal“ funktioniert habe, ohne größere Störungen und mit der Gewissheit eines friedlichen Machtwechsels.
Damit die Demokratie gedeihen kann, so Rosenblum, müsse die Politik auf die Wahlentscheidungen reagieren. So beunruhigend bestimmte vorgeschlagene Maßnahmen auch sein mögen, solange die wesentlichen demokratischen Institutionen – das Wahlrecht, friedliche Machtwechsel, der Rechtsstaat – intakt blieben, müssten die Republikaner ihre Politik umsetzen dürfen. In vier Jahren könnten die Amerikaner entscheiden, ob sie diese Politik noch wollen. Ob dieser Ansatz erfolgreich sein werde, bliebe abzuwarten. Polen und Brasilien bieten Grund zur Hoffnung; viele andere Beispiele nicht.
Seit Dienstag haben wir untereinander oft festgestellt, wie beruhigend es war, so viele engagierte Menschen zu treffen, und wie viel Hoffnung uns diese Begegnungen gegeben haben. In Gespräche mit Freiwilligen, Wähler:innen und Wissenschaftler:innen spiegelte sich die Überzeugung, dass die amerikanische Demokratie tief verwurzelt ist und sich nicht über Nacht auflösen wird. Millionen wachsame Amerikaner:innen – Gemeindeorganisationen, Anwält:innen, Journalist:innen, Politiker:innen, Akademiker:innen und Whistleblower:innen – werden diese Regierung genau beobachten.
Doch die Menschen, die uns begegnet sind, betonten auch, dass viele Amerikaner:innen sich für deutlich progressiver hielten als es die Wahl belegen konnte. Für viele ist es erschütternd, dass zentrale progressive Anliegen – Frauenrechte, LGBTQIA-Rechte, Antirassismus – noch immer ausgehandelt und gegen gezielte Angriffe verteidigt werden müssen. Doch natürlich reicht es nicht, den Menschen einfach zu sagen, ihre Ansichten seien falsch, weil sie den liberalen Werten widersprächen. Im Gegenteil. Diese Erzählung hat sich als kontraproduktiv erwiesen.
Das amerikanische Volk könnte die Republikaner:innen in den Zwischenwahlen 2026 und bei den nächsten Präsidentschaftswahlen abwählen, wenn die Partei zu weit in den Autoritarismus abdriftet. Doch wenn die Demokratische Partei und ihre Unterstützer:innen die Angriffe Trumps auf die demokratischen Institutionen Amerikas, auf progressive Ideale und die hart erkämpften Rechte historisch unterdrückter Minderheiten abwehren wollen, muss sie einen Weg finden, mit jenen zu reden, die diese Ideale ablehnen.
Sorge, trotz allem
Am Ende können deshalb nur Besorgnis – und Empathie – stehen. Für manche mögen die potenziellen Kosten einer Trump-Regierung abstrakt wirken – besonders für diejenigen, die persönlich weniger betroffen sind. Wissenschaftler wie Issacharoff, Graber und Rosenblum betonen, dass sich die Wahl in verschiedenen Gesellschaftsgruppen ganz unterschiedlich auswirken werde. Es ist wichtig, selbstbewusst den Fortbestand der Demokratie vorherzusagen. Doch zur Wahrheit gehört auch, dass die Folgen von Trumps Regierung – Tod, Vertreibung, Deportation – für Millionen Menschen unmittelbar und verheerend sein werden, wenn er auch nur einen Bruchteil seiner Versprechen wahrmacht. In einer besonders düsteren Wendung könnten viele der Gemeinschaften, die sich bei dieser Wahl Trump zugewandt haben – insbesondere hispanische und arabisch-amerikanische – zu den ersten gehören, die die Folgen zu spüren bekommen und mit Inhaftierung, Abschiebung und der weiteren Zerstörung Gazas konfrontiert werden.
Doch es muss nicht einmal in Tod oder Abschiebung enden. Gestern erst teilte eine Kollegin einen E-Mail-Verlauf zwischen Eltern an der Schule ihrer Kinder. Ein Elternteil, dessen Kind gerade das College abgeschlossen und eine Stelle in einem Naturschutzgebiet angetreten hatte, war über deren Weiterfinanzierung besorgt. Andere fragten sich, ob sie ein neues Auto kaufen sollten bevor Zölle in Kraft treten. Eine Mutter riet ihrer hispanischen Tochter, die gerade 18 Jahre alt geworden war, immer ihren amerikanischen Pass mit sich zu führen. Für Millionen Amerikaner:innen hat sich das Leben bereits verändert.
Die Grenze des Akzeptablen scheint sich immer weiter zu verschieben. Erst vor kurzem sah es noch so aus, als hätte sich Trump für das Amt disqualifiziert – doch der Senat sprach ihn frei. Dann zauberte die Rechtswissenschaft – viel zu spät – eine Verfassungsnorm aus dem Hut, nach der von der Präsidentschaft ausgeschlossen wird, wer sich gegen den Staat verschworen hat. Doch als Trumps beliebter wurde, verlor die Regelung ihre normative Kraft. Einige behaupteten, Amerika besiege Autoritäre an der Wahlurne. Das war offensichtlich ein Fehlschluss.
Dass Amerika in vier Jahren abwählt, was es jetzt überwiegend gewählt oder zumindest als Kollateralschaden hingenommen hat, könnte sich daher als Wunschdenken erweisen. Das gilt vor allem, wenn die Trump-Regierung hart gegen freie Medien, die Wissenschaft und unabhängige Stimmen durchgreifen wird: Ohne sie wird es unmöglich sein, den autoritären Trumpismus laut abzulehnen und eine effektive Opposition zu organisieren. Daher müssen wir – bei allem berechtigten Vertrauen in ein institutionelles System, das einen Bürgerkrieg, große soziale Veränderungen und zwei Weltkriege überstanden hat – wachsam bleiben, in den Vereinigten Staaten, in Europa und auf der ganzen Welt.
Demokratien – insbesondere ihre inspirierendsten Formen – sterben in der Regel langsam, Stück für Stück. Die amerikanische Wähler:innenschaft hat ein gefährliches Experiment gestartet, das die globale Politik und den amerikanischen Konstitutionalismus grundlegend verändern wird. Niemand weiß, wie dauerhaft die Herausforderungen für die amerikanische Demokratie sein werden. Doch was wir wissen: Es ist wesentlich einfacher, Demokratie zu demontieren als sie zu erhalten oder wiederherzustellen.
*
++++++++++Anzeige++++++++
The Venice Commission 1990-2025. Taking stock of 35 years for democracy through law
On the occasion of the 35th anniversary of the Venice Commission’s establishment, the Department of Legal Studies of Bocconi University, Milan, and the Venice Commission will convene a two-day international conference. The conference, which will take place in Milan on 15-16 May, 2025, aims to be a space for reflection on the contribution of the Venice Commission to the development of common constitutional standards and on its current and future challenges. Legal scholars at all stages of their professional career and from all jurisdictions are invited to submit proposals. Download the call for papers here.
++++++++++++++++++++++++
Editor’s Pick
von EVIN DALKILIC
1, 2, 3, tot. Ein Viertel der belarussischen Bevölkerung ist im Zweiten Weltkrieg umgekommen. Der weitaus überwiegende Teil wurde von den Deutschen ermordet. 1, 2, 3, tot. Diese grauenhafte Zählung wurde mir zum ersten Mal mit dem Abspann des Films „Komm und Sieh“ von Elem Klimov bewusst. Die Geschichte folgt dem Jugendlichen Fljora in der belarussischen Sowjetrepublik, der sich 1943 den Partisanen im Kampf gegen die Deutschen anschließt. Der Film beginnt damit, wie Fljora im Sand buddelt und schließlich lachend ein Gewehr hervorzieht. Zum Spielen braucht er es nicht, er will gegen die Deutschen kämpfen. Was folgt, gleicht einem schrecklichen Fiebertraum, der die Unbegreiflichkeit des Krieges körperlich fühlbar macht. An Florja wird sie sichtbar. Schon nach kurzer Zeit sieht der anfangs scheinbar unbeschwerte Junge aus wie ein gebrochener Greis, ohne dass er auch nur einziges Mal gekämpft hätte. Der Krieg schreibt eben keine Heldengeschichten, schon gar nicht für Kinder.
An die 2 Millionen Menschen haben die Deutschen in Belarus ermordet. 628 Dörfer haben sie samt Bewohner niedergebrannt. Ales Adamowitsch, Uladsimir Kalesnik und Janka Bryl sind über drei Jahre durch Belarus gereist, haben Augenzeugenberichte Überlebender auf Tonband aufgenommen und daraus ein Buch gemacht. Adamowitsch, der zusammen mit Klimov das Drehbuch für den Film schrieb, hat den Dorfbewohnern während der Drehpausen aus diesem Buch vorgelesen. Ich wollte es auch lesen, musste aber fassungslos feststellen, dass es nach beinahe 50 Jahren noch immer keine deutsche Übersetzung gab. Jetzt ist sie da. Unter dem Titel „Feuerdörfer“ ist das Buch gerade erst erschienen, mein vorbestelltes Exemplar liegt noch abholbereit bei der Post. Sehen Sie es mir also nach, dass ich Ihnen hier ein Buch ans Herz lege, das ich selbst noch gar nicht gelesen habe. Sie können sich darüber gern bei mir persönlich beschweren, und zwar am 18.11. im Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung bei Gelegenheit der Buchpräsentation in Berlin.
Elem Klimov, Komm und Sieh, 1985, 142 Minuten
Ales Adamowitsch/Uladsimir Kalesnik/Janka Bryl, Feuerdörfer, Aufbau 2024, 39,00 €, 587 Seiten
*
Die Woche auf dem Verfassungsblog
… zusammengefasst von EVA MARIA BREDLER
Dann wollen wir mal versuchen, zusammenzufegen, was uns da diese Woche um die Ohren geflogen ist.
Die USA haben Trump gewählt. Diesmal sogar mit einer klaren Stimmenmehrheit und trotz mehrfacher Vorstrafen. Wir ahnen nichts Gutes für die USA und die Welt, vor allem für Minderheiten, demokratische Institutionen, den Nahost-Konflikt, die Ukraine, die NATO, das Klima – und nicht zuletzt auch für das Völkerrecht. Mit Trump im Weißen Haus und Gaza in Trümmern kann man sich fragen, was die internationale regelbasierte Ordnung eigentlich noch wert ist. ITAMAR MANN (EN) antwortet: Das Völkerrecht gibt uns zumindest ein moralisches Vokabular, mit dem wir benennen können, was wir sehen. Es sei eine Art Geist, der durch unsere politische Vorstellungskraft spukt, auch wenn er nicht immer (in manifesten Ergebnissen) sichtbar werde.
Für nicht viel mehr als einen Spuk halten jedenfalls SEBASTIAN BRUNS und HEIKO MEIERTÖNS (DE) die russischen Vorwürfe, dass die Bundesrepublik den Zwei-Plus-Vier-Vertrag verletze, indem sie NATO-Truppen auf dem Gebiet der ehemaligen DDR stationiert.
Wenige Stunden nach Trumps Sieg feuerte Bundeskanzler Olaf Scholz seinen Finanzminister Christian Lindner und leitete damit das Ende der Ampel ein. Dass die Ampel den Haushaltsstreit nicht überleben würde, war abzusehen, aber die Art und Weise war dann doch bemerkenswert. Scholz will die Vertrauensfrage allerdings erst im Januar stellen, während CDU-Chef Merz darauf drängt, nicht länger zu warten. ALEXANDER THIELE (DE) erklärt, was das Grundgesetz dazu sagt: Scholz könne die Frage jedenfalls verfassungsrechtlich stellen, wann er will. Bis dahin werde als Minderheitsregierung weiterregiert.
Alles andere als eine Minderheit regiert jetzt in Indonesien: Dort hat der neue Präsident Prabowo Subianto ein Kabinett aus 48 Ministern zusammengestellt – eine bunte Mischung u.a. aus Pluralisten, Nationalisten und Islamisten, die jedoch alle der magisch-religiösen Staatsideologie Pancasila Treue schwören. IGNATIUS YORDAN NUGRAHA und ABDURRACHMAN SATRIO (EN) argumentieren, dass Prabowos Kabinett dem Konzept des „Familienstaates“ ähnelt, das den Staat als große indonesische Familie verstehe, die gemeinsam daran arbeitet, familiäre Harmonie zu wahren. Harmonie ist vielleicht keine schlechte Inspiration für künftige Regierungen in Deutschland.
Ein ungewohnt resoluter Bundeskanzler hat der parlamentarischen Einigkeit jedenfalls in einer Sache nicht geschadet: Am Donnerstag verabschiedete der Bundestag die umstrittene Antisemitismus-Resolution, die vorsieht, dass Behörden Kultur- und Wissenschaftsprojekte auf „antisemitische Narrative“ überprüfen, bevor sie Fördermittel freigeben. ITAMAR MANN und LIHI YONA (DE/EN) erklären, warum die dabei maßgebliche Definition die Vielfalt jüdischer Identität einschränkt.
Der nun anstehende Wahlkampf wird das Netz wieder mit Hassrede und Desinformationen fluten – eine Bewährungsprobe für den Digital Services Act (DSA). Der DSA sieht vertrauenswürdige Hinweisgeber (Trusted Flagger) vor, die illegale Inhalte im Netz bekämpfen sollen. Doch nachdem die Bundesnetzagentur den ersten Trusted Flagger benannt hatte, wurden Vorwürfe der Zensur laut. Was ist dran? HANNAH RUSCHEMEIER (DE) hält das Konzept für grundsätzlich vielversprechend, die Trusted Flagger seien Teil der „Demokratiehygiene“ und folgten transparenten Verfahren. Für JOSEF FRANZ LINDNER (DE) bergen die Hinweisgeber dagegen nicht hinnehmbare Gefahren für Meinungsfreiheit und Demokratie.
DANIEL HOLZNAGEL (EN) nimmt ein anderes Instrument des DSA unter die Lupe: die außergerichtlichen Streitbeilegungsstellen. Inzwischen wurden vier solcher Stellen zertifiziert, die meisten haben schon ihre Arbeit aufgenommen. Daniel Holznagel hat mit Vertreter:innen der Stellen gesprochen und beschreibt deren Set-Up und Erfahrungen.
++++++++++Anzeige++++++++
Position for Postdoc Researchers in Criminal Law at the Max Planck Institute for the Study of Crime, Security and Law in Freiburg i. Br. (Germany)
The applicant may carry out research in criminal law theory, philosophy of criminal law, or comparative criminal law in an interdisciplinary research environment where one can tackle real-world challenges and contribute to transnational criminal law.
For further details please see: call for postdocs in Criminal Law.
Deadline for application is 31 January 2025.
++++++++++++++++++++++++
Kurz vor ihrem Aus hat die Ampel noch das „Sicherheitspaket“ beschlossen, das u.a. Leistungsausschlüsse für Asylsuchende in Dublin-Verfahren vorsieht. CHRISTOPH HRUSCHKA (DE) hält die Regelung für evident unionsrechtswidrig.
Das BVerfG hat nun die strategische Inland-Ausland-Fernmeldeüberwachung durch den BND für teilweise verfassungswidrig erklärt. Bevor der Beschluss am Donnerstag veröffentlicht wurde, hatte ANNA HÖNING Vorschläge gemacht, wie sich die unübersichtliche Kontrolllandschaft effektiver umgestalten ließe.
Vergangene Woche veröffentlichte das BVerfG seinen BAföG-Beschluss. Allseits hatte man einen Paukenschlag erwartet: das menschenwürdige Existenzminimum für Studierende. Doch das BVerfG erkannte keinen solchen Leistungsanspruch. Die Entscheidung sei deshalb eher Triangel als Pauke, resümiert SHARI GAFFRON (DE), und ein Rückschritt für die Chancengerechtigkeit in einer Gesellschaft, in der Zugang zu Hochschulbildung noch immer weitgehend vererbt werde.
ANDREAS GUTMANN (DE) hatte das Urteil des LG Erfurt, mit dem es Rechte der Natur richterrechtlich aus der Grundrechtecharta herleitet, bei uns gegen Kritik verteidigt. Für CHRISTOPH DEGENHART (DE) geht Gutmanns Kritik an der Kritik jedoch fehl, vor allem weil sie Rechte der Natur als Prämisse voraussetze statt begründe. Er teilt die rechtsstaatlichen Bedenken, die auch ANDREAS FUNKE (DE) angemeldet hatte.
Italien war vor einigen Wochen international in den Schlagzeilen, weil es Leihmutterschaft im Ausland nun kriminalisiere. Nicht ganz, korrigiert MARIA CHIARA UBIALI (EN) – vielmehr mache Italien das bereits bestehende Leihmutterschaftsverbot auch im internationalen Kontext strafrechtlich durchsetzbar. Dies sage auch einiges darüber, wie Italien staatliche Macht verstehe.
Und schließlich gingen die beiden Symposien der vergangenen Woche zu Ende.
In der Debatte zu „Europe’s Foundation and its Future: The EU Charter in Focus“ (EN) fordert MARJAN KOS eine pluralistische Auslegung von Art. 53, die es erlaubt, nationale Besonderheiten zu berücksichtigen und verfassungsrechtliche Spannungen innerhalb der EU zu reduzieren. GIOVANNI ZACCHARONI fordert die EU auf, der ersten KI-Konvention des Europarats beizutreten um eine gemeinsame verfassungsrechtliche Sprache für digitale Grundreche in Europa zu etablieren. ILARIA GAMBARDELLA, TATIANA GHYSELS, MARLEEN KAPPÉ, SOPHIE-CHARLOTTE LEMMER, YANN LORANS, ALEXANDROS LYMPIKIS and ALICJA SŁOWIK schlagen drei Wege vor, um die Kontrollmechanismen der EU für eine ex ante Grundrechtsprüfung zu verbessern. ELEONORA DI FRANCO erklärt, warum der Beitritt der EU zur EMRK noch immer so weit weg ist wie vor 10 Jahren. ELEANOR SPAVENTA bietet einen neuen Blick auf Autonomie und gegenseitiges Vertrauen in der EU.
Im Symposium zu „Europe’s Geopolitical Coming of Age: Adapting Law and Governance to Harsh International Realities“ (EN) betrachtet OMAR KAMEL Sicherheitsfragen durch die Brille von Massenmedien während sich HENNING LAHMANN anschaut, wie westeuropäische Entscheidungsträger:innen informationelle Ökosysteme schützen wollen.
*
Das war’s für diese Woche – gut, dass sie vorbei ist.
Lassen Sie den Kopf nicht hängen. Denn wie ein prominenter Ex-Minister schon in jungen Jahren wusste: Probleme sind nur dornige Chancen. Packen wir also die Handschuhe aus und gemeinsam an.
Ihr
Verfassungsblog-Team
Wenn Sie das wöchentliche Editorial als Email zugesandt bekommen wollen, können Sie es hier bestellen.
M.S. + M.M.-E. + A.B.: „Also doch: The Economy, Stupid?”
„It’s the economy, stupid!”. Mit diesem Wahlkampf-Slogan gewann Bill Clinton 1992 die US-Präsidentschaftswahlen und wurde 1996 im Amt bestätigt.
Ronald Reagan bestritt seinen Wahlkampf 1980 mit den Fragen: “Geht es Ihnen heute besser als vor vier Jahren? Sind die Preise gestiegen oder gefallen? Gibt es mehr oder weniger Arbeitslose? Wird Amerika heute so respektiert wie einst?” Wenn eine Mehrheit der Wähler in vier Jahren diese Fragen mit „Ja“ beantworten kann, stehen die Chancen der Trumpisten für eine Verlängerung um weitere vier Jahre nicht schlecht. Fragesteller mit Fragen, die einen Fokus haben, dürften sich schwer tun. Nicht nur in den Vereinigten Staaten.