Verfassungsrichter in der Defensive
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zum Staatsanleihekaufprogramm der Europäischen Zentralbank (EZB) war wie ein Donnerschlag. Es veranlasste nicht nur die europäischen Institutionen zum offen kommunizierten Widerstand, sondern es traf auch auf harte Kritik in Politik und Wissenschaft. Vor diesem Hintergrund ist es nicht unverständlich, dass sich zwei der verantwortlichen Richter herausgefordert fühlten, dieser Kritik entgegenzutreten: Verfassungsrichter Peter Huber, Berichterstatter in diesem Verfahren, äußerte sich zuerst in der Süddeutschen und der FAZ, gefolgt von dem ehemaligen Gerichtspräsidenten Andreas Voßkuhle, welcher der Zeit ein Interview gab. Der Gerichtspräsident des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), Koen Lenaerts, meldete sich daraufhin in der niederländischen Presse zu Wort. Diese Reaktionen sind nicht nur rechtlich problematisch, sie drohen auch genau das zu verspielen, was die Richter zu bewahren suchen: das öffentliche Vertrauen und ihre Autorität.
Anhand welchen Maßstabs sind die richterlichen Äußerungen zu bewerten?
Um die verfassungsrichterlichen Aussagen rechtlich bewerten zu können, muss zunächst geklärt werden, welcher Maßstab hier anwendbar ist. Äußern sich Richter persönlich, handeln sie im Rahmen ihrer Meinungsfreiheit, die jedoch nur insoweit geschützt ist, als sie mit der Pflicht aus § 39 des Deutschen Richtergesetzes (DRiG) zur Zurückhaltung und Mäßigung vereinbar ist. Äußern sich Richter als Amtswalter im Rahmen ihrer Funktionswahrnehmung, sind sie an die für die staatliche Informations- und Öffentlichkeitsarbeit geltenden Grundsätze gebunden.
Aus der Perspektive eines „unbefangenen Lesers“ (vgl. BVerwGE 104, 323) liegt der Schwerpunkt der Aussagen bei letzterem: Anlass der Interviews ist augenscheinlich das EZB-Urteil des BVerfG, welches die Richter auch besprechen. Beide Interviews nehmen entweder im Titel oder einleitend Bezug auf die Amtsstellung der Richter und keiner der beiden Richter gibt an, sich lediglich persönlich zu äußern.
Grund, Inhalt und Grenzen verfassungsgerichtlicher Öffentlichkeitsarbeit
Dass Gerichte Öffentlichkeitsarbeit betreiben, ist an sich weder unzulässig noch ungewöhnlich. Im Gegenteil: Die Dritte Gewalt unterliegt dem verfassungsimmanenten Auftrag, den Bürgerinnen und Bürgern nachvollziehbar zu kommunizieren, wie sie ihre Staatsgewalt ausübt (1.). Die Bundesverfassungsrichter können hier auch als Einzelpersonen tätig werden (2.). Einzelne Aussagen der Richter treffen allerdings auf rechtliche Bedenken (3.).
1) Verfassungsimmanenter Auftrag zur Öffentlichkeitsarbeit der Dritten Gewalt
Als eigenständige Staatsgewalt hat die Justiz die Aufgabe, den Bürgerinnen und Bürgern ihre Rechtsprechung zu vermitteln und verständlich zu machen. Die Öffentlichkeitsarbeit kann somit als Annexfunktion zur Rechtsprechung begriffen und verfassungsrechtlich legitimiert werden.
Schon das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) hatte die Veröffentlichungspflicht von Gerichtsurteilen damit begründet, dass die Bürgerinnen und Bürger auch in Bezug auf die Rechtsprechung in die Lage versetzt werden müssen, diese und ihre Wirkung zu verstehen, beurteilen und kritisch begleiten zu können (BVerwGE 104, 105). Sie werden dadurch befähigt, die Qualität der Gesetze zu bewerten und über den Meinungsbildungsprozess den Gesetzgeber zum Einschreiten zu motivieren, falls eine Rechtsprechung nicht als sachgerechte Lösung gesellschaftlicher Probleme betrachtet wird. Damit wird der Grundkonsens im demokratischen Staat stets aktualisiert und lebendig gehalten. Die Zugänglichkeit der Gerichtsurteile, die Verfahrensöffentlichkeit und die presserechtlichen Auskunftsansprüche allein reichen für diese Zwecke nicht aus, zumal Gerichtsurteile – wie auch die Gesetze (BVerfGE 44, 125) – sehr technisch und für den Laien darum wenig verständlich formuliert sind. Die Justiz muss darum durch zusätzliche Kommunikation versuchen, das öffentliche Verständnis für die Rechtsprechung zu fördern.
Die Autorität der Gerichte verlangt ebenfalls, dass diese Öffentlichkeitsarbeit betreiben können. Für einen Rechtsstaat ist die gerichtliche Autorität essentiell, haben die Gerichte doch selbst keine Mittel, um ihre Richtersprüche durchzusetzen. Die gerichtliche Autorität stützt sich auf das Vertrauen der Bevölkerung. Die Expertise und Gesetzesbindung des Richters sowie die Möglichkeit, die Rechtsprechung über den politischen Prozess „kontrollieren“ zu können, sorgen für dieses öffentliche Vertrauen. Auf lange Sicht kann das Vertrauen jedoch leiden, wenn einzelne Entscheidungen nicht verstanden werden und deshalb keine gesellschaftliche Akzeptanz finden.
Das BVerfG ist vor diesem Hintergrund in besonderem Maße zur Öffentlichkeitsarbeit berufen. Seine Tätigkeit ist nicht nur stark öffentlichkeitsbezogen und von erheblicher politischer und gesellschaftlicher Relevanz. Durch sein Verwerfungsmonopol für formelle (Bundes-)Gesetze ist es der Einwirkung der Legislative auch weitgehend entzogen. Die Öffentlichkeit kann sich für die Durchsetzung des zuvor gebildeten politischen Grundkonsenses also nicht auf die Gesetzesbindung der Richter verlassen. Umso wichtiger ist es, dass Bürgerinnen und Bürger nach einer Entscheidung des Gerichts befähigt werden, an der demokratischen Willensbildung mitwirken und so zur Bewältigung vorhandener Probleme beitragen zu können. Die Autorität des BVerfG hängt damit vor allem von der Überzeugungskraft seiner Argumente und deren öffentlicher Vermittlung ab.
2) Eine Rolle für den einzelnen Richter?
Die Öffentlichkeitsarbeit ist dem informalen Handeln der Dritten Gewalt zuzuordnen. Gesetzliche Leitlinien, wie gerichtliche Öffentlichkeitsarbeit zu gestalten ist, fehlen daher. Ob einzelne Richter rechtmäßiger Weise Öffentlichkeitsarbeit betreiben dürfen, ist eine Frage der Organkompetenz und fällt damit in die Selbstorganisation des jeweiligen Gerichts. Am BVerfG gibt es zwar Pressesprecher; die Verfassungsrichter haben sich allerdings mit ihrem Verhaltenskodex selbst die Aufgabe auferlegt, die Stellung und Funktionsweise des Gerichts sowie seine Rechtsprechung zu vermitteln (Abschnitt I Nr. 2).
3) Inhalt und Grenzen der verfassungsgerichtlichen Öffentlichkeitsarbeit
Die Verfassungsrichter haben laut Verhaltenskodex die Aufgabe, die Rechtsprechung des Gerichts zu vermitteln, das heißt, sie zu erklären, zu erläutern und zu kontextualisieren. Dies beschreibt den Inhalt einer zulässigen verfassungsgerichtlichen Öffentlichkeitsarbeit, die sich an ihrer demokratischen und rechtsstaatlichen Funktion ausrichtet. Beschränken sich die Verfassungsrichter darauf, ihre Rechtsprechung zu vermitteln, laufen sie auch nicht Gefahr, die Debatte über ihre Entscheidungen mit wertenden Stellungnahmen zu beeinflussen. Wie eine Entscheidung des BVerfG bewertet wird, hängt maßgeblich von ihren politischen und gesellschaftlichen Folgen ab, und sollte darum dem demokratischen Willensbildungsprozess überlassen werden. Beteiligen sich die Verfassungsrichter an diesem Diskurs, die aufgrund der Autorität ihres Amtes nicht unerheblich auf die öffentliche Willensbildung einwirken können, wäre die vom Volk ausgehende Willensbildung (vgl. BVerfGE 138, 102) beeinträchtigt.
Daneben sind die Richter bei ihrer Öffentlichkeitsarbeit auch an die allgemeinen Grenzen staatlicher Öffentlichkeitsarbeit – insbesondere die Grundrechte – und die spezifischen Grenzen für ihre als Annexfunktion zur Rechtsprechung ausgeübten Öffentlichkeitsarbeit – darunter ihre Unabhängigkeit und die Gewaltenteilung – gebunden. Insofern gilt für ihre Öffentlichkeitsarbeit nichts anderes als für ihre richterlichen Entscheidungen: Sie muss das öffentliche Vertrauen in die innere Neutralität, Distanz und Unparteilichkeit des Richters (vgl. BVerwGE 78, 216) bewahren, hat also vor allem von Elementen der persönlichen Stellungnahme frei zu sein, sollte nicht für die Rechtsprechung werben oder suggerieren, dass diese an den Interessen der Wähler ausgerichtet ist, und sie darf nicht ohne entsprechende Kompetenzzuweisung in den Funktions- bzw. Kernbereich einer anderen Gewalt eingreifen (vgl. BVerfGE 95, 1).
Mit ihren Interviews halten die Richter Voßkuhle und Huber weder Inhalt noch Grenzen der verfassungsgerichtlichen Öffentlichkeitsarbeit ein. Sie verfehlen somit ihr Ziel, die Akzeptanz des Urteils und das öffentliche Vertrauen zu stärken und damit die Autorität des Gerichts zu schützen.
Beide Richter bezeichnen das Urteil als „zwingend“ und schließen damit die Validität jeder anderen Sichtweise aus. Voßkuhle meint, „für Europa eine gute Entscheidung“ getroffen zu haben. Unter derselben Prämisse drückt Huber sein Erstaunen über die „Einseitigkeit“ und den „eifernden“ Ton der Kritik aus. Dem EuGH wirft er vor, sich dem Prozess des dialektischen Lernens zu verweigern. Aus dieser Zusammenschau entsteht der Eindruck, dass die Richter meinen, es gebe nur diese einzig richtige Entscheidung. Damit verengen sie den demokratischen Diskurs, statt ihn zu fördern. Zwar scheint zumindest Voßkuhle einen erklärenden Ansatz wählen zu wollen. Aufgrund der engen zeitlichen Nähe zur Urteilsverkündung entsteht jedoch der Eindruck, dass er den Richterspruch rechtfertigen möchte.
Mit seinen warnenden Worten an die deutsche Politik, nicht „als Sanktion die Kompetenzen des BVerfG“ zu beschneiden – was zwischen den Zeilen heißt: nicht den Vorrang des Unionsrechts und damit die Letztentscheidungskompetenz des EuGH in der Verfassung zu verankern – überschreitet Huber außerdem die Grenzen einer funktionsadäquaten, die Gewaltenteilung wahrenden Öffentlichkeitsarbeit. Huber schließt damit eine konkrete politische Handlungsoption von vornherein aus Verfassungsgründen aus und gibt so indirekt eine politische Handlungsanweisung. Er äußert sich proaktiv zu einer Rechtsfrage, die sich für das Gericht überhaupt noch nicht stellte, und überschreitet damit die dem Amt in Abgrenzung zu den politischen Gewalten innewohnende Passivität.
Die Ergänzung Hubers, dass die Ewigkeitsgarantie ein solches politisches Handeln verbiete und Deutschland andernfalls den eigenen Rechtsstaatlichkeitsanforderungen nicht genüge sowie in die Nähe von Polen und Ungarn rücke, gefährdet schließlich auch das öffentliche Vertrauen in seine Unabhängigkeit. Hubers Worte suggerieren, dass er in dieser Rechtsfrage innerlich bereits festgelegt ist. Damit dürften Zweifel an seiner Unbefangenheit gerechtfertigt sein, sollte diese Frage vor seinen Senat kommen.
Es ist nicht das erste Mal, dass Koen Lenaerts mit der Presse über die Rolle des EuGH spricht, außergewöhnlich ist allerdings der Anlass: ein mitgliedstaatliches Urteil. Das Urteil selbst kommentiert er nicht. Er betont aber, dass der EuGH in der europäischen Rechtsordnung das letzte Worte habe, und stellt klar, dass das Urteil des BVerfG für die Rechtsgültigkeit des von diesem „verworfenen“ EuGH-Urteils keine Bewandtnis habe. Damit bewertet auch er bereits die Rechtsfrage der Letztentscheidungskompetenz, die sein Gerichtshof möglicherweise erst noch – nach einem Vertragsverletzungsverfahren – zu entscheiden hat. Freilich wird diese Stellungnahme kaum jemanden überraschen, entspricht sie doch der bisherigen Position des EuGH. Einen unabhängigen Richter zeichnet es jedoch gerade aus, dass er stets den Einzelfall betrachtet (vgl. Art. 19 Abs. 2 EUV). Das heißt aber auch, dass er dafür offenbleibt, im konkreten Fall von seiner Rechtsprechungslinie eine Ausnahme zu machen oder diese gar zu ändern.
Ausblick
Weitaus problematischer als der – wohl verfehlte – Versuch, des eigenen Urteils zu verteidigen, ist der Eindruck, den die Reaktionen der beiden Verfassungsrichter und die des EuGH-Gerichtspräsidenten hinterlassen. Sie suggerieren, dass die Gerichte des europäischen Verfassungsgerichtsverbundes, die aufgrund der Tragweite ihrer Entscheidungen stärker in den politischen Fokus geraten, verstärkt auf öffentlichen Zuspruch für ihre Entscheidungen hinwirken müssen. Genau dies steht aber im Widerspruch zu einer unabhängigen Gewalt, die der Öffentlichkeit gerade nicht direkt demokratisch verantwortlich ist. Damit gefährden die Richter nicht nur die Legitimität der eigenen Institution, sondern sie drohen mit den damit verbundenen Angriffen auf die Autorität des jeweils anderen Gerichts den europäischen Verfassungsgerichtsverbund insgesamt zu schwächen.
Ein interessanter Ansatz, sich rechtlich der Debatte über das Urteil des BVerfG anzunähern. Die Ableitung der rechtlichen Grenzen von öffentlichen Äußerungen von Richtern insbesondere des BVerfG erscheint auf den ersten Blick plausibel. Die Subsumtion der Äußerungen der Richter Voßkuhle und Huber unter dieses Regelwerk allerdings überzeugt nicht. Die Äußerungen beider Richter halten sich in den vorgetragenen rechtlichen Grenzen.
Wenn beide Richter das Urteil als „zwingend“ bezeichnen, überschreiten sie keine rechtlichen Grenzen. Dass sie selbst von ihrem eigenen Urteil überzeugt sind, liegt in der Natur der Sache und kann keinen rechtlichen Vorwurf begründen. Die Unterstellung der Autorin, dass die Richter meinen, es gäbe nur eine einzige „richtige“ Entscheidung, ist eine Zuschreibung, die einer verständigen Interpretation der Äußerungen nicht entspricht. Die Richter erläutern den Hintergrund und die Geschichte ihrer Entscheidung und ordnen sie ein. Selbst wenn die Entscheidung „falsch“ wäre, wären die Äußerungen, die die Richter zur Erläuterung treffen, damit nicht außerhalb der Grenzen dessen, was sie als Amtswalter sagen dürften.
Den Hinweis des Richters Huber, er warne die deutsche Politik, nicht als Sanktion die Kompetenzen des BVerfG zu beschneiden, interpretiert die Autorin mit den Worten, zwischen den Zeilen heiße das, Huber wolle das Letztentscheidungsrecht des EuGH in Frage stellen. Nun, die Entscheidung des BVerfG tut das aber in der Tat. Der Richter überschreitet keine rechtlichen Grenzen, wenn er dies erläutert. Denn offenkundig ist der Satz, Europarecht habe Vorrang, nur in der Regel zutreffend. Er gilt in Deutschland dann nicht, wenn Organe der EU „ultra-vires“ handeln, also die Kompetenzbegrenzungen des primären EU-Rechts offenkundig verlassen. Dies gilt nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG, also auch dann, wenn im konkreten Fall diese Entscheidung unzutreffend sein sollte.
Die rechtlichen Grenzen der Kompetenz, Entscheidungen zu