Sollte die EU-Kommission Deutschland wegen des Karlsruher Ultra-Vires-Urteils verklagen? CONTRA
Nehmen wir einmal an, die Europäische Zentralbank hätte mit dem Anleihekaufprogramm PSPP ihr Mandat überschritten und dadurch europäisches Unionsrecht verletzt. Hätte ein solcher Rechtsbruch zwingend von einem Gericht überprüft und festgestellt werden müssen? Natürlich nicht. Die Einrichtung gerichtlicher Kontrollen ist ein Mittel, Rechtspflichten scharf zu stellen, sie zu konkretisieren, zu sanktionieren und dadurch mit Wirksamkeit zu versehen. Aber die Vergerichtlichung führt unweigerlich auch dazu, Rechtspflichten auswählen zu müssen, die für eine solche Kontrolle geeignet sind, weil sie beispielsweise nicht zu lange vorbei, nicht zu diffus, nicht zu unbedeutend und angemessen sanktionierbar sind. Nicht alle, ja die wenigsten rechtswidrigen Akte kommen vor Gericht. Deren Auswahl besorgt das Prozessrecht. Es trennt gerichtsgeeigneten Prozessstoff von anderem. Mit seiner Hilfe sollen Gerichte über Gegenstände urteilen, die zu ihren Verfahren passen und über die es mit plausibler Legitimität entscheiden kann. Deswegen ist es für politisch mächtige Gerichte existenziell wichtig, nicht den Eindruck zu vermitteln, sie würden sich ihre Fälle selbst aussuchen. Deswegen ist es ebenso bedeutsam, möglichst Entscheidungen zu treffen, die sich dem Publikum im Verfahren erklären. Das Prozessrecht schützt Gerichte damit auch vor Selbstüberforderung. Denn klar ist: Institutionell mächtige staatliche Institutionen sind immer selbst dafür verantwortlich, wenn sie sich missverstanden fühlen.
Auch um solche Probleme zu verhindern, setzt das Prozessrecht die materielle Prüfung einer Rechtsfrage in einen formalisierten Kontext. Es gibt der Prüfung einen Anlass, zumeist eine konkretisierte Beschwer, und ein Ende, eine vollziehbare Sanktion. Am besten verbindet es beide miteinander, so dass die Beschwerdeführer am Ende etwas bekommen, was ihnen zusteht. Anfang und Abschluss aber sind im jüngsten Urteil des Bundesverfassungsgerichts schwer auszumachen. Verhandelt wurde eine Beschwer, die alle äußern dürfen, also keine substantielle Konsequenz des Handelns der EZB für die Beschwerdeführer zum Thema hat. Ausgesprochen wurde eine Verfahrenspflicht von deutschen Verfassungsorganen, die weder die EZB noch den EuGH verpflichten darf. Beides lässt Zweifel daran erwecken – und dieser Zweifel ist seit Gertrude Lübbe-Wolffs Sondervotum im OMT-Verfahren Gemeingut –, ob sich das Gericht mit der Geldpolitik der EZB einen geeigneten Prozessstoff ausgesucht hat – wenn es sich denn seinen Prozessstoff aussuchen dürfte. Kritik am Urteil kommen eben nicht nur von Anhängern der EZB, sondern auch von Freunden der begrenzten gerichtlichen Verfahrensform.
Nehmen wir einmal an, dass Bundesverfassungsgericht hätte mit seiner Feststellung eines Akts ultra vires durch EZB und EuGH europäisches Unionsrecht verletzt. Müsste ein solcher Rechtsbruch zwingend von einem Gericht überprüft und festgestellt werden? Natürlich nicht. Das nun in die Diskussion kommende Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland würde ähnliche Probleme schaffen wie die oben beschriebenen. Es wäre mit Karl Kraus gesprochen Teil der Krankheit, für deren Therapie es sich hält. Denn auch ihm würde es an einem verfahrenstechnisch überzeugenden Anfang und Abschluss fehlen. Beginnen wir beim Anfang: Zwar steht die Befugnis der Europäischen Kommission, gegen Mitgliedstaaten ein Vertragsverletzungsverfahren zu erheben, außer Frage. Doch liegt die Ausübung dieser Befugnis in ihrem politischen Ermessen, wie im Übrigen so gut wie alle solche Antragsberechtigungen. Die Kommission ist nicht verpflichtet zu klagen, sondern sie wählt Rechtsbrüche aus und das bedeutet, sie kann sich nicht auf juristische Kriterien bei dieser Auswahl beschränken.
Diese Wahl kann sowohl prinzipiellen als auch instrumentellen Kriterien folgen. Ein prinzipielles Kriterium ergäbe sich etwa aus der Frage, ob die Kommission sich in vergleichbaren Fällen auch für die Erhebung eines Vertragsverletzungsverfahrens entschieden hat. Dies ist für die Fälle, in denen sich mitgliedstaatliche Gerichte gleichfalls nicht mit der Letztentscheidungskompetenz des EuGH abfinden wollten, zu nennen sind etwa Dänemark, Italien und die Tschechische Republik, nicht der Fall. Natürlich kann man hier Unterschiede sehen, aber diese Unterschiede sollte die Kommission denn auch benennen.
Ein anderer Vergleich ergäbe sich im Blick nach Ungarn und Polen. Bis heute gibt es gegen Ungarn, wir sind immerhin im Jahre 10 der Herrschaft Orbáns, kein Vertragsverletzungsverfahren wegen der politischen Zustände dort. Auch die weitgehende Suspendierung parlamentarischer Gesetzgebung in der Pandemie hat soweit zu keinem Verfahren geführt. Sollte es dabei bleiben, würde ein Verfahren gegen die Bundesrepublik auf besondere Irritationen stoßen. Aber natürlich muss die Kommission gegenüber Deutschland keine Gerechtigkeit walten lassen, sie ist frei und vielleicht sollte sie sich ganz instrumentalistisch zugunsten eines Vertragsverletzungsverfahrens entscheiden, wenn sie sich von einem Urteil des EuGH einen Vorteil verspricht. Was aber könnte dieser Vorteil sein? Das führt uns zum Abschluss einer solchen Entscheidung, den Folgen einer Verurteilung.
Nehmen wir also schließlich an, der EuGH würde die Bundesrepublik wegen einer Vertragsverletzung verurteilen. Was sollte Folge eines solchen Ausspruchs sein, was gäbe es für wen zu gewinnen? In Deutschland sähen sich politischen Organe des Bundes symbolisch mit der unerfreulichen Wahl zwischen dem Respekt der richterlichen Unabhängigkeit und dem Vorrang des Europarechts konfrontiert – eine Entscheidung, bei der sie nur verlieren können und die sie deswegen mit allen Mitteln vermeiden werden. Operativ könnten sie ohnehin nichts gegen die Entscheidung machen. Politisch könnte diese Situation auch dem Teil des Publikums in Solidarität mit dem Bundesverfassungsgericht bringen, die dem Urteil ablehnend gegenüberstehen. Denn bei allem Respekt vor dem Unionsrecht ist die Unabhängigkeit der Gerichtsbarkeit eine rechtsstaatliche Essentialie, die ihren Sinn gerade dann bekommt, wenn sich ein Gericht nach verbreiteter Ansicht irrt.
Auf europäischer Ebene könnte die Anstrengung eines Verfahrens als Akt der Organsolidarität von Kommission und Parlament der EZB den Rücken stärken. Aber eigentlich geht ein solcher Effekt bei einem politisch unabhängigen Organ ins Leere. Juristisch schließlich wäre das Verfahren leer. Die Argumente sind ausgetauscht. Der EuGH könnte noch einmal darauf hinweisen, dass seine Gründe Vorrang genießen. Auch wenn dies zutrifft, gäbe ein neues Verfahren keine Gelegenheit, sich zu erklären, sondern nur noch eine, sich zu behaupten. Dies hängt auch mit den Status des Vorrangarguments zusammen, das für die europäische Integration zugleich absolut unverzichtbar und sehr gefährlich ist. Ohne funktionierenden Vorrang wäre die Union heute in ihren Grundfesten gefährdet, aber die Berufung allein auf den Vorrang, ist eben keine Begründung mit rechtfertigendem Gehalt, sondern nur ein Hinweis auf Autorität.
Gründe bewerten Fragen in der Sache, Kompetenzen regeln, wer so bewerten darf. Hobbes hat die Einsicht formuliert, dass Kompetenzen Gründen vorgehen, auctoritas, non veritas facit legem, aber so ganz haben wir uns mit dieser Ansicht im Verfassungsstaat nie angefreundet. Hätte der EuGH etwas mehr in Gründe investiert, wäre es jetzt vielleicht nicht auf seine Autorität zurückgeworfen.
Und nun? Es ist vielleicht charakteristisch, dass gerade Ökonomen sich nach einer Lösung suchen, die das Problem aus der Welt schafft. Aber Verfassungsrecht ist kein social engineering, sondern Formalisierung, nicht Auflösung politischer Konflikte. Wir werden mit den nicht unbedingt harmlosen Folgen des Urteils umgehen müssen. Die europäische Integration ist ein politisch umstrittenes Projekt. Die Vorstellung, man könne diesen Streit, in Formen des Rechts beenden, verbindet viele der Kontrahenten im Irrtum.
Zur Pro-Position von INGOLF PERNICE hier.
Der Beitrag Christoph Möllers im Verfassungsblog vom 16.5.2020 zur Ultra-Vires-Entscheidung des BVerfG erstaunt.
Dass sich Möllers darin gegen die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens ausspricht, ist bei seiner verwunderlichen Argumentation nicht entscheidend. Bedenklich sind seine Argumentationsstränge. Mölders wirft Fragen auf, die ins Nichts führen und stellt die Einheit der Rechtsordnung in Frage.
Die von dem Fraktionsvorsitzenden der EVP im Europaparlament, Manfred Weber, in „Berlin direkt“ am 24.5.2020 geäußerte Anregung, es müsse ein Kompetenzgerichtshof eingerichtet werden, zeigt, wohin die Verwirrung führt.
Die zu beurteilende Rechtsfrage ist m.E. einfach: das BVerfG entscheidet über das GG und der EuGH über die Auslegung des Vertragsrechts. Das Anleihe-Programm der EZB ist unstreitig Vertragsrecht. Wenn sich die beiden Gerichte in einer Vertragsfrage widersprechen, entscheidet der EuGH. Vertragsfrage bleibt es auch, wenn das BVerfG – wie hier – an die Art und Weise der textlichen Begründung für das Anleiheprogramm höhere Anforderungen stellt. Für derartige Widersprüche ist das Vertragsverletzungsverfahren eingerichtet worden. Das muss die Kommission nun einleiten. Eine Rechtspflicht, die einklagbar wäre, besteht dazu zwar nicht. Aber das Verfahren ist aus Gründen der Rechtseinheit geboten.
Wenn die Bundesbank sich rechtswidrig nach gegenwärtiger Rechtslage (wegen der geltenden BVerGE ) am Anleiheprogramm beteiligt, bleibt das zwar folgenlos. Es sei denn, ein Betroffener wäre klagebefugt und klagte. Dann käme es auf diesem Weg zu einer Vorlage an den EuGH. Weisungsbefugnisse hat die Bundesregierung jedenfalls nicht.
Möllers argumentiert, dass auch ein Verletzungsverfahren keine Lösung bringe. Sondern ggf. größeren (politischen) Schaden anrichte. Denn wer sich (nur) auf seine Entscheidungskompetenz berufe, verliere im Ergebnis die Autorität. Eine Auflösung seines selbst gefertigten Rätsels bietet Möllers nicht. Seine Argumentation ist m.E. das eigentliche, und zwar juristische Problem. Er vermischt rechtliche (verfahrensmäßige) und politische (geltungsbezogene) Stränge zu einem gefährlichen Ganzen. Gefährlich deshalb, weil diese „Auslegungs-Methode“ aus der Endphase der Weimarer Zeit allzu bekannt ist. Und wir wissen, wohin sie geführt hat.
Ob ein Gerichtsverfahren zu einem befriedigenden Ergebnis führt, mag ein Kriterium für gerechtes Entscheiden sein. Voraussetzung für gerechtes Entscheiden ist aber in jedem Fall die Einhaltung der Verfahrensordnung, innerhalb deren, es zur Entscheidung kommt. Diese steht hier indes in Frage, wenn es darum geht, wer am Ende über EU-Vertragsrecht zu entscheiden hat. Möllers vernebelt mit seinen Ausflügen zu Karl Kraus und Thomas Hobbes diesen schlichten Sachverhalt.