06 April 2020

Vom Niedergang grundrechtlicher Denkkategorien in der Corona-Pandemie

Wir beklagen zurzeit Grundrechtseingriffe ungeahnten Ausmaßes. Wir müssen aber noch etwas beklagen, nämlich einen ziemlich flächendeckenden Ausfall rechtsstaatlicher Argumentationsstandards. Zwar betonen die Entscheider, die momentan mit Rechtsverordnungen Grundrechte suspendieren, immer wieder, wie schwer ihnen dies falle. Dem rechtlich wie ethisch gebotenen Umgang mit den Grundrechten wird die momentane Rechtfertigungsrhetorik jedoch nicht gerecht. Grundrechte können nur unter Beachtung der Verhältnismäßigkeit eingeschränkt werden. Der Eingriff unterliegt einem Rationalitätstest anhand von faktenorientierten Maßstäben und einer Verantwortbarkeitskontrolle orientiert an normativen Maßstäben. 

Zunächst geht es um Faktenfragen: Es darf vor allem kein milderes Mittel geben. Können die gewählten Mittel das Ziel, dem der Eingriff dient, überhaupt fördern? Sind weniger invasive Mittel denkbar? Um diese Fragen zu beurteilen, muss man wissen, auf welche Bedrohung reagiert wird. Sodann dürfen die für dieses Ziel eingesetzten Mittel andere Rechtsgüter nicht unangemessen verkürzen. Jetzt geht es um eine normative Frage. Das rechtsstaatliche Rechtfertigungsprogramm von Grundrechtseingriffen operiert mit einigen Grundkategorien: Schutzgüter, Eingriffsintensität, mildere Mittel, Kausalität und Zurechnung. Die mit diesen Kategorien verbundenen Denkvorgänge finden momentan ganz weitgehend nicht statt. Wenn wir momentan einen „Ausnahmezustand“ erleben, dann ist es ein Ausnahmezustand im juristischen Denken.

Lebensschutz ist mittelbarer Effekt, aber nicht Ziel der Eingriffe

Zunächst besteht ein Problem, das grundrechtliche Schutzgut zu bestimmen, dem die Grundrechtseingriffe dienen. Es gehe um Leben oder Tod, liest und hört man immer wieder. Mich erinnert dieses Argumentationsniveau an die Zeiten von „lieber rot als tot“. Ginge es um Leben oder Tod, müssten zunächst alle Kraftfahrzeuge verboten werden. Nein, es geht um Gesundheit. Diese ist freilich grundsätzlich von vielen Parametern abhängig. Einige kann der Einzelne beeinflussen (Ernährung), die meisten jedoch kaum (Umweltbelastung, gefährdendes Verhalten Dritter, Chancengleichheit bei der Infrastruktur, allgemeines Lebensrisiko von Krankheit und Alter). Zweck der Grundrechtseingriffe kann daher nicht pauschal „Gesundheit“ sein, sondern nur ein gesundheitsrelevanter Aspekt, nämlich die Vermeidung der Überforderung des Gesundheitssystems.

Dafür ist die Prognose ausschlaggebend, wie viele Intensivpatienten wir wie lange versorgen können. Es geht also um die optimale Steuerung des Pandemieverlaufs am Maßstab der medizinischen Kapazität. Das Vermeiden von Ansteckungen ist nicht das Ziel der Eingriffe, sondern Mittel zur Steuerung. Lebensschutz ist der mittelbare Effekt des Steuerungszwecks, nicht aber das Ziel selbst – weil sonst jedwedes staatliches Handeln immer auch dem Lebensschutz diente, dann aber kein grundrechtlich (und auch kein politisch) handhabbares Ziel mehr wäre. Die momentane Diskussion hält aber politisch wie publizistisch immer noch in erster Linie am Schutzgut Leben fest, statt das Ziel konkret zu benennen: kapazitätsgerechte Steuerung des Pandemieverlaufs. Es ist klar, dass sich mit einem solchen Ziel die Rechtfertigungslasten signifikant verschieben würden – sowohl im Hinblick auf die beizubringenden Tatsachen, die Grundrechtseingriffen zugrunde gelegt werden, als auch im Hinblick auf die normative Bewertung anderer grundrechtlicher Belange.

Der mit dem Grundrechtseingriff verfolgte Zweck ist also ein dynamischer Zweck, die dauerhafte, langfristige Kapazitätssicherung. Über sie können wir aber nur Hypothesen anstellen. Die getroffenen Maßnahmen müssen folglich geeignet und erforderlich sein zur kapazitätsadäquaten Verlangsamung der Infektionsrate der Bevölkerung, nicht zur Verhinderung der Infektion von Einzelnen. Der beunruhigende Effekt, der sich für die Verhältnismäßigkeitskontrolle hier abzeichnet, lautet: Was traditionell eine tatsachenbasierte Prüfung war (Geeignetheit, Erforderlichkeit), entwickelt sich bei einem Regelungsziel, dessen Erreichung nicht hinreichend tatsachengestützt prognostizierbar ist (denn wer kennt in den nächsten Monaten an jedem Tag sowohl die verfügbare Kapazität als auch die Zahl der Intensivpatienten?), zu einer Wette. Momentan verwetten wir unsere Grundrechte für einen Erfolg, den wir erhoffen, der aber nicht prognostizierbar ist. Unter diesen Bedingungen ist es zentral wichtig, Grundrechtseingriffe strikt zu begrenzen in der Hoffnung, dass wir mit der Zeit über Erfahrung und Tatsachen verfügen, die dann halbwegs überprüfbare Prognosen ermöglichen. 

Das allgemeine Polizeirecht erlaubt bei prognostischer Unsicherheit typischerweise nur den Gefahrerforschungseingriff. Prognosen sind für Grundrechtseingriffe immer bedenklich, weil sie die Tatsachenkontrolle erschweren. Dem Problem kann durch eine (1) strenge Limitierung der Mittel mit (2) einer Pflicht zu ihrer Überprüfung anhand der sich durch Zeitablauf verbessernden Tatsachenkenntnis und (3) der ständigen Suche nach milderen Mitteln begegnet werden. 

Für die Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen heißt dies im Augenblick: Weil eine Tatsachenkontrolle des Zweck-Mittel-Verhältnisses noch nicht möglich ist, sollte die Wette, die dem Grundrechtseingriff zugrunde liegt, verschiedene Strategien verfolgen. Wer setzt nur auf eine Karte? Es ist wichtig, Erfahrungswissen im Umgang mit der Zeitdimension zu gewinnen. Dazu sind unterschiedliche Mittel auch in ihrer Alternativität zu erproben. Das aber heißt: Eine Strategie maximaler Invasivität ist ungeeignet, das zeitlich nicht konkretisierbare Regelungsziel zu erreichen. Im Hinblick auf das Regelungsziel muss der Ausbau und die Aufrechterhaltung der Kapazität (Personal, Intensivbetten) berücksichtigt werden wie breite Tests, die es ermöglichen, Infektionsverläufe vorherzusehen. Im Hinblick auf die Regelungsmittel ist zu differenzieren, sei es zwischen Personengruppen, sei es zwischen Verhaltensformen, sei es zwischen gefährlichen Orten oder besonders betroffenen Regionen. 

Das heißt aber auch, dass Maßnahmen, die alle betreffen, selbst wenn es keinen Anhaltspunkt gibt, dass gerade sie das Gesundheitssystem entlasten könnten, unzulässig sind. Sonst werden wir alle wie Nichtstörer behandelt und das ist grundrechtlich unzulässig, weil es die Freiheit dementiert. Aus grundrechtlicher Perspektive ist es unverzichtbar, zielgenauere Adressatengruppen auszudifferenzieren (wer?, wie?, wo?). Das wird den Entscheidenden schwer fallen, weil sie sich dem Vorwurf ausgesetzt sehen werden, ungleich zu handeln, weil sie Prioritäten begründen müssen und in der ex-post Perspektive entweder für zu weitgehende oder zu geringe Eingriffe Kritik erfahren werden. Und leider ergibt sich daraus eine schädliche Logik, denn es ist politisch vermeintlich rational, mehr anzuordnen als nötig. Wir kennen diesen Gang der Dinge von den Anti-Terrorgesetzen, bei denen sich die Politik stets am Machbaren orientierte und im Drang, zum Schutz aller auch die Rechte aller einzuschränken, erst vom Bundesverfassungsgericht, weniger von der Öffentlichkeit, gebremst wurde. An die Öffentlichkeit kann daher nur appelliert werden, nicht ein Ziel über alle anderen Rechtsgüter stellen und Entscheidungen nur daran messen zu wollen. Insofern wäre es für eine grundrechtliche Debatte schon sehr hilfreich, wenn das Ziel genauer genannt würde, nicht diffus „Kampf gegen das Virus“, sondern „kapazitätsgerechte Steuerung des Pandemieverlaufs“. Schon diese terminologische Konkretisierung eröffnet nämlich politische Entscheidungs- und Differenzierungsspielräume.

Nach milderen Mitteln Suchen verboten?

Unverständlich ist des Weiteren, warum die Suche nach milderen Mitteln von den Exekutiven momentan sträflich vernachlässigt wird. Die Kanzlerin hat die Suche explizit verboten, wenn sie erklärt, bis zum 19. April bleibe erst einmal alles wie es ist. Im Sinne des institutionalisierten milderen Mittels ist es jedoch wichtig, differenzierte Lösungen zu fördern, also nicht rigide und einheitlich zu handeln, sondern flexibel und alternativ. Das wird schon erleichtert, wenn unterschiedliche Instanzen entscheiden, wie es im deutschen Föderalismus der Fall ist. Insofern kann die föderative Zuständigkeitsverteilung den organisatorischen Nebeneffekt haben, die Suche nach milderen Mitteln zu begünstigen – wenn man das will. Denn der Föderalismus sorgt durch die Vervielfachung der Zuständigkeit schon allein dadurch für Grundrechtsschutz, dass er Alternativen nahelegt und auf diese Weise Erfahrungswissen mit milderen Mitteln ermöglicht. Momentan ist die Öffentlichkeitswahrnehmung für den Grundrechtsschutz aber kontraproduktiv, wenn gebetsmühlenhaft ein föderaler „Flickenteppich“ beanstandet wird, so auch von der Bundeskanzlerin. Wer bundeseinheitliche Lösungen fordert, dementiert das grundrechtlich gebotene mildere Mittel. 

Die Perspektive ist umso relevanter in der Prognosedimension: Die Geeignetheit von Grundrechtseingriffen lässt sich in dynamischen Verlaufsszenarien gerade nicht einheitlich wissenschaftlich oder statistisch berechnen. Das zeigen auch die täglichen Statements der Virologen. Sie ist jetzt nämlich eine Bewertungsfrage und keine reine Tatsachenfrage wie bei einer ex-post Kontrolle. Als Wertungsfrage ist sie dann aber von Institutionen zu beantworten, die für Wertungen zuständig sind: Institutionen, die politisch verantwortlich sind und werten können, weil sie pluralistisch organisiert sind. Nicht jedoch Wissenschaftler, deren Terrain Fakten sind. Das hat nichts mit Ausnahmezustand zu tun, sondern ist die erkenntnis- und organisationstheoretische Folge einer zeitlich relativen Ungewissheit.

Es geht also um die Rechtfertigung von lediglich vorläufigen Maßnahmen, die überdies differenziert verhängt werden können. Dies zu betonen aktuell besonders wichtig: Der Grundrechtseingriff bleibt beweispflichtig. Die Maßnahmen sind immer von ihrer Beendigung aus zu betrachten und sie lassen sich für das momentane dynamische Ziel (kapazitätsgerechte Steuerung des Pandemieverlaufs) verfassungsrechtlich nur rechtfertigen, wenn sie auf das Vorläufige und Vorübergehende abstellen. Das zwingt zugleich zu einem ritualisierten Einfordern des milderen Mittels. Alles andere würde schon kategorial zu unverhältnismäßigen und folglich verfassungswidrigen Grundrechtseingriffen führen. Dies wiederum setzt eine politische Kultur voraus, in der über die sinnvolle Differenzierung diskutiert wird und nicht ein Überbietungswettbewerb mit flächendeckenden Regelungen in eine Hygienediktatur führt. Wir alle müssen zum Schutz unserer Grundrechte, aber auch um Erfahrungswissen für die erfolgreichere Zweckverfolgung zu gewinnen, die Entscheidungsträger konsequent dazu auffordern, mildere Mittel auszuprobieren. Wer das nicht tut, gibt seine/ihre Grundrechte schon deswegen preis, weil die politische Erfolgsrendite im Maximalen liegt.

Insofern haben wir es, wenn uns der Grundrechtsschutz leitet, momentan gerade nicht mit einer Stunde der Exekutive zu tun. Die Exekutive entscheidet momentan in Sonderstäben und Taskforces, d.h. an der Entscheidungsfindung nehmen keine pluralistisch zusammengesetzte Gremien teil, sondern speziell und sehr einseitig zusammengesetzte Expertenrunden. In vielen Ländern entscheiden nicht einmal die Regierungen über die Verordnungen, sondern der Minister. Wenn schon auf dem Verordnungswege entschieden wird, dann wäre es angesichts der grundrechtlichen Relevanz zwingend erforderlich, dass die Regierungen entscheiden, weil im Kabinett wenigstens auch Minister vertreten sind, zu deren Aufgaben die Pflege der anderen Grundrechte gehört. Auch organisationsrechtlich ist momentan nichts falscher als Gesundheitsminister mit einem Sonderverordnungsrecht auszustatten, wie es der Deutsche Bundestag bei der ad hoc-Novelle des Infektionsschutzgesetzes getan hat. 

Wenn es um mildere Mittel, zeitliche Bewertungsfragen und Rechtsgüterabwägungen geht, benötigen wir das Erfahrungswissen aller Verfassungsorgane und der gesamten Zivilgesellschaft. So wie föderative Zuständigkeiten zur Differenzierung der Mittel und ganz natürlich zum Denken in milderen Mitteln führen, so dürfen sich auch die anderen Verfassungsorgane nicht die Kompetenzen von der Exekutive klauen lassen. Das betrifft besonders die Landesparlamente und den Bundestag. Viel zu leichtsinnig werden Kompetenzverschiebungen erwogen. Das betrifft aber auch die Institutionen, die von Verfassungs wegen als Gegenöffentlichkeiten zur demokratischen Willensbildung ausgestaltet und geschützt sind: die Wissenschaft, die Medien, die Kirchen. Ihr verfassungsrechtlicher Schutz (Art. 4, 5 I, 5 III GG) rechtfertigt sich gerade auch aus dem Privileg, der Gesellschaft und dem demokratischen Prozess einen Spiegel vorhalten zu können. Diesen Auftrag müssen sie jetzt auch erfüllen, indem sie die Diskussion um mildere Mittel anfeuern, der Politik damit Entscheidungsspielräume öffnen und den Rückbau der Maximalmaßnahmen erleichtern. 

Blumenläden und Parkbänke

Am leichtesten geht dies, indem wir eine Diskussion über Ausnahmen beginnen und dabei auch einmal Kausalitätsannahmen hinterfragen. Denn die Standards juristischer Zurechnungslehren werden in der momentanen Situation erstaunlich gedankenlos ignoriert. Betriebsuntersagungen, Versammlungsverbote und Ausgehverbote setzen lediglich bei der Äquivalenzkausalität an. Warum werden Buchhandlungen und Blumenläden fast überall (aber nicht in allen Ländern!) geschlossen? Nur aufgrund der Logik des shutdown: Ohne kommerzielles Leben keine Kontakte. Ohne Kontakte keine Infektion. Ohne Infektion keine Überforderung des Gesundheitssystems. Das ist die Primitivkausalität der conditio sine qua non. Noch nie hat in juristischen Zusammenhängen eine solche Kausalitätsannahme ausgereicht. Stets bedarf es der Adäquanz, einer normativen Zurechnung, zu der dann spezifische Kriterien herangezogen werden (Schutzzweck der Norm, Risikoerhöhung, Pflichtverletzung), erst recht in der Unterlassensdimension (Garantenstellung).

Niemand kann erklären, warum Buchläden und Blumenläden geschlossen werden müssen, um das Infektionsrisiko kapazitätsgerecht (nicht prinzipiell!) zu reduzieren oder warum es in Bayern untersagt ist, sich auf Parkbänke zu setzen. Es ist eine Beleidigung des Verstandes, wenn sich eine Gesellschaft mit der Begründung zufrieden gibt, das Sitzen Einzelner auf Parkbänken im Münchener Olympiapark sei verboten, weil es der Gruppenbildung Vorschub leiste. Das Sitzen ist schon keine conditio sine qua non für die Infektion, weil die Erfolgszurechnung an doppelter Prognoseunsicherheit leidet (wo einer sitzt, werden automatisch viele sitzen; dann werden sich so viele anstecken, dass die Intensivbetten nicht ausreichen werden). Abgesehen davon, dass es an der Adäquanz immer noch fehlt: Die menschliche Äquivalenzprognose im Rahmen einer weiteren, medizinischen Äquivalenzprognose haben wir rechtsstaatlich noch nie akzeptiert Wer so argumentiert, wie die Bayerische Staatsregierung (in Gestalt der Münchener Polizei), hat den juristischen Verstand verloren.

Vielmehr ist zu fragen: Kann das Schließen von Buchläden einen sinnvollen Beitrag leisten zur kapazitätsgerechten Steuerung des Pandemieverlaufs? Wie wahrscheinlich ist es, dass Buchhandlungen, bekanntlich hotspots des Körperkontakts, Erregerzentren sind? Ist in Bau- und Gartenmärkten (in Bayern geschlossen) nicht genug Platz, so dass sich die Menschen nicht zu nahe kommen brauchen (was schon die voluminösen Einkaufswagen verhindern)? Gilt dasselbe nicht auch für Museen, die mit der Steuerung von Besucherströmen erfahren sind und in denen überdies Aufsichten Ansammlungen von Unvernünftigen entgegenwirken können? Lassen sich nicht Bibliotheken räumlich optimal organisieren?

In diese Richtung ist weiterzudiskutieren: Welches sind Räume, deren Nutzung so organisiert werden kann, dass eine Ansteckungsgefahr gering ist? Auf diese Weise gewinnen wir unsere Freiheiten wieder – wenn wir sie über mildere Mittel einfordern. Und warum sollte sich nicht ein Gottesdienst auch so organisieren lassen: jede zweite Reihe frei und mit Sitzabstand. Die Kirchen sollten jetzt vor allem eins tun: Eine Ausnahme fordern für Gottesdienste an den höchsten christlichen Feiertagen. Wenn sie ihre Grundrechte nicht einfordern, verlieren sie als Institution auch die religiöse Autorität. Die Religionsfreiheit ist dann jedenfalls beliebig abwägbar. Das droht allen Freiheitsrechten, wenn wir als Träger dieser Freiheit nichts dagegen tun, sondern uns mit einem diffusen Regelungsziel „Kampf gegen das Virus“ zufrieden geben und Rechtsgüter nach einer „Systemrelevanz“ differenzieren. 

Systemrelevanz aber ist grundrechtlich kein Belang. Alle Grundrechte stehen normativ auf derselben Stufe und lassen sich nicht in eine Hierarchie bringen. Auch Leben ist nur im Eingriffsfall prinzipiell vorrangig, nämlich beim Tod, und zwar nur deshalb, weil dieser Grundrechtseingriff endgültig ist. Der Tod eines Menschen ist dem Staat nicht auf der Basis von Hypothesen, die mit Äquivalenzkausalität operieren, zurechenbar. Nur unter dieser Bedingung freilich ist nachvollziehbar, warum alle anderen Grundrechte momentan zurückzutreten haben, bis zur Derogation. Die Versammlungsfreiheit ist ganz aufgehoben. Was bleibt von Religions- oder Vereinigungsfreiheit noch übrig? Berufsausübung und Eigentumsnutzung stehen unter dem Vorbehalt der Systemrelevanz. Die Gleichheit wird verletzt, weil manche im home office weitermachen, während andere, staatlich ausgelöst, die Existenz verlieren. Kultur und Bildung waren als erstes verzichtbar. Der shutdown wurde auf eine Weise organisiert, die keinen Respekt für die individuellen Freiheiten erkennen ließ. Relevante Belange waren Gesundheit und Systemrelevanz. China als Vorbild. In der „Stunde der Exekutive“ wurde der Mensch auf seine nackte physische Existenz reduziert. Genau das aber lässt das Grundgesetz nicht zu: Dies wäre entweder eine Verletzung der Menschenwürde oder doch einmal ein erster Fall für Art. 19 II GG: In keinem Fall darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden.

Vor allem: Wir wissen zwar nicht, wie sich das dynamische Schutzgut Gesundheitssystem entwickelt, wir wissen eines aber mit Sicherheit: Die Freiheiten werden jetzt verletzt: Jetzt werden die Existenzen vernichtet. Jetzt wird Bildungsungleichheit erzeugt. Jetzt wird auch die Gesundheit vernachlässigt, wenn OPs nicht mehr durchgeführt werden und Zahnärzte Kurzarbeit anmelden. Jetzt werden die Staatsfinanzen ruiniert. Jetzt werden die Mittel für Ausgleichsmaßnahmen disponiert, die wir für Infrastruktur, Klimaschutz und Bildung vorgesehen hatten. Diese Schutzgüter werden jetzt geschädigt. Aber welchen Gesundheitsschutz versprechen wir uns, für den wir Freiheitseingriffe und Finanzrisiken in Kauf nehmen? Will der Staat jedem Patienten eine 14tägige intensivmedizinische Behandlung garantieren? Sollte er das – und damit Erwartungen wecken, die er ersichtlich nicht erfüllen kann? Was wäre bei einem verheerenden Terroranschlag: Ist dann auch jedem Opfer eine intensivmedizinische Betreuung garantiert? Es ist auch hier die Zeitdimension, die wir nicht in den Griff kriegen. Wie erstaunlich, dass der sichere Freiheitseingriff in der Gegenwart eingetauscht wird gegen einen unsicheren Gesundheitsschutz in der Zukunft. Abwägung kann man das jedenfalls nicht nennen.

Für einen Verfassungsjuristen ist es zutiefst deprimierend mitzuerleben, wie die Essentialia grundrechtlichen Denkens in kurzer Zeit zur Disposition stehen: sorgfältige Bestimmung von Schutzgütern? Zweckorientierte Mittelauswahl? Suche nach milderen Mitteln? Kausalität und Zurechnung? Abwägung? Vollzugsföderalismus? Organisationspluralismus? Normenhierarchie (vgl. zu der gesetzesvertretenden Verordnungsermächtigung den Beitrag von Christoph Möllers im Verfassungsblog)? Wir stehen vor Hygienemaßnahmen ganz anderer Art: Der Rechtsstaat ist schwer beschmutzt. Die rechtsstaatliche Hygiene muss dringend wieder hergestellt werden, sonst droht hier das größte Infektionsrisiko. 


SUGGESTED CITATION  Lepsius, Oliver: Vom Niedergang grundrechtlicher Denkkategorien in der Corona-Pandemie, VerfBlog, 2020/4/06, https://verfassungsblog.de/vom-niedergang-grundrechtlicher-denkkategorien-in-der-corona-pandemie/, DOI: 10.17176/20200406-131152-0.

65 Comments

  1. Tobias Kunterding Mo 6 Apr 2020 at 13:33 - Reply

    Vielen Dank für diesen wichtigen Beitrag, dem ich nur beipflichten kann. Ich bin zwar kein Jurist sondern „nur“ Politikwissenschaftler, aber dennoch bereiten mir die aktuellen Maßnahmen der Regierung und die „blinde“ Akzeptanz der Bevölkerung ebenfalls enorme Sorge.

    Zweifelsohne befinden wir uns durch die Pandemie in einer Ausnahmesituation und man kann den Virus nicht einfach so laufen lassen. Dennoch habe ich bei manchen Maßnahmen (wie z.B das Parkbankverbot) das Gefühl, dass durchaus eine gewisse Willkür vorherrscht. Ich verstehe offengesagt nicht, inwiefern ein Infektionsrisiko besteht, wenn man sich alleine auf eine Parkbank setzt. Nicht jeder hat ein Eigenheim mit Garten oder eine Wohnung mit Balkon.

    Gesellschaftlich habe ich zugleich das Gefühl, dass eine Diskussion über eine notwendige Exit-Strategie sehr schnell mundtot gemacht wird. Sobald man auf verfassungsrechtliche, gesellschaftliche und wirtschaftliche Problematiken eingeht, wird einem sehr schnell unterstellt, dass man Bilder wie in New York oder in Norditalien haben möchte, was einen demokratischen Diskurs unmöglich macht.

    Klar ist, dass man diese Maßnahmen nicht unbegrenzt führen kann und diese Einschränkungen am 19.04 oder allerspätestens Anfang Mai beenden/reduzieren muss. Man kann sich weder einen wirtschaftlichen Kollaps erlauben noch eine massive Aushöhlung des Grundgesetzes durch einfache Rechtsverordnungen zulassen. Wie schon gesagt, ich bin kein Jurist, aber ich glaube durchaus, dass ein Großteil der aktuellen Maßnahmen vor dem BVerfG keine Chance hätte.

    • fhVaziri Sa 16 Mai 2020 at 20:57 - Reply

      Sehr geehrter Herr Friehe,
      ich teile Ihre Bedenken vollumfänglich und bin Herrn Professor Lepsius dankbar für seine klar und unmissverständlich geäußerten Bedenken.
      Ich halte es ohne Wenn und Aber für dringend geboten, dass ALLE Grundrechtseinschränkungen – Maskenpflicht inklusive – unverzüglich zurückzunehmen sind und eine intensive Debatte einsetzen muss, die auch rückblickend sehr genau prüft, inwiefern hier von den politisch Verantwortlichen nicht zuletzt rechtlich korrekt agiert wurde. Vor allem halte ich einen breiten Diskurs und eine gründliche Prüfung für notwendig, was die vermeintliche Gefahr des Corona-Virus und die daraus abgeleiteten Maßnahmen angeht. Hier müssen unbedingt und besonders auch kritische Stimmen von Fachleuten gehört werden. Ich erlebe genau wie Sie, dass im öffentlich-rechtlich medialen Raum eine solche Debatte geradezu verhindert wird. Das geht in einem Land, das sich als Rechtsstaat bezeichnet, überhaupt nicht und ist zutiefst bedenklich.

    • Fritz Hubertus Vaziri Mo 18 Mai 2020 at 14:33 - Reply

      Meine unten stehender Beitrag bezog sich selbstverständlich auf Herrn Kunterding und nicht auf Herrn Friehe.
      Schöne Grüße,
      fhVaziri

  2. Matthias Friehe Mo 6 Apr 2020 at 14:07 - Reply

    Wir verwetten nicht unsere Grundrechte, sondern diese Wutrede verwettet sich gegen eine Exponentialfunktion. Eine solche Wette kann man gar nicht gewinnen. Es wäre ja schön, wenn das Virus so freundlich wäre, sich in der Gemächlichkeit zu verbreiten, in der juristische Oberseminare stattfinden. Dann könnten wir nach jedem Infektionszyklus ganz tief durchatmen und erst einmal ein paar Seminararbeit über mildere Mittel gegenüber Baumarktschließungen und Sitzverbote auf Parkbänken auswerten. Das entspricht nur leider nicht der Realität einer Dynamik, in der sich anfangs im Zwei-Tages-Rhythmus die Infektionszahlen verdoppelt haben.

    Dem Vorschlag, als Ziel der aktuellen Maßnahmen nur noch von einer „kapazitätsgerchten Steuerung des Pandemieverlaufs“ zu sprechen, kann ich nichts abgewinnen. Er verdunkelt, worum es geht: Menschenleben zu retten. Die Debatte über die Triage zeigt nachdrücklich, in welche ethischen und juristischen Ausnahmefragestellungen uns die Pandemie treibt. Man kann nicht auf der einen Seite voller Eifer geschlossene Baumärkte und Parkbänke beklagen und auf der anderen Seite darum herummurksen, dass die geforderten milderen (und übrigens nicht gleich effektiven) Mittel jederzeit eine Triage-Situation provozieren oder verschlimmern können. Der Begriff „Steuerung“ suggiert im Übrigen etwas, was dem Virus fremd ist: Steuern kann man eine Maschine, deren Wirkmechanismus man beherrscht. Das Virus macht, was es will und von Steuerung kann gar keine Rede sein. Mit viel Glück bekommen wir das ganze so eingedämmt, dass nicht unser Gesundheitssystem zusammenbricht. Wenn man das Virus und die Pandemie „steuern“ könnte, würden wir sofort den Stecker ziehen und das ganze abstellen.

    Selbstverständlich sind auch in der Pandemiebekämpfung sämtliche Maßnahmen dem Recht und der Verhältnismäßigkeit unterwofen. Aber auch dabei gilt es eben Maß zu halten. Nicht nachvollziehen kann ich deswegen den Vorwurf, die Kanzlerin habe eine Suche nach milderen Mitteln „explizit verboten“. Nach milderen Mitteln darf jeder suchen, so viel er will, und das tut der Beitrag (wenn er auch im juristischen Sinne nicht fündig wird, da die genannten Mindermaßnahmen allesamt nicht gleich effektiv sind). Nach allem was man hört, ist auch die Exekutive dabei, intensiv nach Exit-Strategien zu suchen. Nur geht es dabei eben um verantwortbare Exit-Strategien, bei denen sich nicht im Sommer die Särge in den Krankenhäusern stapeln.

    Ich habe Respekt vor denjenigen, die jetzt unter schwierigsten Bedingungen versuchen müssen, eine menschliche wie wirtschaftliche Katastrophe irgendwie abzuwenden, soweit es eben im Katastrophenfall geht. Als Wissenschaftler haben wir das Privileg, nicht unmittelbar für die Folgen dessen verantwortlich zu sein, was wir aus der Nussschale der Universität so an Vorschlägen machen. Mit diesem Privileg sollten wir verantwortlich umgehen. Wegen einer Baumarktschließung unseren demokratisch legitimierten Entscheidungsträgern den Vorwurf einer „Hygienedikatur“ entgegenzuschleudern, ist keine sinnvolle Nutzung dieses Privilegs.

    • Jens Di 7 Apr 2020 at 10:05 - Reply

      Vielen Dank für diesen zielgenauen Kommentar, der der Sachlage – im Gegensatz zum Artikel – gerecht wird. Mich hat der Umgang mit Empirizität, Wissen und Prognosefähigkeit in diesem Artikel auch sehr irritiert. Fraglich war (nur), ob wir fünf- oder sechsstellige Opferzahlen einige Tage früher oder später haben würden. Dass daran nichts abwegig ist, sieht man bei einem Blick über europ. Grenzen und man sah das auch schon in China. Letztendlich ist dieser Artikel ein ausgefeiltes „Weil nicht sein kann, was nicht sein darf“. Mir scheint, dass hier nicht ein Niedergang grundrechtlicher Denkkategorien vorliegt, sondern ein Fehlen grundrechtlicher Denkkategorien für ein Ereignis, das es in dieser Form während der Geltungszeit der dt. Nachkriegsverfassungsordnung noch nicht gegeben hat.

      Falls sich in Zukunft jemand hierher verirrt und nach einer zeitlich/historischen Einordnung des Erkenntnis- und Bewertungsstandes sucht, möchte ich hier nochmal Michael Ryan von der WHO (Mitte März 2020) zitieren:

      „““
      Be fast, have no regrets. You must be the first mover. The virus will always get you if you don’t move quickly

      If you need to be right before you move you will never win. Perfection is the enemy of the good when it comes to emergency management

      Speed trumps perfection and the problem in society we have at the moment is everyone is afraid of making a mistake, everyone is afraid of the consequence of error, but the greatest error is not to move. The greatest error is to be paralysed by the fear of failure

      „““

    • Oesterle Mo 13 Apr 2020 at 11:18 - Reply

      DANKE! Dieser Kommentar ist sehr gut!
      Die Freiheit seine eigene Meinung zu äußern, beinhaltet auch die Freiheit ‚einfach mal die Klappe zu halten‘.
      Es gilt wie immer: Alles hat seine Zeit!
      Alle juristischen Ansätze in der Art des Artikels in Ehren und kritisches Hinschauen ist immer wichtig! Aber jetzt ist nicht der Zeitpunkt, um der Bevölkerung, die meistens dem nach rennt, dass sich schlau anhört, auch noch zur ‚Unzeit‘ Feuer unterm Hintern zu machen. Wenige sind (schon mangels juristischer Ausbildung) nicht in der Lage so hochtrabende Diskussionen zu durchsteigen. Die hören/lesen nur eins: Es ist nicht rechtens uns derzeit auf die Couch zu zwingen.
      (Was im Übrigen keiner tut.)
      Und das streut allen, die mit ihren existenziellen Ängsten und nörgelnden Kindern überfordert sind, dermaßen Salz in die Wunde! Ja muss das sein?!
      Lasst uns doch auf eine Aufarbeitung im Nachhinein bauen. Im ’normalen‘ Leben gibt es genügend Entscheidungen der Politiker, die der Mehrheit erstmal total egal sind oder maximal am Stammtisch wütend kommentiert werden, und sonst geht jeder seinem Alltag nach. Die größeren Aufschreie werden mit Untersuchungsausschüssen abgearbeitet.
      Jede/r, der/die zurzeit Kritik an all den Maßnahmen übt, soll sich selbst doch einmal kritisch hinterfragen und prüfen, ob er/sie die gleichen Worte an die Öffentlichkeit richten würde, wenn man die Entscheidung mit allen Konsequenzen tatsächlich selbst zu treffen hätte.

      Wenn jede/r seine/ihre eigene Parkbank im Park hätte, wer es einfacher. Aber so müsste man bei der Erlaubnis: ein Mensch pro Parkbank, evtl. ‚Angst‘ bekommen, dass die Menschen anfangen, vor Sonnenaufgang mit Handtüchern ihren Platz zu reservieren…

      • Gietl Sa 8 Mai 2021 at 07:00 - Reply

        „Einfach mal die Klappe halten“ ist für die Gesellschaft wohl das gefährlichste was passieren kann. Sind Meinungsfreiheit, Freiheit und andere Grundrechte denn weniger wichtig? Ist der Aufruf zu antidemokratischen Verhalten denn weniger gefährlich? Warum bringt eigentlich niemand die Opfer der Corona Toten ins Verhältnis der Toten die wir haben könnten, in dem wir die Grundrechte falsch einschränken? z.b. die vielen Opfer aus nicht erkannten weil nicht vorbeugend untersuchten Krebskranken. Wissen wir ob es nicht weniger Belastung der Kranken- und Intensivbetten gäbe, wenn wir die Corona Kapazitäten schnell auf reine Coronakrankenhäuser verteilt hätten? Müsste nicht der Aufbau von Kapazitäten in der Intensivpflege gleichermaßen verstärkt werden? Wären die Investitionen von Milliarden für wirtschaftliche Ausfälle gleichermaßen in den Aufbau des medizinischen Systems geflossen, hätte das nicht mehr Wirkung gezeigt? Zeigt nicht die hohe Prozentzahl der Symptomlosen und Genesenen, das wir von einer großen Minderheit an Schwerkranken und Toten sprechen? Ist die Anzahl der Toten prozentual höher als die anderer politischen Entscheidungen, die den Tot einiger zu verantworten haben? Es ist sicherer nachgewiesen dass bei einer Mindestgeschwindigkeit von unter 130 weniger m Menschen auf Autobahnen sterben, als darüber. Auch hier sterben nicht nur die Raser sondern ebenfalls andere. Weshalb also gibt es dort kein konsequentes Einschreiten, stattdessen wird mit Freiheitsrechten argumentiert? Und welches Argument rechtfertigt, dass Freiheitsrechte zum Wohle der Gesundheit eingeschränkt werden, Datenschutz aber scheinbar uneingeschränkt als Feigenblatt gegen den Einsatz technischer Systeme, die mehr Freiheit zulassen würden eben nicht. Man stelle sich vor, jeder der ein Handy hat muesse die Corona Warnapp herunterladen und aktivieren, sonst drohen ihm Einschränkung der Freiheitsrechte. Würde das die Nachverfolgung so absichern, dass wir weniger Infizierte hätten als heute, weil sie bei einer Inzidenz von bis zu 500 nur wenige Momente dauert statt wie im Moment bei einer Inzidenz von 100 einige Tage, was eine Verbreitung des Virus erst ermöglicht? Wo sind die breiten Diskussionen der Alternativen. Sind die aktuellen Maßnahmen alternativlos? Ich glaube nicht. Kann man Grundrechte priorisieren? Ich bin kein Jurist, aber Bürger. Die Grundrechte sind für mich gemacht. Nicht für Politiker oder Juristen. Und ich erwarte dass sie eingehalten werden. Wenn nicht wähle ich die Verantwortlichen nicht mehr und klage meine Rechte ein, halte mich an das Gebot der Vernunft im Umgang mit Kontakten und höre nicht nur auf Virologen, sondern auf renommierte Aerosolforscher, Psychologen, Politikwissenschaftler, etc. Jeder der die Einschränkung der freien Meinungsäußerung fordert sollte sich hinterfragen, wenn er es kann.

    • Michael Riepen Mo 27 Apr 2020 at 18:51 - Reply

      In welcher geistigen Verfassung muss man sein, den Beitrag von Herrn Lepsius als „Wutrede“ zu bezeichnen? Folgerichtig wäre es nur noch, ihren Kommentar als Hasskommentar zu bezeichnen, wäre solche Terminologie und die zugrundeliegende antidemokratische Grundhaltung, auf der sie gedeiht, mir nicht so zuwider. Ihre Einordnung insinuiert, Herr Lepsius hätte blanko weniger Maßnahmen gefordert. Er fordert eine sorgfältigere Diskussionskultur rund um die Maßnahmen.

  3. Maximilian Steinbeis Mo 6 Apr 2020 at 15:19 - Reply

    Ich stimme zu, dass nicht allein oder in erster Linie Lebens- und Gesundheitsschutz, sondern vor allem das Vermeiden eines Bergamo-Szenarios der Zweck sein muss, zu dem die Eingriffe ins Verhältnis gesetzt werden müssen. Aber was dieses Bergamo-Szenario bedeutet, kommt mir ein bisschen zu kurz in dem Text: Triage, Leute sterben nicht am Virus, sondern am Mangel an Beatmungsgeräten und Intensivstationsbetten, und dies – anders als bei einem Terrorangriff, bei einem Zugunglück oder bei einem Erdbeben – vorhersehbarerweise. Wir wissen, dass das im Fall eines exponentiellen Wachstums der Infektionszahlen passieren wird, wenn wir alles einfach weiterlaufen lassen, und gleichzeitig wissen wir fast nichts über die Geeignetheit der Reaktionsoptionen. Wir müssen dieses Wissen erst im Umgang mit der Krise erwerben, und wir können dabei nicht inkrementell vorgehen und schauen, ob es vielleicht ausreicht, nur Großveranstaltungen oder Kontakte in geschlossenen Räumen zu verbieten, weil das Resultat dieses Experiments im Negativ-Fall genau das Szenario wäre, zu dessen Abwendung wir das Experiment überhaupt anstellen. In dieser spezifischen Situation, für die mir kein anderes Beispiel einfällt, das öffentliche Leben mitsamt allen damit verbundenen Freiheitsrechten solange herunterzufahren, bis das exponentielle Wachstum durchbrochen ist und Tracking- und Isolierungsmöglichkeiten greifen und die Freiheitsrechte entsprechend peu à peu wieder aufgetaut werden können – das per se als unverhältnismäßig zu brandmarken (von erkennbaren Gelegenheits-Übergriffen aus schierer Lust am Verbieten natürlich abgesehen), tu ich mir deutlich schwerer als Du.

  4. Th. Koch Mo 6 Apr 2020 at 15:21 - Reply

    Die Kritik an einem „Sonderverordnungsrecht“ der Gesundheitsministerien wird schlaglichtartig bestätigt durch die Vorgänge um die niedersächsische Corona-Eindämmungsverordnung von vergangener Woche: Die Verkündung (GVBl. S. 55) erfolgte am vergangenen Donnerstag 2. April), die Ankündigung einer alsbaldigen Korrektur am darauf folgenden Samstag (4. April). In der Verordnung sind durch die Sozialministerin aufgrund einer doppelt delegierten Verordnungsermächtigung verschiedene Regelungen von erheblicher Grundrechtsrelevanz erlassen worden, die kein schlüssiges Konzept zu erkennen geben und mit Blick auf das Erfordernis willkürfreier Differenzierungen (Art. 3 Abs. 1 GG) wohl kaum haltbar sind; H. M. Heinig (Univ. Göttingen) hat die Verordnung heute als „Murks“ kritisiert. Das Beispiel macht ebenso wie verunglückte Regelungen etwa im Berliner Verordnungsrecht (hier kürzlich kritisiert von Aden u.a.) deutlich, dass grundrechtssensible Regelungen einer Abwägung und Erörterung bedürfen, was ausschließt, dass diese von einzelnen Beamt*innen in der Abgeschiedenheit ihrer Dienstzimmer formuliert werden. Hierin findet auch die „Wesentlichkeitstheorie“ des Bundesverfassungsgerichts zusätzliche Rechtfertigung; deren Bedeutung für das Corona-Verordnungswesen bedarf ebenfalls noch der Aufhellung.

  5. Jens Mo 6 Apr 2020 at 15:48 - Reply

    Aussagen über die Zukunft sind immer „Wetten“, weil sie immer Aussagen über Wahrscheinlichkeiten sind. Zu SARS2/Covid-19 bringt jeder Tag mehr Wissen. Aber auch auf Basis des Kenntnisstandes von vor wenigen Wochen schien es weltfremd sich auf „Gefahrerforschung“ zu beschränken. Es war hinreichend klar, dass es eine massive Gefahr gibt, die sich zeitnah realisieren wird.

    Gerade in den Memes der Internetöffentlichkeit („Flatten the curve“, „The Hammer and the dance“) war es immer zentral und offensichtlich, dass es primär und vorallem um eine „kapazitätsgerechte Steuerung des Pandemieverlaufs“ geht, diese Memes drehen sich inhärent um die statistischen Aspekte der Steuerung und nicht die individuelle Frage nach Leben oder Tod. Natürlich ist es jetzt essentiell über mildere und effizientere Mittel („dance“) zu reden, nachdem unhinterfragte Effektivität („hammer“) die Zeit dafür verschafft hat.

    Im vorletzten Absatz finde ich praktisch jeden Satz falsch. Das fängt bei Totschlagargumenten in Frageform an („Was wäre bei einem verheerenden Terroranschlag: Ist dann auch jedem Opfer eine intensivmedizinische Betreuung garantiert?“ – Der literarisch inspirierte Superterrorist wird immer Wege finden jede Art der Prävention lächerlich erscheinen zu lassen) und endet bei Fehlinterpretationen („Es ist auch hier die Zeitdimension, die wir nicht in den Griff kriegen.“ – Es deutet aktuell nichts darauf hin, dass wir die Zeitdimension nicht in den Griff kriegen könnten. Wenn uns Astronomen eröffnen würden, dass in 2 Wochen ein sehr, sehr großer – bisher unerkannter Asteroid – einschlagen wird, dann wäre das der Fall. Die Corona-Krise ist gerade in und über die Zeitdimension gut steuerbar. Allerdings muss man dazu schnell und entschlossen handeln. Die Überforderung unserer Ressourcen liegt gerade nur in einer temporären Konzentration. Es ist sogar ein stark nichtlineares Ende in Form medizinischen Fortschritts absolut erwartbar).

    Rein oder primär normativ auf die Zukunft gerichtete Politik hätte uns in eine humanitäre Katastrophe geführt – mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit (no more, no less). Die Gesellschaft sollte jetzt das Möglichkeitsfenster – das die Ausnahmen eröffnet haben – nutzen, um über effiziente Maßnahmen und Exit-Strategien zu diskutieren.

  6. Uwe Volkmann Mo 6 Apr 2020 at 16:01 - Reply

    Lieber Max: Naja. Wir sollten uns vielleicht doch darauf verständigen können, dass bei dem massivsten kollektiven Grundrechtseingriff in der Geschichte der Bundesrepublik (Christoph Möllers hier im Blog) die Erinnerung an den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz vielleicht nicht die schlechteste Option ist. Der Beitrag leistet dazu etwas ganz Wichtiges und Zentrales, nämlich die klare Herausarbeitung des Ziels, um das es in der derzeitigen Situation sinnvoller- und realistischerweise nur gehen kann: die „kapazitätsgerechte Steuerung der Pandemie“. Anders die derzeit verbreitete und durch die Rhetorik der politischen Entscheidungsträger verstärkte Einstellung in der Bevölkerung, die sich in dem Satz spiegelt, mit dem Markus Söder seinerzeit die deutschlandweit rigidesten Freiheitsbeschränkungen rechtfertigte: „Jede Infektion, jeder Tote ist zu viel“. Man erinnert sich nicht, das von ihm in der Debatte um ein Tempolimit je gehört zu haben, aber darauf kommt es hier nicht an; entscheidend ist, dass es von einem solchen Satz aus an jeder Grundlage fehlt, auf der der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz überhaupt sinnvoll zur Anwendung gebracht werden kann. Gerade das mahnt der Beitrag an. Sodann weist er selbst auf die Wissensdefizite und die Unsicherheit aller Prognosen hin und stellt nur die Frage, zu wessen Lasten diese Unsicherheit am Ende gehen muss. Dazu haben wir letztlich zwei konkurrierende Grundsätze, einmal dass in komplexen und ihren Kausalitäten schwer vorherzusehenden Gefahrensituationen eine prinzipielle Einschätzungsprärogative der je zum Handeln berufenen Organe besteht, zum anderen dass mit zunehmender Eingriffsintensität auch die Anforderungen an die Sicherheit und Belastbarkeit der Prognose steigen; gerade dies hat die Rechtsprechung des BVerfG im Sicherheitsrecht ja zuletzt ganz stark betont. Von hier aus stellt der Beitrag nicht pauschal die Verhältnismäßigkeit jeder einzelnen Maßnahme in Frage, sondern rügt nur, dass die daraus abzuleitenden Maßstäbe bislang nicht wirklich zur Anwendung gebracht wurden, und legt nahe, damit vielleicht langsam mal anzufangen. Das wird dann an ganz konkreten Beispielen wie dem Buchladen oder dem Verweilen auf Parkbänken aufgezeigt. Ist das nicht das, was wir immer machen?

    • Maximilian Steinbeis Mo 6 Apr 2020 at 16:40 - Reply

      Was Söder und „jeder Tote ist zuviel“ betrifft, haben wir gar keinen Dissens. Das ist leeres Gewäsch, das den Mangel an Verhältnismäßigkeitsprüfung durch ein Übermaß an Bibber in der Stimme zu überkleistern versucht. Genauso wenig Dissens haben wir bei den Parkbänken und allen anderen Maßnahmen, die unter keinem erkennbaren Gesichtspunkt für irgendwas geeignet sein können außer zur Befriedigung einer allgemeinen Notstands- und Verbotslust. (Schon bei den Gottesdiensten würde ich aber zweifeln: In geschlossenen Räumen, wo die gleiche Raumluft geatmet wird, zu vermuten, dass eine Infektion auch über mehr als 3m Abstand passiert? …)

      Aber „Tote zu vermeiden“ ist ja gar nicht der Zweck der Maßnahme, sondern die Vermeidung der Triage-Situation, also nicht „jeder Tote ist zuviel“, sondern „jeder Tote, der nur deswegen tot ist, weil wir ihm das Beatmungsgerät vorenthalten mussten in einer Abwägungsentscheidung, die wir keinem Intensivmediziner aufbürden dürfen um der Menschenwürde willen, ist zuviel.“

      In einer Situation, wo a) das Eintreten eines solchen Triage-Notstands angesichts exponentiell steigender Infektionszahlen so gut wie sicher ist, und b) die Geeignetheit aller Handlungsoptionen zu ihrer Abwendung mit Ausnahme der totalen Isolation radikale Ungewissheit herrscht: Kann man es wirklich damit getan sein lassen, diese Ungewissheit das Problem dessen sein zu lassen, der über die Maßnahmen entscheidet, nach dem Motto: komm wieder, wenn du da besser Bescheid weißt, was geeignet und erforderlich ist und was nicht? Ich meine das gar nicht polemisch, ich weiß es echt nicht.

    • Matthias Friehe Mo 6 Apr 2020 at 17:27 - Reply

      Der Vergleich mit Verkehrstoten ist in keiner Weise zielführend. Verkehrstote sind keine Naturkatastrophe, sie steigen nicht exponentiell an, sie überfordern nicht unser Gesundheitssystem. Verkehrstote sind ein bekanntes und beherrschbares Risiko, das mit den Mitteln des Rechts, von Führerscheinprüfung bis Verkehrsampel, minimiert wird. Die Corona-Pandemie ist ein Risiko, mit dem wir gerade erst erste Erfahrungen sammeln. Im Unterschied zu den Verkehrstoten ist die Corona-Pandemie (hoffentlich und nach derzeitigem Stand) überdies eine zeitlich begrenzte Ausnahmesituation, die (hoffentlich und nach derzeitigem Stand) spätestens in einem Jahr durch einen Impfstoff beendet werden kann. Demnach sind auch die drastischen Freiheitseingriffe nur eine begrenzte Zeit und hoffentlich kürzer als ein Jahr erforderlich, während Maßnahmen gegen Verkehrstote typischerweise dauernde Freiheitsbeschränkungen sind. Also: Was genau bringt dieser Vergleich, wo doch zwei Dinge miteinander verglichen werden, die deutlich weniger gemeinsam haben als Äpfel und Birnen?

      Wenn Herr Lepsius sich ein bischen weniger über eine angebliche Hygienediktatur und Denkverbote der Kanzlerin (O-Ton gerade eben auf ihrer Pressekonferenz: Wir wären eine schlechte Bundesregierung, wenn wir nicht über eine Exit-Strategie nachdenken würden!) in Rage geredet und dafür die von ihm beklagten Freiheitseingriffe näher untersucht hätte, wäre ihm aufgefallen, dass diese keine „Beleidigung des Verstandes“, sondern alles in allem sinnvolle Maßnahmen sind.

      Das gilt selbst für das von Lepsius so heftig kritisierte Verbot, auf Parkbänken zu sitzen. Nicht nur in Großstädten gibt es nun einmal gerade das Problem, dass die sommerlichen Temperaturen eben doch dazu verführen, die Zeit draußen zu verbringen und dabei irgendwie doch gesellig zusammenzusitzen. Dabei reicht es schon, wenn zwei Nachbarn zusammensitzen: Der eine steckt den anderen an, der seine ganze Familie. Und schon hat ein Infizierter auf einer Parkbank 3 weitere oder mehr infiziert! So kann man keine Reproduktionszahl von nahe 1 erreichen, die aber gerade erforderlich ist, um die exponentielle Steigerung zu durchbrechen und wieder in die Phase des Containment (Nachverfolgbarkeit aller Kontakte) zurückkehren zu können. Genau das wäre aber erforderlich, um zügig zu einem einigermaßen normalen Leben zurückzukehren.

      Insofern gilt: Bevor wir Juristen uns darüber beklagen, dass hier auf wackeliger Faktenbasis schwerwiegendste Grundrechtseingriffe angeordnet würden (Gehört ein Monat ohne Parkbänke wirklich dazu?), sollten wir erst einmal die Fakten zur Kenntnis nehmen, die es gibt. Ich hatte beim Beitrag von Herrn Lepsius nicht den Eindruck, dass er die Strategie des Lockdowns schon völlig verstanden hat: Ein zeitlich begrenzter und in der Tat ziemlich rigoroser Lockdown soll (das ist vielleicht manchmal falsch rübergekommen) die Kurve nicht nur abflachen, sondern durchbrechen. Ziel ist es, dass möglichst bald in einen relativen Normalzustand zurückgekehrt werden kann (nein Fußball-Bundesligaspiele sind damit nicht gemeint, wohl aber die Parkbank), weil die Infektionsketten wieder nachvollziehbar sind und keine unmittelbare exponentielle „Explosion“ mehr droht. Das geht aber nicht bei mehreren tausend Neuinfektionen pro Tag, da müssen wir raus aus der Situation!

      • Britta Di 7 Apr 2020 at 15:04 - Reply

        Zitat: „Ich hatte beim Beitrag von Herrn Lepsius nicht den Eindruck, dass er die Strategie des Lockdowns schon völlig verstanden hat: Ein zeitlich begrenzter und in der Tat ziemlich rigoroser Lockdown soll … die Kurve nicht nur abflachen, sondern durchbrechen. Ziel ist es, dass möglichst bald in einen relativen Normalzustand zurückgekehrt werden kann …“

        Woher wissen Sie, welches Ziel die Exekutive verfolgt? Es wird doch nichts mitgeteilt und ein Diskurs darüber soll gar nicht erst stattfinden. Das Strategiepapier aus dem BMI, das voll und ganz auf Schockwirkung und Verunsicherung von ausgemachten Risikogruppen setzt, spricht Bände und ist an Perfidität nicht zu überbieten. Der Einzelne darf nicht mehr für sich entscheiden, ob er sich dem Risiko aussetzen will oder nicht. Das ist nach der Entscheidung des BVerfGs vom Februar zum selbstbestimmten Sterben – und der Herausstellung des eigenen Verständnis von Lebensqualität – schon bemerkenswert…

        Aber bleiben wir bei den Optionen:
        Wie realistisch und sinnvoll ist das Durchbrechen, also dann wohl ’stop the curve‘, von dem Sie r