Sollte die EU-Kommission Deutschland wegen des Karlsruher Ultra-Vires-Urteils verklagen? PRO
Das Bundesverfassungsgericht hat mit seinem Urteil vom 5. Mai 2020 (PSPP) zum ersten Male in einem Vorabentscheidungsverfahren dem Gerichtshof der Europäischen Union formell die Gefolgschaft verweigert und das Urteil des EuGH vom 11.12.2018 (Weiss) für Deutschland als nicht bindend erklärt. Die Verbindlichkeit der Urteile nach Art. 267 AEUV wurde vom Gerichtshof mehrfach betont, sie ist im Schrifttum unumstritten und um der einheitlichen Geltung des Unionsrechts willen zwingend geboten. Sie stellt zusammen mit dem Vorrang des Unionsrechts eine wesentliche Säule der Europäischen Union als Rechtsgemeinschaft (Walter Hallstein) dar und sichert die Gleichheit vor dem Gesetz und Recht.
Gleichwohl gibt es im Verhältnis von europäischem und nationalen Recht, von EuGH und nationalen (Verfassungs-)Gerichten keine Hierarchien, wie etwa im Bundesstaat. Im Europäischen Verfassungsverbund dienen nationale und europäische Gerichte einem gemeinsamen Recht gemäß der im Vertrag vorgesehenen Arbeitsteilung, den hier vorgesehenen Verfahren sowie dem in Art. 4 Abs. 3 EUV vereinbarten Prinzip der loyalen Zusammenarbeit. Im Interesse der Bürgerinnen und Bürger, die jeweils sowohl Staats- als auch Unionsbürger/innen sind, ist jeder Machtkampf zwischen den Gerichten fehl am Platze, nicht Konkurrenz sondern Kooperation ist geboten. Art. 267 AEUV ist die Schlüsselnorm hierzu, wenn es Fragen der Auslegung oder der Gültigkeit von Unionsrecht gibt. Er erlaubt es den innerstaatlichen Gerichten insbesondere, Zweifel an der Vereinbarkeit von Rechtsakten der Union mit dem Primärrecht gegenüber dem Gerichtshof darzulegen, bevor sie diese in einem Rechtsstreit, für dessen Entscheidung sie erheblich ist, anwenden. Damit ist eine Prüfungskompetenz verbunden. Wie es Art. 19 Abs. 1 EUV zum Ausdruck bringt, tragen sie dabei durchaus eine Mitverantwortung für einen wirksamen Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen, die sie insbesondere eben im Verfahren nach Art. 267 AEUV ausüben.
Der hiermit geforderte und seit über 60 Jahren vielfach erfolgreich gepflegte Dialog der Gerichte wird allerdings gestört, wenn die Maßgeblichkeit der Urteile des Gerichtshofs nicht mehr anerkannt wird; es trifft die Union im Kern und muss als besonders schwerwiegende Vertragsverletzung angesehen werden, wenn ein nationales Gericht die Bindung an das in einem solchen Verfahren ergangen Urteil nicht anerkennt.
Unter diesen Umständen stellt sich die Frage, ob die Eröffnung eines Vertragsverletzungsverfahrens angesagt ist, wie es in der Form der Aufsichtsklage in Art. 258 AEUV und in der Form der Staatenklage in Art. 259 AEUV vorgesehen ist. Erstere kann die Kommission in Erfüllung ihrer Aufgabe nach Art. 17 Abs. 1 S. 1-3 EUV erheben, letztere kann von jedem Mitgliedstaat erhoben werden, der das für opportun hält. Ob die Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren einleitet und im letzten Schritt den Gerichtshof anruft, liegt in ihrem pflichtgemäßen Ermessen. Eine Rechtspflicht besteht nicht. Neben rechtlichen können bei der Entscheidung hierüber auch politische Erwägungen eine Rolle spielen. Anders als im deutschen Strafrecht gilt hier also nicht das Legalitätsprinzip. Der primäre Zweck des Vertragsverletzungsverfahrens ist die einheitliche Auslegung und effektive Anwendung des Unionsrechts, insbesondere durch die Klärung von Meinungsverschiedenheiten und die Beseitigung von Missverständnissen hinsichtlich des Umfangs der Rechte und Pflichten der Mitgliedstaaten.
Argumente für die Eröffnung eines Vertragsverletzungsverfahrens
Mißachtung der Bindungswirkung des Urteils des EuGH
Das BVerfG sieht in der „vom Gerichtshof vorgenommenen Auslegung des währungspolitischen Mandats der EZB“ einen „Eingriff in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für die Wirtschafts- und Fiskalpolitik und meint, der Gerichtshof habe „damit ultra vires gehandelt, sodass sein Urteil in Deutschland insoweit keine Bindungswirkung entfaltet“ “ (Rn. 163). Ausnahmen von der Bindungswirkung der Urteile des EuGH, die im Vorabentscheidungsverfahren ergehen, sind in den Verträgen nicht vorgesehen. Die Weigerung des BVerfG ist damit eine schwerwiegende Vertragsverletzung.
Soweit ersichtlich, gibt es bislang keinen Präzedenzfall, in dem der EuGH Gelegenheit hatte, jeden Zweifel an der Bindungswirkung und ihrer möglichen Grenzen auszuräumen. Die Gelegenheit bietet sich hier und jetzt. Schon dies rechtfertigt die Eröffnung eines Vertragsverletzungsverfahrens.
Wie in den Medien vielfach bemerkt wird, droht das PSPP-Urteil des BVerfG schon bestehende Tendenzen bei Gerichten anderer Mitgliedstaaten, insbesondere Polens und Ungarns, die Autorität und Bindungswirkung der Urteile des EuGH in Frage zu stellen, zu fördern und damit das Funktionieren der Union als Rechtsunion zu untergraben. Es ist nach dem tschechischen Fall Landtovà (vgl. Robert Zbiral) und dem dänischen Fall Ajos der dritte Fall (s. Daniel Sarmiento), in dem ein höchstes Gericht eines Mitgliedstaates sich nicht für gebunden fühlt, aber dieses Mal geht es weder um eine „Anekdote“ noch um ein allgemein sehr umstrittenes Urteil des EuGH (Mangold), sondern um einen Frontalangriff gegen den EuGH mit dem Vorwurf, dass seine „Auslegung der Verträge nicht mehr nachvollziehbar und daher objektiv willkürlich ist“ (Leitsatz 2).
Angriff auf die Unabhängigkeit der EZB
Die Beschwerdeführer im Verfahren PSPP begehrten vom BVerfG u.a. die Feststellung, dass „das Unterlassen der Bundesregierung und des Bundestages, darauf hinzuwirken“, dass bestimmte Beschlüsse der EZB, u.a. derjenige über das Public Sector Purchease Program (PSPP) „aufgehoben beziehungsweise nicht durchgeführt werden“, sie in ihrem Recht auf Demokratie verletze. Dem hat das BVerfG stattgegeben, verbunden mit der Feststellung: „Die Verfassungsorgane trifft aufgrund der ihnen obliegenden Integrationsverantwortung …die Verpflichtung, dem als Ultra-vires-Akt zu qualifizierenden PSPP entgegenzutreten“ (Rn. 229 ff.). Diese Verpflichtung scheitere nicht an der Unabhängigkeit der EZB (Rn. 232).
Schon in der Erklärung, dass diese Verfassungsbeschwerden überhaupt zulässig sind und zu einer substantiellen Überprüfung von Rechtsakten der Unionsorgane führt, dürfte ein doppelter Verstoß gegen Unionsrecht liegen. Zunächst eröffnet das BVerfG mit der dahinterstehenden Konstruktion indirekt die Individualklage gegen Rechtsakte von Unionsorganen und ermöglicht sich selbst damit einen zumindest indirekten Eingriff in die Kompetenz des Gerichtshofs nach Art. 263, 274 AEUV. Dann aber ist die Klage im Blick auf die Unabhängigkeit der EZB nach Art. 130 i.V.m. Art. 282 Abs. 3 S. 3 AEUV auf einen Rechtsbruch gerichtet und gerät mit dem Ausspruch der genannten Verpflichtung in Widerspruch zu einer klaren Regelung, die übrigens auf Druck Deutschlands in den Vertrag aufgenommen wurde und der Stabilität des Euro dient.
Zum Schutz der Unabhängigkeit der EZB in ihrer künftigen Politik ist eine Klärung der Zuständigkeiten und der indirekten Kontrollmöglichkeiten der EZB durch politische Organe und die Bundesbank wichtig. Nachdem das BVerfG trotz des Urteils und der Begründung durch den EuGH im Vorlageverfahren seine insoweit bereits angekündigte Linie weiter verfolgte, ohne seine Bedenken gegen die Auffassung des EuGH erneut zum Gegenstand einer Vorlage nach Art. 267 AEUV zu machen, wäre es ratsam, Sinn und Grenzen der Unabhängigkeit der EZB klarzustellen.
Missverständnis des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit nach Art. 5 Abs. 1 und 4 EUV
Erhebliche Kritik am Urteil des BVerfG wird im Blick auf den Umgang mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit geäußert, besonders präzis und klar von Peter Meier-Beck und schon Toni Marzal. Tatsächlich besteht eine grundlegende Divergenz zwischen EuGH und BVerfG hinsichtlich der Anwendbarkeit dieses Grundsatzes im vorliegenden Fall. Während der EuGH seine Beachtung wie selbstverständlich als Beurteilungsmaßstab für die Ausübung der Kompetenzen prüft, die den Institutionen der EU und damit der EZB zugewiesen sind, zieht ihn das BVerfG ebenso selbstverständlich zur Beurteilung der Frage heran, ob die EZB mit dem Anleihenprogramm PSPP Währungs- oder Wirtschaftspolitik betreibt. Dabei legt es die vom EuGH tatsächlich vorgenommene Prüfung der Verhältnismäßigkeit für sich so aus, als stünde der Ansatz des EuGH im Einklang mit der eigenen Sicht (Rn. 128). Dieses Missverständnis führt dazu, dass das BVerfG die weiteren Ausführungen des EuGH zur Prüfung der Verhältnismäßigkeit für nicht mehr nachvollziehbar und daher willkürlich erklärt, bis hin der Feststellung, dass „sich das PSPP insoweit als Ultra-vires Akt darstellt, als die EZB seine Verhältnismäßigkeit nicht dargelegt hat“ (Rn. 232). Dieses Missverständnis sollte aufgeklärt werden, um weiteren Schaden für die Glaubwürdigkeit der EZB, des EuGH und letztlich auch des BVerfG zu vermeiden.
Wer Art. 5 Abs. 1 und 4 EUV aufmerksam liest, wird erkennen, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht für die Kompetenzabgrenzung gilt (dem diene der Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung), sondern für die Ausübung der Zuständigkeiten der Union. Wie die Verhältnismäßigkeit zu handhaben ist, sagt Art. 5 Abs. 4 EUV, dessen Satz 2 auf das Subsidiaritätsprotokoll verweist. Auch dort ist keine Rede davon, dass er für die Abgrenzung der Kompetenzen heranzuziehen sei. Art. 5 S. 5 des Protokolls spricht nur von der finanziellen Belastung und dem Verwaltungsaufwand, welche „so gering wie möglich gehalten und in einem angemessenen Verhältnis zu dem angestrebten Ziel stehen müssen“. Legt man diese Bestimmungen der Prüfung des PSPP zugrunde, werden die Ausführungen des EuGH, die auf weitere Punkte in den Schlussanträgen des Generalanwalts Wathelet verweisen (Rn. 37, 93 i.V.m. Rn. 132 ff., 141 ff. der Schlussanträge), gut nachvollziehbar. Dass, wie das BVerfG feststellt, der Grundsatz in dieser Auslegung „die ihm zukommende Korrektivfunktion zum Schutz mitgliedstaatlicher Zuständigkeiten nicht erfüllen“ konnte (Rn. 133, 138 u.a.m.), verwundert nicht. Diese Funktion hat er nicht.
Das Vertragsverletzungsverfahren als abschließende Stufe des judiziellen Dialogs
Die Klärung der hier aufgeworfenen Fragen ist von großer Bedeutung für die Zukunft nicht nur der EZB, der Möglichkeit wirksamer und unabhängiger Währungspolitik und des Verhältnisses zwischen den Gerichten, sondern auch wegen der möglichen Präzedenzwirkungen der in Karlsruhe begonnenen Rechtsprechung für andere Gerichte in der Union. Wenn, wie es das Prinzip der Freiwilligkeit als Grundlage der Mitgliedschaft in der Union impliziert, statt Gewalt und Zwang nur das Recht die Realitäten in der EU prägen soll, dann müssen, soweit irgend möglich, die formal zur Verfügung stehenden rechtlichen Instrumente und Verfahren genutzt werden, um Widersprüche und Missverständnisse im Wege kühl-rationaler Argumentation auszuräumen. Das Vertragsverletzungsverfahren wäre die letzte Stufe eines solchen rechtlichen Dialogs.
Argumente gegen die Eröffnung eines Vertragsverletzungsverfahrens
EuGH als Richter in eigener Sache
Die Eröffnung des Vertragsverletzungsverfahrens gäbe Deutschland zunächst die Möglichkeit, die von der Kommission im Fristsetzungsschreiben und später in der begründeten Stellungnahme formulierten Vorwürfe außergerichtlich zu klären. Sollte die Kommission aber von den dabei vorgetragenen Argumenten oder vorgeschlagenen Maßnahmen nicht überzeugt sein, könnte sie Klage zum EuGH erheben. Dieser müsste allerdings einem Rechtsstreit entscheiden, in den er angesichts des Willkür- und ultra vires-Vorwurfs selbst verwickelt ist. Kann er unter diesen Umständen denn unabhängig entscheiden?
Nur wenn man dieses Verfahren, wie ausgeführt, als Abschluss eines Dialogs versteht und es letztlich nicht um eine Verurteilung Deutschlands, sondern den letzten Versuch einer Klärung wichtiger Rechtsfragen geht, lässt sich daher ein Vorgehen nach Art. 258 EUV rechtfertigen. Dafür spricht, dass das Verfahren zunächst mit einem Feststellungsurteil endet. Dass Deutschland dann aber nach Art. 260 Abs. 1 AEUV die Maßnahmen zu ergreifen hat, die sich ggf. aus dem Urteil ergeben und im Falle des Unterlassens ein zweites Verfahren gewärtigen muss, in dem auf Antrag der Kommission Geldbußen und Zwangsgelder verhängt werden könnten (Art. 260 Abs. 2 AEUV) zeigt, dass es letztlich doch um die einseitige Durchsetzung der Rechtsauffassung des Gerichtshofs geht.
Oder könnte es genügen, zu sagen, dass dem EuGH nach den Angriffen aus Karlsruhe eine Möglichkeit eröffnet werden soll, sich zu verteidigen? Dies kann aber schwerlich als der Sinn des Vertragsverletzungsverfahrens angesehen werden. Dass der EuGH das letzte Wort in einem Streit um Unionsrecht hat, dürfte wiederum im Rechtssystem der EU so angelegt sein.
Respekt vor der Unabhängigkeit der Gerichte und Rechtskraft des Urteils
Zu fragen ist auch, welche Maßnahmen der Gerichtshof denn anordnen könnte, ohne dass die Unabhängigkeit – dieses Mal – des BVerfG und letztlich auch die Rechtskraft des PSPP-Urteils betroffen sind.
Bislang hat die Kommission davon abgesehen, auch bei eher evidenten Rechtsverstößen durch ein höchstes Gericht, gegen den betreffenden Mitgliedstaat nach Art. 258 AEUV vorzugehen. Im berühmten Fall Kloppenburg war Hintergrund des berühmten Urteils des BVerfG der Umstand, dass die Kommission im Blick auf ein Urteil des Bundesfinanzhofs zur unmittelbaren Wirkung der Sechsten Umsatzsteuerrichtlinie seinerzeit von der Eröffnung eines Vertragsverletzungsverfahrens abgesehen hatte. Der BFH hatte hier die unmittelbare Wirkung entgegen der Rechtsprechung des EuGH ohne vorherige Vorlage der Frage an den EuGH ausdrücklich verneint. Die Kommission aber begnügte sich damit, die Verfassungsbeschwerde „der Frau K.“ zu unterstützen, was zur Entscheidung des BVerfG führte dass der BFH seiner Vorlagepflicht in „objektiv willkürlicher Weise nicht nachgekommen“ sei und darin ein Verstoß gegen das Recht auf den gesetzlichen Richter nach Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG liege (BVerfGE 75, 223, 233, 245).
Warum die Kommission bislang in derartigen Fällen kein Verfahren eröffnet, legt sie nicht offen. Anzunehmen ist aber, dass sie den direkten Konflikt zwischen höchsten Gerichten vermeiden will. Darin äußert sich der Respekt vor der Unabhängigkeit und Autorität der Gerichte, aber wohl auch die Erkenntnis, dass ein rechtskräftiges Urteil nicht ohne weiteres korrigiert oder zurückgenommen werden kann, schon gar nicht auf Anweisung der Regierung. Schwer vorstellbar ist auch, dass der Tenor eines Urteils des EuGH dahin gehen sollte, Bundesregierung und Bundestag zu veranlassen, das Urteil des BVerfG zu missachten. Eine solche Anordnung könnte mit der Verfassungsidentität Deutschlands als Rechtsstaat in Konflikt geraten.
Strukturelle Ungeeignetheit des Vertragsverletzungsverfahrens
Für ein Verfahren, das eine Divergenz zwischen EuGH und einem innerstaatlichen Gericht in der Auslegung von Unionsrecht betrifft, könnte die Aufsichtsklage nach Art. 258 AEUV auch ein ungeeignetes Instrument sein. Seiner Struktur nach richtet es sich nämlich gegen den Mitgliedstaat, der von seiner Regierung vertreten wird, während das fragliche Gericht nicht Prozesspartei sein kann. Vorliegend wurde die Regierung, die jetzt die Meinung des BVerfG in Luxembourg vertreten und verteidigen müsste, zusammen mit dem Bundestag genau von diesem Gericht verurteilt. Sie müsste vor dem EuGH die Gegenposition von dem vertreten, was sie zuvor in Karlsruhe vertreten hat.
Gewiss ist es einer Regierung zuzutrauen und zuzumuten, im Sinne des BVerfG und ihm folgend vor dem EuGH das Gegenteil von dem zu argumentieren, was sie in anderem (prozessualen) Kontext zuvor ausgeführt hat. Das Problem, dass diejenige Institution, gegen die sich letztlich die Klage richtet, das BVerfG, keine Gelegenheit hat, sich selbst zu äußern, bleibt. Vor dem EuGH würden nur die Kommission und die deutsche Regierung streiten, obwohl sie beide letztlich nicht die in der Sache Beteiligten sind. Und eine „unabhängige“ Entscheidung wird am Ende von derjenigen Institution erwartet, die eigentlich selbst Partei im Prozess sein sollte. Schwierig.
Mangelnde Durchsetzbarkeit des abschließenden Urteils
Auch vom möglichen Ergebnis her passt der typische Ablauf eines Vertragsverletzungsverfahrens nicht. Angenommen der EuGH würde der Klage der Kommission stattgeben, die Bundesregierung und der Bundesrat, ggf. auch die Bundesbank würden aber wegen ihrer Bindung an das Urteil des BVerfG die vom EuGH angeordneten Maßnahmen nicht umsetzen. Folge könnte ein zweites Verfahren sein, jetzt nach Art. 260 Abs. 2 AEUV, an dessen Ende Deutschland verurteilt wird, einen „Pauschbetrag“ (Bußgeld) und/oder Zwangsgeld zu zahlen.
Was ist, wenn Deutschland dieser Zahlungspflicht nicht nachkommt? Wie an anderer Stelle näher erörtert (in: Krüper/Payandeh/ Sauer (Hrsg.), Konrad Hesses normative Kraft der Verfassung, 2019, S. 165, 193 f., 221) kann es nach Art. 280, 299 Abs. 1 AEUV eine Zwangsvollstreckung gegen einen Mitgliedstaat nicht geben. Hier spätestens endet also das Recht: Das Urteil des EuGH wäre letztlich nicht durchsetzbar, der Rest ist Politik.
So weit muss ein Vertragsverletzungsverfahren freilich nicht gehen. Wenn die Kommission nicht mehr beantragt als die Klärung der oben genannten Rechtsfragen, um dem Gerichtshof noch einmal Gelegenheit zu geben, Missverständnisse seiner eigenen im Urteil Weiss entwickelten Position auszuräumen, könnte das Ergebnis für alle hilfreich sein.
Zur Contra-Position von CHRISTOPH MÖLLERS hier.