08 March 2018

Todesstoß für autonome Investitionsschutzgerichte

Öffentliche Diskussionen sind kurzlebig: So schaute ganz Europa im Oktober 2016 gebannt auf das wallonische Regionalparlament, als dieses das CETA-Freihandelsabkommen mit Kanada zu blockieren drohte. Gegenwärtig besitzt der Freihandel auf unserem Kontinent mehr Freunde, was auch daran liegt, dass Donald Trump mit Schutzzöllen droht und wenig Europäer gerne dieselbe Politik verfolgen wie der US-Präsident. Mindestens ebenso wichtig wie Strafzölle auf europäischen Stahl oder amerikanischen Whisky bleibt freilich die Strukturfrage der Schiedsgerichtsbarkeit, die im Zentrum vieler Debatten um CETA und TTIP steht. Hier dürfte das jüngste EuGH-Urteil im Achmea-Verfahren sehr viel weitreichendere Folgen haben, als dies die deutsche Öffentlichkeit bislang realisierte.

Im Zentrum der Medien stand die innereuropäische Schiedsgerichtsbarkeit, um die sich der Sachverhalt drehte. Wenig überzeugend ist es jedoch, wenn die SZ einen geschätzten Kollegen zitiert, wonach Drittstaatsverträge „vorerst“ nicht betroffen seien, und die FAZ auf einen „mit den Vorgängen vertrauten Anwalt“ verweist, wonach der EuGH sich nicht über Verträge stellen könne, die die EU mit Drittstaaten geschlossen habe. Dies ist in dieser Pauschalität schlicht falsch und übersieht, dass der EuGH im Achmea-Urteil bewusst allgemeine Aussagen traf – und damit eine Lücke schloss, die er im Gutachten zum Freihandelsabkommen mit Singapur noch ausdrücklich offen gelassen hatte, als es hieß, dass er damals „nicht zu prüfen (habe), ob die … Streitbeilegungsregelung die in (der bisherigen Rechtsprechung) aufgestellten Kriterien, wie z. B. das Kriterium der Wahrung der Autonomie des Unionsrechts, erfüllt“ (Rn. 301). Die Antwort wird nun geliefert und sie heißt nicht zum ersten Mal: Autonomie über alles.

Luxemburg als Serientäter: Kontrolle von EU-Drittstaatsverträgen

Für die Europäische Union ist das Recht nicht nur ein Instrument, um politische Ziele durchzusetzen, sondern die Grundlage ihrer Existenz und eine wesentliche Erfolgsvoraussetzung. Defizite bei der Rechtsintegration sind daher für die EU-Organe besonders sensibel, was sich bei der Währungsunion und beim Asylsystem ebenso zeigt wie aktuell bei Polen. Wenn die Rechtsgemeinschaft stottert, droht Europa zu scheitern, und so überrascht es nicht, dass der EuGH traditionell der praktischen Wirksamkeit des Unionsrechts eine zentrale Rolle beimisst. Dies mag immer einem Eigeninteresse entspringen, weil der EuGH richterliche Konkurrenz klein hält, aber die Verteidigung der Autonomie ist mehr als richterlicher Egoismus: Sie schützt mit der Rechtsgemeinschaft die EU selbst.

Tatsächlich wendete sich der EuGH im Achmea-Urteil nicht zum ersten Mal gegen eine (quasi-)gerichtliche Konkurrenz im Völkerrecht. Berüchtigt ist seine Weigerung aus dem Jahr 2014, den EMRK-Beitritt vorerst zu verweigern, obgleich die EU-Verträge dieses Ziel direkt vorgaben. Schon damals ging es vorrangig um den Autonomieschutz, der auch das Achmea-Urteil durchzieht, das das EMRK-Gutachten bei der Maßstabsbildung in nahezu jeder Randnummer zitiert (Rn. 32-37). Doch Straßburg ist nicht das einzige „Opfer“ unter der internationalen Gerichtsbarkeit, die Luxemburg klein stutzte. Der erste EWR-Übereinkommensentwurf mit verschiedenen Drittstaaten wurde ebenso für vertragswidrig erklärt wie die Blaupause für eine europäische Patentgerichtsbarkeit.

Dogmatische Grundlage dieser Kontrolle völkerrechtlicher Verträge ist die von Art. 218 Abs. 11 AEUV bestätigte Annahme, dass den EU-Verträgen ein höherer Rang zukommt, der das Fazit eines Vertragsverstoßes zu rechtfertigen vermag. Dies gilt selbst für den UN-Sicherheitsrat, denn „die Verpflichtungen aufgrund einer internationalen Übereinkunft (können) nicht die Verfassungsgrundsätze (der EU-Verträge) beeinträchtigen“ (Rn. 285). Im Idealfall wird eine solche Vertragswidrigkeit völkerrechtlicher Abkommen im Rahmen des Gutachtenverfahrens im Vorfeld ausgeräumt, doch im Zweifel verbietet der EuGH die innereuropäische Anwendung auch nach dem Inkrafttreten, so wie jüngst im Achmea-Urteil.

Schutz der Autonomie des Unionsrechts

Unter dem Begriff der „Autonomie“ fasst der Gerichtshof die zentralen Charaktereigenschaften des Unionsrechts zusammen, die er nunmehr, in der deutschen Sprachfassung etwas schwerfällig, mit der „Verfassungsstruktur der Union sowie (dem) Wesen dieses Rechts selbst“ bezeichnet, wozu ganz konkret das „strukturierte Netz von miteinander verflochtenen Grundsätzen, Regeln und Rechtsbeziehungen“ gehört, die die unmittelbare Anwendung und den Vorrang ebenso umfassen wie das Rechtsschutzsystem mit EuGH, nationalen Gerichten und Vorabentscheidungsverfahren (Rn. 33-37). Dies klingt abstrakt und kann letztlich nur vor dem erwähnten Hintergrund der schicksalshaften Bedeutung der Rechtsgemeinschaft für die EU-Integration verstanden werden. Es geht dem Gerichtshof in anderen Worten nicht um dogmatische Feinheiten, sondern um eine Grundsatzfrage – und hier besteht wenig Raum für Kompromisse.

Nicht nur die Obersätze des Achmea-Urteils sind verallgemeinerungsfähig, auch die Aussagen zum slowakisch-niederländischen Investitionsschutzabkommen (BIT) sind bewusst so allgemein gehalten (Rn. 39-59), dass man sie schwerlich als Sonderjudikatur für innereuropäische Schiedsgerichte kleinreden kann. Die Entscheidung gilt prinzipiell ebenso für Drittstaatsabkommen, zumal der EuGH mehrfach frühere Entscheidungen zitiert, die eben solche Verträge für vertragswidrig erklärt hatten. Tatsächlich scheinen die tragenden Erwägungen des jüngsten Urteils ohne weitere Umstände auch ein herkömmliches Investitionsschiedsgericht nach dem Modell des CETA-Abkommens zu erfassen. Gewiss könnte der EuGH diese doch noch anders bewerten, aber auf den ersten Blick legt das Achmea-Urteil der Großen Kammer nahe, dass das CETA-Gericht aus vier Gründen in der bisher geplanten Form eine europarechtliche Totgeburt bleiben dürfte.

Erstens wird es das CETA-Gericht nicht retten, dass dieses nur das CETA-Abkommen sowie sonstiges Völkerrecht anwendet und das innerstaatliche Recht ansonsten so ausgelegt, wie es nationale Gerichte handhaben (Artikel 8.31). Das Achmea-Urteil beruht nämlich auf der Annahme, dass selbst eine dementsprechende Interpretation des Artikels 8 BIT nichts daran änderte, dass das Schiedsgericht mittelbar auch über innerstaatliches Recht befindet (Rn. 40-42), liegt doch der Clou eines Investitionsschutzschiedsgerichts gerade darin, dass Unternehmen sich dort über belastende innerstaatliche Rechtsänderungen oder Praktiken beschweren.

Zweitens betraf der innereuropäische Streit um den privatisierten slowakischen Krankenversicherungsmarkt mit der Niederlassung- und Kapitalverkehrsfreiheit zwei grundlegende Binnenmarktgarantien, ohne dass den generellen Aussagen des EuGH zur Autonomie des gesamten Unionsrechts zu entnehmen wäre, dass es ihm nur um die Grundfreiheiten ginge (Rn. 41, 33). Der Autonomieschutz erfasst das gesamte primäre und sekundäre Unionsrecht, das heute aufgrund zahlreicher Richtlinien und Verordnungen bekanntlich sehr viele wirtschaftliche Sachverhalte erfasst, die keinen grenzüberschreitenden Bezug im Binnenmarkt besitzen.

Drittens darf auch das CETA-Schiedsgericht keine Vorlagefragen an den EuGH richten und unterliegt damit derselben Beschränkung wie das streitgegenständliche Schiedsgericht im Achmea-Urteil. Zwar hätte der EuGH letzteres mit etwas Goodwill als vorlageberechtigt einstufen können (Rn. 43-49), aber diesen Schritt ging er bewusst nicht. Anstatt Schiedsgerichte in das EU-Rechtsschutzsystem einzubinden, schließt er diese aus und schafft damit die Grundlage für deren dauerhaftes Verbot.

Viertens verbleibt ein endgültiger Urteilsspruch des CETA-Schiedsgerichts keine zwischenstaatliche Angelegenheit, die – wie im Rahmen der WTO – auf diplomatischem Wege beizulegen wäre. Endgültige CETA-Urteilssprüche sind für die Streitparteien bindend und müssen nach nationalem Recht vollstreckt werden (Artikel 8.39, 8.41), ohne dass eine erneute Überprüfung anhand des Unionsrechts angedacht wäre. Eben dies erachtete der EuGH freilich für unzureichend (Rn. 50-53).

Folgewirkungen für die (Schieds-)Gerichtsbarkeit

Zentrales Anliegen des EuGH ist es, den Investitionsschutz weiterhin der EU-Gerichtsbarkeit zu unterstellen. Deshalb wendet er sich gegen eine generelle Sondergerichtsbarkeit für Investoren, betonte jedoch zugleich, dass inner- und zwischenstaatlich (Schieds-)Gerichte sehr wohl zulässig bleiben. Dies gilt zum einen für die privatautonome Entscheidung einzelner Unternehmen, ihre Streitigkeiten anstatt durch staatliche Gerichte durch private Schiedsgerichte beilegen zu lassen, was in gewissen Grenzen möglich bleibt (Rn. 54 f.). Zum anderen bekräftigte der Gerichtshof erneut, dass er internationale (Schieds-)Gerichte zu akzeptieren bereit ist, solange deren Struktur die Autonomie des Unionsrechts achtet.

Unproblematisch ist hiernach etwa die WTO-Streitbeilegung, gerade weil diese keine unmittelbaren Rechte und Pflichten für einzelne Unternehmen begründet. Wenn Donald Trump alsbald Schutzzölle gegen europäisches Aluminium verhängt und die EU mit Gegenzöllen repliziert, bleibt dies ein intergouvernementaler Streit. Selbst wenn das WTO-Panel befindet, dass etwa die EU-Subventionen für Airbus völkerrechtswidrig sind, kann Boeing diesen Schiedsspruch nicht innerstaatlich vollstrecken. Die Autonomie des Unionsrechts, das der EuGH, sprachlich erneut wenig elegant, „sowohl als Teil des in jedem Mitgliedstaat geltenden Rechts als auch als einem internationalen Abkommen zwischen den Mitgliedstaaten entsprungen anzusehen“ ansieht (Rn. 41), wird hierdurch nicht gefährdet.

Nun könnte man erwägen, den Investitionsschutz durch Schiedsgerichte dadurch zu retten, deren Ergebnis der Kontrolle durch nationale Gerichte zu unterstellen und diesem damit die bisherige Autonomie zu nehmen, etwa indem vor der Vollstreckung nicht nur die interne Richtigkeit des Schiedsspruchs sowie die enge Ausnahmeklausel des ordre public geprüft werden (§ 1059 Abs. 2 ZPO). Wenn hierbei eine vollumfängliche Prüfung des gesamten primären und sekundären Unionsrechts stattfände und das zuständige Gericht gegebenenfalls auch den EuGH anrufen könnte, dürften die Bedenken des Achmea-Urteils ausgeräumt sein. Doch in der Sache entleerte dies den (umstrittenen) Sinn und Zweck des völkerrechtlichen Investitionsschutzes, der doch gerade eine unabhängige Kontrolle gewährleisten soll: durch eine außerstaatliche Instanz, die nicht dem nationalen Recht unterworfen ist, das zu überprüfen gerade ihre Aufgabe ist.

Hierbei geht es keineswegs nur um Verträge, die die Mitgliedstaaten untereinander oder mit Drittstaaten geschlossen haben. Auch Verträge, die die EU selbst schloss, wie das CETA-Übereinkommen oder der Energiecharta-Vertrag, aufgrund dessen aktuell Vattenfall gegen die Bundesrepublik klagt, besitzen nämlich keinen generellen Vorrang vor dem materiellen Unionsrecht, dessen Autonomie der EuGH schützt. Daraus folgt ganz konkret, dass ein Widerspruch etwa zwischen einer EU-Richtlinie und den Investitionsschutzbestimmungen eines Drittstaatsvertrags nicht notwendig zugunsten des Letzteren aufgelöst wird. Ein Vorrang des Völkerrechts vor EU-Binnenrecht besteht nach der ständigen EuGH-Rechtsprechung nur dann, wenn der internationale Vertrag seiner Struktur nach unmittelbar anwendbar ist, was speziell bei Handelsverträgen selten der Fall ist.

So besitzt etwa in der autonomen EU-Rechtsordnung eine jede Richtlinie einen höheren Rang als das WTO Recht – und im Fall von CETA ist die unmittelbare Anwendung nach Artikel 30.6 sogar ausdrücklich ausgeschlossen, wie ich bereits auf dem Verfassungsblog darlegte (die Energiecharta wird man näher prüfen müssen). Dies klingt professoral, besitzt jedoch greifbare Konsequenzen: Während die Schiedsgerichtsentscheidungen sich allein auf das Völkerrecht stützen, bewirkte eine vollumfängliche Kontrolle anhand des gesamten Unionsrecht, dass im Zweifel das Sekundärrecht „gewinnt“. Gerade bei Handelsverträgen, die nicht unmittelbar anwendbar sind, ist der demokratische Treaty Override in der EU eine reale Option. Darüber kann man gewiss streiten, aber es ist ständige Rechtsprechung.

Meine Prognose für CETA und TTIP ist daher, dass ein Gutachtenantrag nach Art. 218 Abs. 11 AEUV die Investitionsschutzklauseln zu Fall bringen wird, da diese auch das EU-Binnenrecht betreffen. Bei bestehenden Investitionsschutzverträgen muss man im Einzelfall prüfen, ob das Unionsrecht betroffen ist und damit dessen Anwendungsvorrang greift. Bei innereuropäischen Sachverhalten wird dies schon wegen der Binnenmarktfreiheiten regelmäßig der Fall sein, doch bei den über 100 deutschen Drittstaatsverträgen wird das Ergebnis ambivalenter sein. Wenn etwa ein deutsches Unternehmen gegen eine Enteignung in Pakistan oder Algerien vorgeht, dürfte nur in wenigen Fällen die Autonomie des Unionsrechts betroffen sein. Das Ergebnis wäre neo-imperial: Innerhalb der EU setzt sich im Zweifel das demokratisch gesetzte Sekundärrecht durch, doch im Ausland können sich europäische Unternehmen aufgrund von Altverträgen weiterhin auf das Völkerrecht berufen. Doch mittelfristig dürfte auch damit Schluss sein. Luxemburg zwingt den Investitionsschutz zum Neuanfang.