06 March 2024

Straflos im Landtag

Wie zeitgemäß ist die Abgeordnetenimmunität?

Einmal angenommen, die AfD bekäme eine absolute Mehrheit im Thüringer Landtag. Und einer ihrer Abgeordneten verharmloste auf einer Parteiveranstaltung den Holocaust. Oder schlüge eine Demonstrantin krankenhausreif. Sofern er nicht bei Begehung der Tat oder im Laufe des folgenden Tages deshalb festgenommen würde, könnte seine Fraktion es zumindest für die Dauer der Legislaturperiode verhindern, dass er dafür zur Verantwortung gezogen würde. Denn nach Art. 55 Absatz 2 Satz 1 der Thüringer Verfassung wäre dafür die Zustimmung des Landtags erforderlich. Dieser Immunitätsschutz offenbart im Lichte einer möglicherweise extremistischen Parlamentsmehrheit einen blinden Fleck. Dieser ließe sich durch ein justiziables Willkürverbot reduzieren, ohne den – auch generell diskutablen – Schutzzweck über Gebühr zu beeinträchtigen.

Dysfunktionaler Anachronismus

Der Schutz der Abgeordnetenimmunität kennt keine sachliche Beschränkung. Er reicht von Beleidigung und Volksverhetzung bis Raub und Mord. Auch laufende Strafverfahren kann der Landtag aussetzen lassen (Art. 55 Abs. 3 Thüringer Verfassung). Das beträfe etwa alle gegen Björn Höcke wegen des Vorwurfs der Volksverhetzung laufenden Verfahren. Solche oder ähnliche Regelungen kennen alle Landesverfassungen sowie das Grundgesetz. Zudem sichern § 152a StPO und § 6 Abs. 2 Nr. 1 EGStPO, dass die Immunität von Landtagsabgeordneten auch für die anderen Bundesländer und den Bund wirksam ist.

Schon lange wird diskutiert, ob die Vorschriften zur Abgeordnetenimmunität anachronistisch sind und reformiert werden sollten (vgl. BVerfGE 104, 310 ff. – Pofalla II, Urt. v. 17.12.2001 – 2 BvE 2/00, Rn. 70 m.w.N.). Das Immunitätsverfahren stammt aus dem Zeitalter der Monarchie und diente dem Zweck, das Parlament zu schützen vor willkürlichen Strafverfahren gegen seine Mitglieder durch eine Exekutive, die ihm gegenüber nicht verantwortlich war. Das ist in einer parlamentarischen Demokratie anders: Die Regierung hängt von der Mehrheit im Parlament ab. Der Schutzzweck von einst besteht nicht mehr im selben Maße.

Willkürliche Strafverfahren sind trotzdem denkbar. Insbesondere sind in Deutschland die Landesjustizministerien gegenüber den Staatsanwaltschaften der Länder und das Bundesjustizministerium gegenüber der Bundesanwaltschaft weisungsbefugt (§ 146 GVG). Die angewiesenen Staatsanwält*innen sind zwar nicht dazu verpflichtet, Weisungen durchzuführen, durch die sie Strafgesetze verletzen würden (§ 36 Abs. 2 Satz 4 der BeamtStG sowie § 63 Abs. 2 Satz 4 BBG); eine willkürliche Strafverfolgung ist als Verfolgung Unschuldiger strafbar (§ 344 StGB). Faktisch ausgeschlossen sind willkürliche Strafverfahren dadurch aber nicht.

Gegen solche Strafverfahren bietet die parlamentarische Immunität nur einen begrenzten Schutz, weil die zur Aufhebung dieses Schutzes notwendige Parlamentsmehrheit grundsätzlich hinter der Regierung steht. Andere Konstellationen sind zwar denkbar (zum Beispiel Koalitionsregierungen mit in diesem Punkt ausscherendem Koalitionspartner oder eine Minderheitsregierung sowie Ermittlungen auf Länderebene, die sich gegen Bundestagsabgeordnete oder gegen Landtagsabgeordnete eines anderen Bundeslandes richten); die Regel sind sie aber nicht. Eine hohe Disziplin der Regierungsfraktion auch für willkürliche Strafverfolgung wäre jedenfalls dann nicht überraschend, wenn eine extremistische Partei die Parlamentsmehrheit und die Regierung stellt oder kontrolliert. Immerhin können Abgeordnete Entscheidungen über die Aufhebung der Immunität anfechten, wenn sich das Parlament von sachfremden, willkürlichen Motiven leiten ließ (Leitentscheidung BVerfGE 104, 310 ff. – Pofalla II, Urt. v. 17.12.2001 – 2 BvE 2/00 – Rn. 67 ff.; diese Frage offenlassend dagegen NWVerfG, Beschl. v. 29. Juli 2005 – 8/05 –, Rn. 11, juris). Doch dieser Rechtsschutz greift eben nur sekundär.

Die Regelungen zur Abgeordnetenimmunität erreichen folglich ihren eigentlichen Schutzzweck nicht (mehr) verlässlich und bergen zugleich das Risiko in sich, dass eine extremistische Parlamentsmehrheit ihre Abgeordneten vor der Verfolgung selbst schwerster Straftaten schützt. Eine Reform liegt entsprechend in doppelter Hinsicht nahe. Der Fokus hier liegt darauf, die Regelungen so anzupassen, dass ein willkürlicher Schutz der Abgeordneten vor Strafverfolgung nicht mehr möglich ist.

Einwände gegen die Reformbedürftigkeit

Gegen die Notwendigkeit einer solchen Reform könnte man einwenden, dass eine extremistische Regierung auch durch entsprechende Weisungen an die Staatsanwaltschaft eine Verfolgung ihrer Abgeordneten (und darüber hinaus von ihren Anhänger*innen) unterbinden könnte. Doch erstens beträfe das nur Verfahren, in denen das Hauptverfahren noch nicht eröffnet bzw. kein Strafbefehl erlassen wurde, denn danach schützt die richterliche Unabhängigkeit den Fortgang des Verfahrens. Zweitens können Staatsanwält*innen rechtswidrige Weisungen zur Einstellung eines Ermittlungsverfahrens verweigern, wenn sie nämlich dadurch z.B. Rechtsbeugung (§ 339 StGB) begingen. Drittens ist es in vielen Fällen möglich, eine Klage und darüber auch einen Antrag zur Aufhebung der Immunität zu erzwingen (§ 172 StPO). Und viertens können weder das Bundesjustizministerium noch die Landesjustizministerien der Staatsanwaltschaft eines (anderen) Bundeslandes Weisungen erteilen.

Ein weiterer Einwand gegen die Lockerung der Abgeordnetenimmunität wäre, dass deren Regelungen verfassungsimmanente Grenzen haben könnten, also von vornherein nicht den hier unterstellten absoluten Geltungsanspruch haben. In der Konstellation etwa, in der die Staatsanwaltschaft einen Mord aus rein politischen Gründen nicht verfolgt, könnte der grundrechtliche Anspruch auf effektive Verfolgung von erheblichen Straftaten gegen höchstpersönliche Rechtsgüter (BVerfG, Beschl. v. 6.10.2014 – 2 BvR 1568/12 –, Rn. 11) die Gründe für die Abgeordnetenimmunität überwiegen. Rechtssystematisch vergleichbare Erwägungen stellte das Bundesverfassungsgericht etwa zum Indemnitätsschutz an: Art. 46 Abs. 1 Satz 1 GG müsse mit dem gleichrangigen Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung gemäß Art. 21 Abs. 2 Satz 1 GG nach dem Grundsatz praktischer Konkordanz in Einklang gebracht werden (BVerfGE 144, 20 ff. – Verbotsverfahren gegen die NPD, Urt. v. 17.01.2017 – 2 BvB 1/13, Rn. 569). Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht den oben erwähnten Anspruch darauf, dass sich das Parlament bei der Entscheidung über die Aufhebung der Immunität nicht von sachfremden, willkürlichen Motiven leiten lässt, (bislang) nur zugunsten der Abgeordneten anerkannt, nicht für den umgekehrten Fall. Zudem hat es dabei betont, dass das Parlament auch bei rechtlich einwandfreien Strafverfolgungsmaßnahmen die Genehmigung mit Rücksicht auf seine Belange verweigern kann und es sich dabei um eine in eigener Verantwortung zu treffende Maßnahme im Rahmen der Parlamentsautonomie handelt (Rn. 72 und 81 der oben zitierten Leitentscheidung). Eine Entscheidung über die Rechtmäßigkeit einer verweigerten Genehmigung herbeizuführen, wäre im Übrigen schwierig, weil das dafür in Betracht kommende Organstreitverfahren regelmäßig am Unwillen der Regierung scheitern wird und eine Klage der Parlamentsminderheit gegen die Mehrheit an der fehlenden Verletzung in eigenen Rechten scheiterten könnte.

Willkürverbot als Brücke zwischen Missbrauchsgefahr und Parlamentsschutz

In den Regelungen zur Abgeordnetenimmunität ruht also ein spezifisches Risiko, das nicht vollständig durch einen entsprechend hohen Gegenwert aufgewogen wird. Daraus könnte Unterschiedliches folgen: Die Regelungen zur Abgeordnetenimmunität (nicht zur Indemnität) könnten ersatzlos gestrichen, Abgeordnete also behandelt werden wie alle anderen Menschen auch. Oder die Regelungen könnten modifiziert werden.

Für eine Abschaffung der Abgeordnetenimmunität streitet ein weiterer Gesichtspunkt, auf den Paul Glauben hingewiesen hat (DÖV 2012, 378 ff.): In der Praxis belastet die Immunität die Abgeordneten häufig mehr als sie schützt, weil auf diese Weise der politische Gegner und die Öffentlichkeit auch von Bagatellvorwürfen Kenntnis erlangen sowie von solchen, die die Staatsanwaltschaften in anderen Fällen mit ersten Ermittlungen rasch als haltlos einstufen könnten. Ähnlich äußerte sich der ehemalige Bundestagspräsident Norbert Lammert: Aufgrund der Publizitätswirkung sei das Immunitätsverfahren in seiner derzeitigen Ausgestaltung mehr Belastung als Privileg und, wie das Beispiel der Niederlande zeige, in einem demokratischen Rechtsstaat nicht zwingend erforderlich.

Gegen eine vollständige Abschaffung spricht indes, dass die Immunitätsregelungen laut dem Bundesverfassungsgericht vornehmlich das Parlament als Ganzes schützen, indem sie sichern, dass das Parlament jederzeit möglichst vollzählig, also dem Willen des Wahlvolks entsprechend, zusammentreten kann. Der Schutz der Repräsentation gibt den Immunitätsregelungen ein eigenes, vom Interesse der Abgeordneten unabhängiges Gewicht, das gegen das Strafverfolgungsbedürfnis abzuwägen ist. Auch weist das Bundesverfassungsgericht zu Recht darauf hin, dass in einem funktionierenden Rechtsstaat mit integrer Regierung willkürliche Strafverfahren nicht ausgeschlossen sind. Aus der jüngeren Vergangenheit kommt als Beispiel die rechtswidrige Durchsuchung von Olaf Scholz‘ Bundesfinanzministerium in den Sinn, die von einem Osnabrücker Staatsanwalt mit CDU-Parteibuch im Vorfeld der Bundestagswahl 2021 ausging.

In diesen Fällen haben die Regelungen zur Abgeordnetenimmunität nach wie vor eine berechtigte Schutzfunktion. Oben wurden auch bereits weitere Konstellation genannt, in denen eine Regierung ein willkürliches Strafverfahren gegen oppositionelle Abgeordnete betreibt und sich zur Aufhebung von deren Immunität nicht auf die Parlamentsmehrheit stützen kann.

Deswegen sollte der (Landes-/Bundes-) Gesetzgeber die Regelungen zur Abgeordnetenimmunität zwar nicht abschaffen, aber anpassen und das Risiko eines willkürlichen Schutzes der Abgeordneten vor der Verfolgung selbst schwerster Verbrechen reduzieren.

Den sachlichen Anwendungsbereich der Abgeordnetenimmunität zu begrenzen, ist dazu ungeeignet. Nicht sinnvoll wäre es insbesondere, von der Abgeordnetenimmunität bestimmte schwere Straftaten auszuschließen. Denn gerade der (unbegründete) Vorwurf einer solchen schweren Straftat ist besonders dazu geeignet, die Arbeitsfähigkeit des Parlaments zu beeinträchtigen. Für sich genommen nicht weiterhelfen würde es auch, dem Parlament eine „willkürliche“ Entscheidung über den Antrag zur Aufhebung der Immunität sowohl zu seinen Gunsten als auch zu seinen Lasten zu untersagen. Denn wie bereits dargelegt, gäbe es im ersteren Fall zumindest faktisch kein klares Verfahren, in dem diese Voraussetzung überprüft werden könnte.

Notwendig wäre es deshalb, ein klares Willkürverbot zu etablieren und einer Überprüfung zugänglich zu machen. Antragsberechtigt könnte eine Minderheit des Parlaments sein, zum Beispiel ein Drittel der Abgeordneten; denkbar wäre es auch, den Opfern einer Straftat eine Antragsberechtigung zuzugestehen. Zur Überprüfung allein befugt sein sollten die Verfassungsgerichte der Länder bzw. das Bundesverfassungsgericht. Das wäre auch nicht völlig ungewöhnlich oder gar ein Bruch mit dem Prinzip der Gewaltenteilung und der Autonomie des Parlaments, weil zumindest das Bundesverfassungsgericht bereits die oben erwähnte Willkürkontrolle durchführt.

Darüber hinaus wäre zu überlegen, wie man im Falle einer willkürlichen Verweigerung der Immunitätsaufhebung in einem einzelnen Landesparlament auch dem öffentlichen Interesse an der Strafverfolgung in den übrigen Bundesländern Rechnung tragen kann. Hierzu könnte – ähnlich wie auch bei der Grundrechtsverwirkung (§ 36 BVerfGG) – den Landesregierungen ein entsprechendes Antragsrecht eingeräumt werden; wenngleich zuzugestehen ist, dass entsprechende Regelungen in den Landesverfassungen ungewöhnlich wären. In Betracht käme auch eine Änderung des § 152a StPO zu dem Zweck, es den Staatsanwaltschaften eines Bundeslands im Falle der willkürlichen Nichtverfolgung von straffälligen Abgeordneten in anderen Bundesländern zu ermöglichen, die Entscheidung über die Nichtaufhebung der Immunität überprüfen zu lassen. Möglich wäre es zudem, die Überprüfung des Willkürverbots bei der Entscheidung über die Aufhebung der Immunität auf bestimmte schwere Straftaten zu begrenzen. Das würde das Repräsentationsprinzip gegenüber dem Legalitätsprinzip stärker gewichten und auch dazu führen, dass es seltener zu Gerichtsverfahren über Fragen der Immunitätsaufhebung käme.

Vor dem Hintergrund, dass Mitglieder der AfD möglicherweise bald in mehreren Landtagen die stärkste Fraktion stellen, dass sie auffällig oft straffällig werden und – in Person von Björn Höcke – Ermittlungen wegen Volksverhetzung als „Justizkeule gegen Dissidenten“ zu reframen versuchen, erlangt die Debatte um die parlamentarische Immunität eine neue Brisanz. Die hier vorgeschlagenen Anpassungen der Immunitätsregelungen könnten das Risiko eines Missbrauchs durch eine extremistische Mehrheit reduzieren. Sie wären indes in vielen Fällen nichts wert, wenn nicht auch dem Begnadigungsrecht des Ministerpräsidenten Grenzen gezogen würden.


SUGGESTED CITATION  Britz, Thomas; Moini, Bijan: Straflos im Landtag: Wie zeitgemäß ist die Abgeordnetenimmunität?, VerfBlog, 2024/3/06, https://verfassungsblog.de/straflos-im-landtag/, DOI: 10.59704/0bcc940bf98ef1ac.

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