Staatshaftung im Lichte der Grundrechte
Das Kunduz-Urteil des BGH vor dem BVerfG
Am 3. September 2009 kaperten Taliban zwei mit Treibstoff beladene Tanklastwagen auf der Fahrt nach Kabul und blieben damit auf einer Sandbank im Fluss Kunduz stecken. Etwa sieben Kilometer Luftlinie entfernt befand sich das Feldlager Kunduz des Provincial Reconstruction Teams (PRT), das einen Teil der International Security Assistance Force (ISAF) bildete. Der Kommandant des PRT, der deutsche Oberst Klein, befürchtete, dass die Tanklastwagen für einen Angriff auf das Feldlager verwendet werden sollten. In der Nacht ordnete er die Bombardierung der Tanklastwagen durch zwei US-amerikanische Kampfflugzeuge an. Dabei starben – nach Zahlen, mit denen der EGMR operiert – zwischen 14 und 142 Menschen, überwiegend wohl Zivilisten, die sich vor Ort angesammelt hatten.
Zwei Angehörige getöteter Zivilisten wandten sich daraufhin an deutsche Gerichte. Im Jahr 2016 verneinte der Bundesgerichtshof (BGH), dass den Angehörigen Entschädigungsansprüche – insbesondere staatshaftungsrechtlicher Natur – zustünden (III ZR 140/15) und bestätigte damit die vorherigen Klageabweisungen des LG Bonn und OLG Köln. Daraufhin erhoben die Angehörigen Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG). Sie rügten im Wesentlichen eine Verletzung der Art. 2 Abs. 2 GG und Art. 14 Abs. 1 GG sowie des Art. 19 Abs. 4 GG.
Am 16. Dezember 2020 veröffentlichte das BVerfG nun allerdings einen Beschluss, mit dem es die eingereichte Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung annahm (2 BvR 477/17): Jedenfalls im Ergebnis sei das Urteil des BGH verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. An der Herangehensweise und dem argumentativen Fundament des BGH-Urteils, das die Anwendbarkeit des Amtshaftungsanspruchs per se und generaliter verneinte, übt der Nichtannahmebeschluss dagegen begrüßenswert deutliche Kritik (vgl. auch eine erste Diskussion hierzu hier).
Der Fall Kunduz – Versuche einer rechtlichen Aufarbeitung
Inwiefern die Anordnung und Vollziehung der Bombardierung der zwei Tanklastwagen humanitäres Völkerrecht verletzte, hat die deutsche Politik und Justiz wiederholt beschäftigt. Im Rahmen eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens kam die Generalbundesanwaltschaft zu dem Ergebnis, dass Oberst Klein keinen Straftatbestand des Völkerstrafgesetzbuchs verwirklicht habe. Eine Verfassungsbeschwerde gegen die Einstellung des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens gegen Oberst Klein blieb erfolglos (2 BvR 987/11). Eine daraufhin erhobene Individualbeschwerde gegen die Einstellungsverfügung ist vor dem EGMR anhängig.
Die Ereignisse in Kunduz waren auch Gegenstand eines Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestages (der Abschlussbericht ist hier zu finden). Die Bundesregierung bot jeder Familie eines oder mehrerer Opfer des Luftschlags jeweils US$ 5000 als freiwillige (ex gratia) Unterstützungsleistung (ohne Anerkennung einer Rechtspflicht und somit nicht als Entschädigung) an (vgl. BT-Drucksachen 17/3723 und 17/8120).
Einen wichtigen Teil der rechtlichen Aufarbeitung bildete die gerichtliche Geltendmachung des Amtshaftungsanspruchs (§ 839 BGB iVm Art. 34 GG). Dass der Amtshaftungsanspruch auch bei militärischem Auslandshandeln deutscher Organe im Rahmen eines bewaffneten Konflikts greift und dass Verletzungen der Vorschriften des humanitären Völkerrechts Amtspflichtverletzungen im Sinne des Amtshaftungsanspruchs begründen können, wird in der Literatur durchaus befürwortet. Auch einzelne Urteile deuteten in diese Richtung (siehe das LG Bonn und OLG Köln im hiesigen Fall). Sowohl der BGH (siehe z.B. Varvarin (III ZR 190/05)) als auch das BVerfG (Varvarin (2 BvR 2660/06)) ließen die Frage bis dato offen. Sie werteten das in Frage stehende Handeln jeweils als völkerrechtskonform, weshalb der Tatbestand des Amtshaftungsanspruchs mangels Amtspflichtverletzung nicht erfüllt war. Dass individuelle Wiedergutmachungsansprüche unmittelbar aus dem humanitären Völkerrecht fließen, haben sowohl die Instanzgerichte als auch der BGH sowie das BVerfG (auch im jüngsten Beschluss – Rn. 18 f.) verneint.
Mit seinem Urteil von 2016 war der BGH damit das erste Gericht, das staatshaftungsrechtliche Ansprüche kategorisch und pauschal ausschloss (III ZR 140/15).
Dies stützte der BGH im Wesentlichen auf eine Argumentationstrias: Erstens habe dem historischen Gesetzgeber keine Amtshaftung für Handeln deutscher Organe im Rahmen von bewaffneten Konflikten vorgeschwebt. Daher liefe eine Anwendung des § 839 BGB iVm Art. 34 GG unweigerlich auf eine richterliche Rechtsfortbildung contra legem hinaus (Rn. 29 ff.). Zweitens könnten „massenhaft Schadensfälle“ hervorgerufen werden (Rn. 39), die die Haushaltsprärogative des Bundestages auszuhöhlen drohten (dabei scheinbar davon ausgehend, dass die Bundeswehr tatsächlich massenhaft Völkerrechtsverletzungen begeht). Drittens bestünde die „Möglichkeit der Zurechnung völkerrechtswidriger unerlaubter Handlungen eines anderen Bündnispartners nach Maßgabe des § 830 BGB“, deren Konsequenz im Falle multinationaler Einsätze eine „kaum eingrenzbare[n] (gesamtschuldnerische[n]) Haftung“ (Rn. 38) sein könnte. Ebenso machte dies eine inzidente Überprüfung der Völkerrechtskonformität des Handelns von Bündnispartnern erforderlich, was letztendlich die Bündnisfähigkeit und den außenpolitischen Gestaltungsspielraum der Bundesrepublik gefährde (Rn. 38). Schon mangels Anwendbarkeit des Amtshaftungsanspruchs sei die Klage daher abzuweisen.
Dieses Ergebnis sicherte der BGH mit einer „selbst wenn, dann“-Argumentation ab: Selbst wenn der Amtshaftungsanspruch anwendbar wäre, seien seine tatbestandlichen Voraussetzungen nicht erfüllt. Mangels „konkreter schuldhafter Verstöße gegen Regeln des humanitären (Kriegs-)Völkerrechts zum Schutz der Zivilbevölkerung“ (Rn. 40) liege keine Amtspflichtverletzung vor.
Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts: Nichtannahme und „verfassungsrechtliche Erinnerung“
In seinem Beschluss vom 18. November 2020 (veröffentlicht am 16. Dezember 2020) nahm das BVerfG die Verfassungsbeschwerde gegen das BGH-Urteil nicht zur Entscheidung an. Das vermittels der „selbst wenn, dann“-Konstruktion erreichte Ergebnis des BGH (kein Anspruch mangels Vorliegens einer Amtspflichtverletzung) sei aus der Perspektive des BVerfG nicht zu beanstanden. Gegen dieses Ergebnis gäbe es nichts „verfassungsrechtlich zu erinnern“ (Rn. 35) – offensichtlich im Gegensatz zum zweiten argumentativen „Standbein“ des BGH: dem generellen „Nein“ zur Anwendung der Amtshaftung.
Denn in seinem Kern rügt der Nichtannahmebeschluss die verfassungsrechtlich mangelhafte Argumentation des BGH. Die pauschale Ablehnung des Amtshaftungsanspruchs begegne „Zweifeln“ (Rn. 23). Und diese Zweifel führt das BVerfG sodann in zehn Randnummern doch recht deutlich und umfassend aus (Rn. 23 ff.).
Den Erwägungen lassen sich drei miteinander verschränkte normative Befunde entnehmen, wobei das BVerfG sein Ergebnis teilweise rechtsvergleichend absichert: Erstens sei der Amtshaftungsanspruch grundrechtlich verankert (Rn. 28). Zweitens erstrecke sich die Grundrechtsbindung deutscher Staatsgewalt auf Handlungen im Ausland (Rn. 31). Insofern erscheine daher eine Verkennung grundrechtlicher „norminterne[r] Direktiven“ (Rn. 23) möglich, wenn die Anwendbarkeit des Amtshaftungsanspruchs auf militärisches Auslandshandeln der Bundeswehr generell abgelehnt wird.
Grundrechte, Amtshaftung und Auslandseinsätze der Bundeswehr
In einem ersten Schritt betont das BVerfG die enge Verbindung zwischen Grundrechten und Staatshaftung. Letztere sei nicht nur Ausfluss des Legalitätsprinzips, sondern grundrechtlich determiniert (Rn. 24). Zwar folgen aus Grundrechten vor allem primärrechtliche Unterlassungs- und Beseitigungsansprüche. Wo die Effektivität des primären Grundrechtsschutzes allerdings nicht gewährleistet werden könne, ergeben sich als „Minus“ zu primärrechtlichen Ansprüchen auch sekundäre Kompensationsansprüche (Rn. 25). Diese können „zwar nicht die Integrität der betroffenen grundrechtlich geschützten Interessen sicherstellen, die Eingriffsintensität jedoch mindern“; so verhinderten sie „zumindest das vollständige Leerlaufen der in Rede stehenden grundrechtlich geschützten Interessen“ (Rn. 25). Grundrechtsverletzungen dürfen demnach nicht sanktionslos bleiben. Ein Mittel, um dies sicherzustellen, bilde der Amtshaftungsanspruch. Daher sei dieser „grundrechtlich radiziert“ und nehme auch an der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG teil (Rn. 29, 28). Zwar hat das BVerfG auch in vergangenen Entscheidungen auf den Konnex zwischen Sekundäransprüchen und grundrechtlichen Schutzgehalten hingewiesen (siehe BVerfGE 34, 269 (292 f.) und auch BVerfG, 1 BvR 1127/96, Rn. 9), in dieser Dezidiertheit hat es die Konnexität zwischen Amtshaftung und Grundrechten bis dato jedoch noch nicht herausgearbeitet. Das BVerfG stell hier eine zentrale dogmatische Weiche, die signifikant für das Verständnis des Staatshaftungsrechts und insbesondere des Amtshaftungsanspruchs ist.
Der Gesetzgeber kann deswegen Sekundäransprüche wie den Amtshaftungsanspruch zwar in seinem Umfang und seinen Voraussetzungen ausgestalten, nicht aber über ihre Existenz verfügen (Rn. 30). Damit ist einem tragenden (und fragwürdigen) Argument des BGH der Zahn gezogen. Dieser hatte stark darauf abgestellt, dass eine „Öffnung“ des Amtshaftungsanspruchs eine unzulässige richterliche Rechtsfortbildung zulasten des Gesetzgebers darstelle, der bei Inkrafttreten des BGB (und damit auch des § 839 BGB) keine Amtspflichtverletzungen im Rahmen von Auslandseinsätzen vor Augen gehabt hätte (siehe BGH, Rn. 28 ff.). Wenn aber der Amtshaftungsanspruch „grundrechtlich radiziert“ ist und grundsätzlich umfassend gilt, kann dessen Aufrechterhaltung im Geltungsbereich der Grundrechte auch kein Fall unzulässiger richterlicher Rechtsfortbildung sein (Rn. 30).
Angesichts dieser grundrechtlichen Rückkoppelung erstarkt die örtliche und sachliche Reichweite der Grundrechte zur zentralen Frage. Die grundrechtliche Determinierung des Amtshaftungsanspruchs kann schließlich nicht weiter gehen als die Grundrechte selbst. Hier nimmt die Kammer im Wesentlichen Bezug auf die BND-Entscheidung des Ersten Senats vom Mai diesen Jahres (siehe dazu hier) und rekapituliert, dass Art. 1 Abs. 3 S. 1 GG hoheitliches Handeln des deutschen Staates umfassend und damit grundsätzlich auch im Ausland binde. Dabei können sich Schutzwirkungen und Modalitäten von reinen Inlandssachverhalten unterscheiden und ihre Anpassung an die jeweilige Situation und den jeweiligen Kontext erfordern (Rn. 31). Es bleibt zwar im Hintergrund, wie sich grundrechtliche Schutzgehalte zu humanitärem Völkerrecht verhalten, aber der Beschluss macht deutlich, dass Grundrechte auch im Rahmen von Auslandseinsätzen und Kampfhandlungen der Bundeswehr gelten und die deutsche Staatsgewalt binden. Gleiches gilt damit grundsätzlich auch für die haftungsrechtliche Effektuierung von Grundrechten auf sekundärer Ebene.
Eben diese verfassungsrechtliche und grundrechtliche Komponente verkennt das Urteil des BGH nach Ansicht des BVerfG. Zwar bediene sich der BGH bei der Determinierung des Anwendungsbereichs des Amtshaftungsanspruchs verfassungsrechtlicher Argumente, allerdings ausschließlich solcher, die seine Position unterstützen und gegen eine Anwendung des Amtshaftungsanspruchs sprechen. Dagegen übersehe der BGH, inwieweit aus der „Verpflichtung zum Ausgleich oder zur Entschädigung für Grundrechtsverletzungen eine Auslegung des bestehenden gesetzlichen Amtshaftungsanspruchs folgt, die – gegebenenfalls mit Abweichungen von Ansprüchen bei innerstaatlichen Grundrechtsverletzungen – auch bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr zu Ansprüchen führen kann“ (Rn. 32).
Hier hält das BVerfG inne und lässt „dahinstehen“ (Rn. 33), ob und wann dies nun der Fall ist, da das Urteil des BGH letztlich nicht darauf beruhe (Rn. 33-35).
Die „grundrechtliche Radizierung“ von Sekundäransprüchen aus rechtsvergleichender Perspektive
Den Konnex zwischen Grundrechten und Haftung – das BVerfG spricht von „grundrechtlich radizierte[n] Sekundäransprüchen“ (Rn. 29) – validiert das BVerfG auch mittels rechtsvergleichender Ausführungen. Insofern ist der Nichtannahmebeschluss ein Anschauungsbeispiel für die Rolle der Rechtsvergleichung in der Judikatur des BVerfG. Das BVerfG wagt den rechtsvergleichenden Blick in andere europäische Rechtsordnungen sowie die EMRK (Art. 41 EMRK), um sich ob des eigenen Ergebnisses rückzuversichern (Rn. 26-27). Der Richter ist naturgemäß an deutsches Recht und Gesetz im Sinne des Art. 20 Abs. 3 GG gebunden, welche auch das relevante Auslegungsmaterial zur Verfügung stellen. Allerdings muss das deutsche Recht auch „erkannt“ werden. Diesen Erkenntnisvorgang können rechtsvergleichende Untersuchungen im Rahmen einer Selbstreflexion befördern (vgl. Tschentscher, JZ 2007, 807 (815); Martini, Vergleichende Verfassungsrechtsprechung, 2018, 293 f.; Lange, 142 AöR (2017), 442 (461)). Der Blick durch ein rechtsvergleichendes Prisma hilft, einen innerstaatlich begehbaren und gegebenenfalls noch nicht wahrgenommenen dogmatischen Weg zu erkennen. Umgekehrt kann ein in der dogmatischen Struktur nationalen Rechts angelegter Weg Validierung durch rechtsvergleichende Erkenntnisse finden. Das BVerfG begründet den Blick in andere europäische Rechtsordnungen darüber hinaus mit einem Verweis auf Art. 1 Abs. 2 GG und die „europäische Einbindung Deutschlands“ (Rn. 26). Das gefundene Auslegungsergebnis wird durch dessen Übereinstimmung mit „den allgemeinen Rechtsgrundsätzen im europäischen Rechtsraum“ (Rn. 26) bestätigt.
Bemerkenswert am rechtsvergleichenden Exkurs des BVerfG ist angesichts der doch recht spezifischen Haftungskonstellation, dass dieser nicht extensiver betrieben wird. Indem das Gericht rechtsvergleichend lediglich auf die grundsätzlich umfassende Haftung für staatliches Unrecht verweist, bleibt außer Acht, dass für den konkreten Fall der militärischen Kampfhandlungen zwar nicht durchweg, aber oft Ausnahmen gelten (s. Starski/Beinlich, JöR 66 (2018), 299, 316 ff.).
Versuch einer ersten Bewertung
Dass das BVerfG eine nicht entscheidungserhebliche Rechtsfrage – Anwendbarkeit des Amtshaftungsanspruchs – dahinstehen lässt (Rn. 33), ist an sich nicht weiter verwunderlich und entspricht üblichen judikativen Strategien. Dennoch verbleibt eine Diskrepanz zwischen den Darlegungen des BVerfG zur grundrechtlichen Radizierung des Amtshaftungsanspruchs auf der einen Seite und dem schlussendlichen „Dahinstehenlassen“ seiner Anwendbarkeit auf der anderen.
Mit dem „Dahinstehenlassen“ scheint das BVerfG zur Disposition zu stellen, was es zuvor eindrücklich klargestellt hatte: Zum einen sichern Haftungsansprüche die Verwirklichung von Grundrechten ab. Zum anderen erfassen die Grundrechte – und damit auch die Haftungsansprüche – die Ausübung deutscher Hoheitsgewalt grundsätzlich umfassend und territorial unbegrenzt. Auch Auslandseinsätze der Bundeswehr unterliegen insofern grundrechtlichem und – als Korrelat – haftungsrechtlichem Zugriff. Dies bestätigt das BVerfG implizit auch, wenn es darlegt, dass die Entscheidung über die „Existenz von Amtshaftungs- und Entschädigungsansprüchen bei Grundrechtsverletzungen“ nicht nur den Gerichten, sondern auch dem Gesetzgeber entzogen ist und diesem lediglich die nähere Ausgestaltung wie etwa der Ausschluss der „gesamtschuldnerische[n] Haftung des Staates mit anderen Schädigern“ verbleibe (Rn. 30).
Das bedeutet freilich nicht zwangsläufig, dass die Haftung gerade durch den Amtshaftungsanspruch gewährleistet werden muss. Die Argumentation des BVerfG zugrunde gelegt, könnte der Gesetzgeber wohl ein anderes adäquates Haftungsregime für Opfer von Kampfhandlungen schaffen. Nach jetzigem Stand staatshaftungsrechtlicher Dogmatik greift allerdings allein der Amtshaftungsanspruch (zum enteignungsgleichen Anspruch sowie zum Aufopferungsanspruch: Rn. 22 des Beschlusses). Führt man sich die normativen Befunde des BVerfG vor Augen und nimmt die „grundrechtliche Radizierung“ von Haftungsansprüchen ernst, so erscheint eine Entscheidung des Gesetzgebers oder der Gerichte, den Amtshaftungsanspruch hinsichtlich Schäden im Rahmen von Kampfhandlungen auszuschließen, verfassungsrechtlich schwerlich haltbar – jedenfalls solange keine adäquate Alternative geschaffen würde. Dass das BVerfG dies nicht herausstellt, sondern durch das „Dahinstehenlassen“ offenzulassen sucht, ist zumindest verwunderlich – zumal es dem BVerfG ja ein Anliegen war, die Argumentation des BGH richtigzustellen.
Auch wenn das BGH-Urteil im Ergebnis unangetastet bleibt, ist der Beschluss des BVerfG eine willkommene, ja gar mehr denn gebotene verfassungsrechtliche Korrektur zahlreicher kritikwürdiger Ansichten des BGH: Das BVerfG rügt, dass sich der BGH allzu schnell hinter den (vermeintlichen) historischen Gesetzgeberwillen, die Idee einer unzulässigen Rechtsfortbildung und den Topos der „Bündnisfähigkeit“ zurückzog und dabei widerstreitende grundrechtliche Interessen außer Acht ließ.
Gerade im Hinblick auf den letzten Punkt – die „Bündnisfähigkeit“ – ist die Entscheidung des BVerfG wichtig. So firmiert die „Bündnisfähigkeit“ in der Tat mitunter als Argument dafür, Auslandshandeln (gänzlich) anderen Rechtsmaßstäben zu unterstellen als sie für Handeln im Inneren gelten. Hinsichtlich der Amtshaftung ist nicht ersichtlich, dass der einzige Weg, das legitime Interesse der Bündnisfähigkeit zu wahren, der komplette Ausschluss der Amtshaftung sein soll. Dass die BRD – wie vom BGH befürchtet – etwa für Schädigungen anderer Bündnispartner gesamtschuldnerisch nach § 830 BGB haften müsse, erscheint abwegig. Das BVerfG verweist darauf, dass diese schließlich „weder an das Grundgesetz (Art. 1 Abs. 3 GG) gebunden noch dem deutschen Staatshaftungsrecht unterworfen sind“ (Rn. 30). Jedenfalls könnte dem Einwand der Beeinträchtigung der Bündnisfähigkeit wohl dadurch begegnet werden, dass eine gesamtschuldnerische Haftung gesetzlich ausgeschlossen wird. Daher vermag der Verweis auf die „Bündnisfähigkeit“ keinen kategorischen Ausschluss des Amtshaftungsanspruchs zu rechtfertigen, was das BVerfG erfreulich deutlich klargestellt hat.
Des Weiteren führt der Beschluss des BVerfG vor Augen, wie schwierig das Hantieren mit einem historischen Gesetzgeberwillen ist, insbesondere wenn daraus die Grenzen unzulässiger richterlicher Rechtsfortbildung abgeleitet werden sollen. Der gesetzgeberische Wille ist eine Konstruktion, wenn nicht gar Fiktion. Jedenfalls ist der gesetzgeberische Wille nur ein Element im Rahmen eines umfassenden Auslegungsprozesses, der sämtliche Canones zu berücksichtigen hat. Schlussendlich ist der gesetzgeberische Wille dem Willen der Verfassung unterzuordnen.
Erstaunlich ist, dass der Beschluss des BVerfG nicht intensiver mit dem Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes operiert. Er beinhaltet nicht nur die Maßgabe, Völkerrecht nicht zu verletzen, sondern auch „für die deutsche Rechtsordnung zu gewährleisten, dass durch eigene Staatsorgane begangene Völkerrechtsverstöße korrigiert werden können“ (BVerfG, Bodenreform III, Rn. 93). In jenem Urteil betonte das BVerfG außerdem, dass es „unabhängig davon, ob Ansprüche von Einzelpersonen schon kraft Völkerrechts bestehen, geboten sein kann, Völkerrechtsverstöße als subjektive Rechtsverletzungen geltend machen zu können“ (Rn. 80). Dies gälte jedenfalls dann, führte das BVerfG fort, wenn „völkerrechtliche Regelungen einen engen Bezug zu individuellen hochrangigen Rechtsgütern aufweisen“ (im konkreten Fall: das völkerrechtliche Enteignungsrecht). Sicherlich ist das Urteil des BVerfG in Bodenreform III nicht als eine universelle Anweisung zur individuellen Durchsetzbarkeit aller Völkerrechtsnormen zu verstehen. Es ist allerdings auch nicht von der Hand zu weisen, dass dieser Ansatz dem BVerfG entscheidende Determinanten zur Validierung des finalen Ergebnisses geliefert hätte – normativ betrachtet gegebenenfalls in noch weiterem Umfang als die Rechtsvergleichung. In ähnlicher Weise wurde diese Argumentation beispielsweise in einer Entscheidung des OVG Münster zur Rolle der Air Base Ramstein in US-Drohneneinsätzen aufgegriffen (die inzwischen verkündete Revisionsentscheidung des BVerwG ist bisher nur als Pressemitteilung verfügbar).
Des Weiteren kommt auch der EMRK eine potentiell wichtige Rolle zu. Zwar versteht der EGMR den Begriff „Hoheitsgewalt“ in Art. 1 EMRK und damit die Anwendbarkeit der EMRK primär territorial (siehe die Banković-Entscheidung von 2001 als locus classicus). Allerdings lassen sich in seiner Rechtsprechung nunmehr verschiedene Extraterritorialitätstatbestände identifizieren (siehe die Entscheidungen des EGMR in Al-Skeini und andere gegen das Vereinigte Königreich, Jaloud gegen die Niederlande und Hassan gegen das Vereinigte Königreich). Auf dieser Grundlage erscheint eine Anwendung der EMRK im Fall Kunduz auch im Rahmen des EGMR-Ansatzes als möglich, zumal sich Truppen eines EMRK-Staates hier – im Unterschied zu Banković – jedenfalls grundsätzlich in Reichweite vor Ort befanden. Eine Klärung dieser umstrittenen Frage durch den EGMR wird nun möglicherweise gerade die Individualbeschwerde gegen die Einstellung der Ermittlungen im Fall bringen (siehe dazu hier). Für den Fall der Anwendbarkeit der EMRK sind Art. 13 (Recht auf effektive Beschwerde) iVm Art. 2 (Recht auf Leben) EMRK im Auge zu behalten. Art. 13 EMRK garantiert einen effektiven Beschwerdemechanismus, damit Verletzungen von Konventionsrechten geltend gemacht werden können. Nach der Rechtsprechung des EGMR muss dieser bei den zentralen Menschenrechten wie dem Recht auf Leben aus Art. 2 EMRK auch grundsätzlich die Möglichkeit der Entschädigung umfassen (siehe etwa Z und andere gegen des Vereinigte Königreich, Rn. 109). Nimmt man eine Anwendbarkeit der EMRK auf die Bombardierung in Kunduz an, wären Haftungsmöglichkeiten nicht nur verfassungsrechtlich, sondern auch konventionsrechtlich geboten.
Ausblick
Das BVerfG hat in seinem Nichtannahmebeschluss ausdrücklich dargelegt, dass das argumentative Fundament des BGH verfassungs- und insbesondere grundrechtlich zweifelhaft ist. Aber auch rechtspolitisch erscheint ein faktischer Haftungsausschluss à la BGH fragwürdig.
Eine (Amts-)Haftung setzt voraus, dass die engen Tatbestandsvoraussetzungen des § 839 BGB iVm Art. 34 GG gegeben sind. Erforderlich ist die Darlegung einer schuldhaften Amtspflichtverletzung. Diesbezüglich sind hohe Hürden zu überwinden. Weiterhin haftet die BRD nicht für jegliche Schäden, sondern nur für solche, die die Folge der Verletzung einer individualschützenden Norm des humanitären Völkerrechts sind. Das humanitäre Völkerrecht fungiert hier also als (zusätzlicher) Filter. Abgesehen von diesen hohen Voraussetzungen auf materiell-rechtlicher Ebene, sehen sich Opfer von Kampfhandlungen regelmäßig mit fehlendem Zugang zu Informationen, Beweisschwierigkeiten und der grundsätzlich ihnen aufgebürdeten Beweislast konfrontiert (zur Frage, inwieweit dem Staat gegebenenfalls eine sekundäre Darlegungslast aufzuerlegen sei oder sogar eine Beweislastumkehr in Betracht kommt: s. BVerfG im Varvarin-Beschluss). Darüber hinaus sind deutsche Gerichte für durch deutsche Kampfhandlungen im Ausland Geschädigte auch aus finanziellen und praktischen Gründen oft unzugänglich. Zusammenfassend besteht also keineswegs eine Gefahr der uferlosen Haftung wie sie das Urteil des BGH und manche Literaturstimmen explizit in Stellung bringen oder suggerieren. Dies wird nicht zuletzt dadurch deutlich, dass die deutschen Gerichte bisher alle Klagen jedenfalls auf Tatbestandsebene abgewiesen haben.
Im Gegenteil erscheint die Aufrechterhaltung eines intakten Haftungsregimes verfassungspolitisch und völkerrechtspolitisch zentral. Wenn einerseits Menschenrechte und Völkerrechtskonformität hochgehalten werden, andererseits aber ein haftungsrechtliches „Zur-Rechenschaft-Ziehen“ ausgeschlossen wird, bereitet das dem Argument der Doppelmoral den Boden. Die Haftungstüren kategorisch zu verriegeln, läuft auch Gefahr, die legitimen Interessen von Opfern deutscher Militäreinsätze zu negieren. Eine solche Herangehensweise vernachlässigt, dass ein pro-aktiver Umgang mit solchen Fällen nicht nur verfassungsrechtlich geboten ist, sondern auch ein zentrales Moment einer effektiven Durchsetzung individualschützender Normen des humanitären Völkerrechts und des Menschenrechtsschutzes sein kann. Während haftungsrechtliche Klagen – nicht nur wegen der zahlreichen Hürden – für Opfer bewaffneter Konflikte sicherlich kein Allheilmittel darstellen, können sie zumindest ein Instrument sein, um ihnen (rechtliches) Gehör zu verschaffen. Damit das Haftungsregime, das das BVerfG in den Grundrechten verankert sieht, tatsächlich effektiv ist, ist natürlich mehr gefordert, als eine solche Haftungsmöglichkeit lediglich nicht auszuschließen. Über die angesprochenen Fragen der Beweislast hinaus bedarf es schneller unabhängiger Untersuchungen sowie einer Unterstützung der Opfer bei der Geltendmachung ihrer Ansprüche. Zur Frage der substantiellen Anforderungen an effektive Untersuchungen und deren (gerichtliche) Überprüfbarkeit im Fall Kunduz wird der EGMR bald entscheiden.
Dass das BVerfG die erst kürzlich im BND-Urteil bestätigte umfassende und nicht territorial begrenzte Grundrechtsbindung und -geltung nun gewissermaßen haftungsrechtlich absichert und dabei auch Auslandseinsätze der Bundeswehr einschließt, ist zu begrüßen. Gleichzeitig verbleiben Fragen zum grundrechtlichen Schutzumfang in Fällen des Auslandshandelns insbesondere im Rahmen bewaffneter Konflikte sowie zahlreiche Unklarheiten ob der haftungsrechtlichen Konsequenzen potentiell modifizierter grundrechtlicher Schutzgehalte. Nach dem klaren „Ja“ zur Grundrechtsbindung und dem „Ja“ zu ihrer haftungsrechtlichen Effektuierung werden diese Fragen – das ist zu erwarten – die höchstrichterliche Rechtsprechung in Zukunft intensiv beschäftigen. Wir stehen gegenwärtig immer noch am Anfang der rechtsdogmatischen Aufarbeitung des Auslandshandelns deutscher Staatsorgane, gerade auch im Rahmen bewaffneter Konflikte; eine Realität, die weder der Parlamentarische Rat noch der historische Gesetzgeber des BGB vor Augen hatten – und die dennoch verfassungsrechtlich determiniert ist.