18 March 2022

Sicherheitsstrategie nach der Zeitenwende: Institutionen, Recht, Politik

Editorial

Plötzlich füllt Feuilletons und Kommentarspalten, was lange das weithin mit Argwohn beäugte Spezialgebiet der Sicherheits- und Verteidigungsexpert:innen zu sein schien: die Diskussion über militärische Fazilitäten, strategische Ressourcen, geopolitische Verschiebungen. Der Angriffskrieg mitten in Europa, ein flagranter Völkerrechtsbruch, wie er seit 1945 auf dem Kontinent nicht mehr möglich schien, stellt die trotz aller Schwachstellen doch so solide geglaubten Grundlagen internationaler Ordnung auf die Probe. Und setzt unsere aufgeklärt-rationalen Diskursräume unter Stress.

Es hat gute Gründe, wenn der Politikwissenschaftler Herfried Münkler „postheroischen“ Gesellschaften wie der deutschen ans Herz legt, im Krieg die Nerven zu behalten. Forsch wurde im ersten Schock der Ereignisse vielerorts eine Rückkehr zum harten außenpolitischen Realismus empfohlen, das Ende der „Generation Schneeflöckchen“ ausgerufen oder friedensverwöhnten Bundesbürger:innen gar eine entschiedene Rückkehr zu Carl Schmitts vermeintlich klarer Freund/Feind-Dichotomie und der perfiden Alternative „Frieden oder Pazifismus?“ nahegelegt. Beim Re-enactment alter Post-9/11-Debatten schien manchem – endlich – Robert Kagans These widerlegt und die während des Irakkriegs 2003 so vehement bezweifelte Herkunft der Europäer vom Mars am Ende doch bestätigt.

Die neue „Nationale Sicherheitsstrategie“, die schon im Koalitionsvertrag vorgesehen war und ab heute unter Federführung des Auswärtigen Amtes ausgearbeitet werden soll, im Zusammenspiel mit anderen Ministerien der Bundesregierung, Parlament und nationalen wie internationalen Partnern, verlangt nach den Worten von Außenministerin Annalena Baerbock „klare Haltung, gestärkte Handlungsfähigkeit und geschärfte außen- und sicherheitspolitische Instrumente“.

Unter dem Schock der russischen Invasion gewinnt Kontur, was von der sicherheitspolitischen Community seit langem vergeblich gefordert wurde: eine Sicherheitsstrategie, mit der Deutschland verteidigungspolitisch mehr Verantwortung übernimmt. Die Beschlüsse der Bundesregierung vom 27. Februar 2022, allseits als sicherheitspolitische “Zeitenwende” eingeordnet, markierten einen ersten Schritt.

Jetzt ist zu fragen, was diese Beschlüsse für die zukünftige sicherheits- und verteidigungspolitische Positionierung Deutschlands, für Bündnisse, Auslandseinsätze, Rüstungsexportpolitik und vieles mehr bedeuten. Mit Stimmen aus Wissenschaft und Praxis, Politik, Bürokratie und Medien, aus Deutschland, Europa und der Welt will dieses Verfassungsblog Symposium die öffentliche Debatte über die Erarbeitung einer “Nationalen Sicherheitsstrategie” voranbringen und kritisch begleiten, die Außenministerin Baerbock heute angestoßen hat. Welche institutionellen Voraussetzungen haben diese Debatte bisher blockiert – welche könnten zu Schrittmachern für Veränderung werden?

Die Erarbeitung einer „Nationalen Sicherheitsstrategie“ im Deutschland, im Europa des Jahres 2022 kann und darf keine Neuauflage sicherheitspolitischer Diskurse des Kalten Krieges sein, kein Rückfall ins 19. Jahrhundert, kein schlichter Neorealismus mit Anleihen bei Schmitt und Grewe, Morgenthau und Mearsheimer. Putins völkerrechtswidriger Angriffskrieg gegen die Ukraine konfrontiert uns mit Tiefenschichten historischer Erfahrung. Im Raum lesen wir die Zeit, während Lemberg, die Universitätsstadt Lemkins und Lauterpachts, bombardiert wird. Die historische Geologie deutscher Sicherheitspolitik schließt auch eine lange deutsche Tradition des Pazifismus ein, eine begründete Distanz zum Militärischen, eine Verantwortung für die internationale Ordnung und die Wahrung und Durchsetzung des Völkerrechts. Und eine verfassungsrechtlich fundierte demokratische Tradition öffentlicher Meinungs- und Willensbildung.

„Im Lichte von Russlands massivem Bruch mit unserer Friedensordnung müssen wir die Prinzipien, die uns leiten, noch klarer in praktische Politik umsetzen.“ Als die drei wesentlichen Elemente eines neuen Sicherheitsbegriffs, die dabei Orientierung bieten sollen, bezeichnet Außenministerin Baerbock die „Unverletzlichkeit des Lebens“, also den Schutz vor Krieg und Gewalt, die „Sicherheit der Freiheit unseres Lebens“ in der Demokratie und die „Sicherheit der Grundlagen unseres Lebens“. Damit ist auch die Gefahr des „risikoverstärkenden“ Klimawandels und der damit einhergehenden Umweltveränderungen angesprochen, die weit über die aktuelle Krisensituation hinaus einen tiefgreifenden geopolitischen Transformationsprozess markiert.

Dessen Brüche, Verwerfungen und Rekonfigurationen sind noch kaum absehbar. Die europäische Friedensordnung ist gefährdet, die liberale Demokratie muss sich in Systemkonflikten bewähren. Darum braucht es robuste institutionelle Strukturen, Räume demokratischer Auseinandersetzung über Deutschlands Verantwortung für die Wahrung der Grundsätze einer regelbasierten internationalen Ordnung.

Das Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht und sein Berliner Büro, mit dem der Verfassungsblog bei der Ausrichtung dieses Symposiums kooperiert, sind Orte intensiven Nachdenkens und Debattierens über Fragen internationaler Ordnung und Stabilität. Im regelmäßigen Austausch mit der Praxis wurde hier schon lange vor dem 24. Februar 2022 über Phänomene und Wahrnehmungen einer Erosion internationaler Ordnungsstrukturen, die wachsende Prekarität der europäischen Friedensordnung und Elemente deutscher und europäischer sicherheitspolitischer Strategieentwicklung diskutiert. Wie immer wieder an historischen und geopolitischen Wendepunkten in seiner langen Geschichte ist das Institut auch heute ein Ort völkerrechtlicher, europarechtlicher und rechtsvergleichender Grundlagenforschung, dessen Expertise dem Prozess außen- und sicherheitspolitischer Strategieentwicklung und seinen bestimmenden Akteur:innen Impulse und Reflexionsräume geben kann.


SUGGESTED CITATION  Kemmerer, Alexandra; Ley, Isabelle: Sicherheitsstrategie nach der Zeitenwende: Institutionen, Recht, Politik: Editorial, VerfBlog, 2022/3/18, https://verfassungsblog.de/sicherheitsstrategie-nach-der-zeitenwende-institutionen-recht-politik/, DOI: 10.17176/20220319-001309-0.

Leave A Comment

WRITE A COMMENT

1. We welcome your comments but you do so as our guest. Please note that we will exercise our property rights to make sure that Verfassungsblog remains a safe and attractive place for everyone. Your comment will not appear immediately but will be moderated by us. Just as with posts, we make a choice. That means not all submitted comments will be published.

2. We expect comments to be matter-of-fact, on-topic and free of sarcasm, innuendo and ad personam arguments.

3. Racist, sexist and otherwise discriminatory comments will not be published.

4. Comments under pseudonym are allowed but a valid email address is obligatory. The use of more than one pseudonym is not allowed.




Explore posts related to this:
Sicherheit, Sicherheitsstrategie, Wehrverfassung