Was an unserer Verfassung ist UNSERE Verfassung?
Diesen Vortrag (s.u.) habe ich heute bei der FDP Dresden anlässlich des Jahrestages der Verabschiedung des Grundgesetzes gehalten. Anbei noch ein Schnappschuss, den ich beim Ankommen vor dem Neustädtischen Bahnhof gemacht habe: Hier baut grad die Pegida für ihre Montagsdemo auf, die dann im Lauf des Abends aber, glaube ich, im Gewitterregen abgesoffen ist. Man beachte die am LKW lehnende Mistgabel! (Näher habe ich mich nicht hinzugehen getraut…)
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Mit-Liberale, wenn ich Sie mal als jemand, der der FDP nicht angehört noch nahesteht, so ansprechen darf.
Sie haben sich für Ihren Festvortrag anlässlich des heutigen Jahrestags der bundesdeutschen Verfassungsgebung einen Journalisten eingeladen. Sie hätten sich auch jemand anderes kommen lassen können, der Ihnen vielleicht in Erinnerung gerufen hätte, was für eine Erfolgsstory die 67 Jahre bundesdeutscher Verfassungsgeschichte doch war und wie, dem Grundgesetz sei Dank, die Bundesrepublik aus Teilung, Schmach und Zerstörung zu seiner heutigen tollen Position herangediehen ist, und das ist alles gar nicht falsch, da will ich mich gar nicht von distanzieren. Aber ich will Ihnen heute trotzdem etwas anderes erzählen und mit Ihnen einige Gedanken zur Verfassung in der ersten Person Plural teilen, zum „Wir“ in der Verfassung.
Das Wort „Wir“ hört man in diesen Tagen wieder sehr viel, gerade auch hier in Dresden, und zwar durchaus aggressiv vorgetragen: Wir sind das Volk! Wir im Gegensatz zu Euch: zum Establishment, zu „denen da oben“, zu den Altparteien (bitte sehr!), aber auch zur so genannten Lügenpresse, zu der dann wohl ich gehöre. Und natürlich im Gegensatz zu den Flüchtlingen, den gesichtslosen Horden da draußen von fremder Kultur und fremder Religion, die zu „uns“ hereindringen und die nach Meinung mancher sogar „uns“ in „unserem“ Land zu einer Minderheit zu machen drohen, so dass wir unser „Wir“-Sein bestenfalls noch in Reservaten aufrechterhalten können wie die amerikanischen Ureinwohner. Das sind gar nicht so wenige, die das tatsächlich glauben.
*
Was hat das mit dem Grundgesetz zu tun? Das Grundgesetz spricht nicht in der ersten Person, anders als etwa die amerikanische Verfassung, die bekanntlich mit den Worten „We, the People“ anfängt. Dafür kommt das andere Wort in jenem Satz „Wir sind das Volk“ im Grundgesetz sehr wohl vor, und zwar an zentraler Stelle.
Wir sind das Volk, heißt es. Das Volk als Staatsvolk ist nun wahrhaftig ein fundamentaler verfassungstheoretischer Begriff. Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus, heißt es in Artikel 20, und in Artikel 116 definiert das Grundgesetz, wer damit gemeint ist: alle deutschen Staatsangehörigen sowie die Deutschen in den früheren deutschen Ostgebieten, die der Verfassungsgeber 1949 aus historischen Gründen, auf die ich noch zurückkommen werde, nicht einfach ihrem Schicksal überlassen wollte.
Das Bemerkenswerte daran ist, dass hier eine Art Zirkelschluss stattfindet: Die Verfassungsordnung legt fest, wer das Volk ist, und das Volk legt fest, was die Verfassungsordnung ist. Es ist gerade kein faktischer, vorgefundener, ethnisch-kulturell definierter Begriff von Volk, auf den sich das Grundgesetz in Artikel 116 bezieht, sondern ein gesetzter, ein rechtlicher.
Wir sind das Volk, aber zu einem Volk werden „wir“ erst, wenn wir uns eine Verfassung geben, eine rechtliche Struktur, in der wir uns festlegen, wer dazu gehört und wie wir welche Entscheidungen treffen, die wir für uns alle als verbindlich anerkennen. Erst die Verfassung ist es, die „uns“ kollektiv entscheidungs- und handlungsfähig macht. Wenn man sich die Verfassung wegdenkt, dann sind „wir“ nur ein Haufen Leute, die sich wechselseitig voneinander überhaupt nichts sagen zu lassen brauchen. Für ein Volk, soweit das Wort jenseits von mythischer Imagination irgendeiner glorreichen Abstammungsgemeinschaft irgendeine verfassungsrelevante Bedeutung haben soll, ist die Verfassung buchstäblich konstitutiv. Deswegen heißt es ja Konstitution.
Das ist eine ungeheure Ermächtigung, die da passiert. Wir sind nicht länger eine ohnmächtige Ansammlung einzelner Menschen, wenn wir uns eine Verfassung geben, sondern ein ungeheuer mächtiges Kollektiv. Mit der Verfassung ermächtigen wir uns kollektiv, jeden einzelnen von uns zu bestimmten Verhaltensweisen zu zwingen, und zwar notfalls mit Gewalt. Wir selber tun das, nicht Gott, nicht die Tradition, schon gar nicht das Recht des Stärkeren, sondern wir. Ermächtigen uns.
Das ist mit dem Satz „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“ gemeint, der in Artikel 20 Grundgesetz steht und selbst mit verfassungsändernder Mehrheit nicht angetastet werden darf. In unserem Nachbarland Österreich heißt der entsprechende Satz „Alles Recht geht vom Volke aus“, ein Satz, mit dem ironischerweise der FPÖ-Kandidat Norbert Hofer seinen Wahlkampf bestritten hat. Dabei ist mit dem Verfassungssatz nicht etwa gemeint, dass „wir“ das Volk sind und immer Recht haben, sondern im Gegenteil: Zu Recht als etwas, das für uns alle verbindlich ist, wird ein staatlicher Gehorsamsanspruch nur, wenn und soweit er im Rahmen von uns selbst gesetzter Regeln entstanden ist. Man kann auch Rechtsstaatlichkeit dazu sagen.
Das ist nämlich nicht nur eine Ermächtigung, die da passiert, wenn wir uns eine Verfassung geben, sondern auch eine Beschränkung. Wir nehmen uns nicht nur ein Recht, wir binden uns auch. Wir binden uns an bestimmte Zuständigkeits- und Verfahrensregeln, nach denen wir ermitteln, was wir kollektiv wollen. Wir binden uns, Mehrheitsentscheidungen zu akzeptieren, und zwar auch dann, wenn sie gegen uns ausfallen. Dann sind wir eben überstimmt. Aber wir sind nicht unterdrückt. Wir binden uns an bestimmte Festlegungen, welche Mehrheit in welchen Fällen entscheidet. Und wer alles genau mitzählt, wenn die Mehrheit ausgezählt wird: die Mehrheit wovon? Das muss alles regelgebunden ablaufen, damit das funktioniert, und an diese Regeln binden wir uns mit unserer Verfassung.
Wie schwer das sein kann, gerade wenn die Mehrheit nur hauchdünn ausfällt, werden die Österreicherinnen und Österreicher jetzt erleben. Bisher war es aber so, dass auch die schmalste Mehrheit ausreicht für kollektiv verbindliche Entscheidungen größter Tragweite, ausreichen muss. Es kommt immer wieder vor, dass politische Weichenstellungen mit Auswirkungen für Generationen gerade auf solch schmaler Mehrheitsbasis getroffen werden. In Israel hat vor fast exakt 20 Jahren Netanjahu den Friedensprozess mit den Palästinensern beendet, obwohl nur einige Tausend Israelis mehr für ihn gestimmt haben als für seinen Kontrahenten Shimon Peres. Amerika ist George W. Bush in den Irakkrieg gefolgt und nicht Al Gore in den Kampf gegen den Klimawandel, obwohl Bush nur ein paar Hundert Stimmen in Florida von Gore trennten, und womöglich nicht mal die. Aber Bush war der Präsident, das hat schon bald niemand mehr bestritten. Und das mit gutem Grund. Wenn man anfängt, die selbst gesetzten Regeln zu bestreiten, dann hat man nichts mehr, was einen berechtigt, anderen zu sagen, was sie zu tun und zu lassen haben.
Diese Art von selbst gesetzten Regeln sind aber nicht die einzigen Bindungen, die wir eingehen, wenn wir uns eine Verfassung geben. Wir binden uns auch zu einem bestimmten Verhalten gegenüber denen, die nicht „Wir“ sind. Das sind zum Beispiel Minderheiten. Das sind andere gesellschaftliche Funktionssysteme, etwa Religionsgemeinschaften, oder die Wissenschaft, oder die Wirtschaft, oder die Kunst, deren Eigenlogik wir respektieren und nicht einfach der politischen Logik unserer kollektiven Entscheidungsfindung unterwerfen wollen.
Das ist aber auch der Einzelne, die Person, die wir mit unseren Kollektiventscheidungen nicht unbegrenzt bedrängen dürfen, weil wir uns selbst dazu gebunden haben. Wir dürfen auch den gefährlichsten Schwerverbrecher nicht unter der Bettdecke belauschen, weil wir in der Lage bleiben müssen, ihn als Person wahrzunehmen und nicht bloß als Gefahr. Wir dürfen auch der böswilligsten Kritikerin nicht ohne weiteres den Mund verbieten, weil wir uns taub und blind machen, was die Einzelnen, aus denen „Wir“ bestehen, denken und fühlen, wenn man nicht mehr angstfrei sagen kann, was man denkt und fühlt.
Ich spreche natürlich von den Grundrechten. An die Grundrechte binden wir uns nicht, weil wir so nett sind oder weil wir großzügig irgendwelchen Leuten ein Privileg gewähren, das wir ihnen jederzeit wieder wegnehmen können, wenn wir es uns anders überlegen. Sondern weil auch diese Regeln buchstäblich konstitutiv sind für unser „Wir“. Sie machen uns wahrnehmungsfähig für das Andere. Für das Nicht-„Wir“. Für unsere Umwelt, sozusagen. Für den Einzelnen im Gegensatz zum „Wir“. Für den Ausländer im Gegensatz zum „Wir“. Für die Religion, die nicht die unsere ist. Für die Meinung, die nicht die unsere ist. Für die Kunst, die uns nicht gefällt, und die Wissenschaft, die unsere Gewissheiten stört und uns lästig ist. All das können wir wahrnehmen, indem wir es erst mal da sein lassen. Ohne solche Bindungen wären wir ein blinder Riese, wie Polyphem, der in seiner Höhle sitzt und mit Felsbrocken schmeißt. Blinde Riesen leben meist nicht lange.
*
Das Andere ist aber auch oft gar nicht mehr so sehr das Andere. Nehmen wir wieder Österreich. Warum interessiert uns das so brennend, was da gerade passiert? Fühlt sich das wie Ausland an? Ist das nicht auch irgendwie unsere Sache, die da verhandelt wird? Unsere Sache als Europäer?
Mein Schlüsselerlebnis dazu war 2011, als ich mehr oder weniger zufällig in eine kleine Veranstaltung geriet, die ein Freund von mir an der Humboldt-Universität in Berlin organisiert hatte. Er hatte zwei Wissenschaftler aus Ungarn eingeladen, doch mal zu erzählen, was da verfassungspolitisch gerade passiert in ihrem Land. Zu diesem Zeitpunkt waren in Deutschland die Zeitungen voll vom ungarischen Mediengesetz. Von dem Verfassungsprojekt, von dem Vorhaben von Viktor Orbán und seiner Zweidrittelmehrheit, die konstitutionellen Grundlagen Ungarns komplett auszutauschen und nach seinen Vorstellungen zu gestalten, hatte zu dem Zeitpunkt außerhalb Ungarns noch kein Mensch Notiz genommen. Ich saß da im Publikum, außer mir waren vielleicht noch zehn Leute anwesend, und traute meinen Ohren nicht.
Orbáns Verfassung, ohne ins Detail gehen zu wollen, stärkt den Ermächtigungsaspekt und schwächt den Bindungs- und Beschränkungsaspekt der Verfassung in Ungarn. Jetzt könnte man sagen, das ist doch die Verfassung der Ungarn, aber doch nicht unsere Verfassung. Das stimmt. Aber nach dieser Verfassung bestimmt sich, nach welchen Regeln derjenige gewählt wird, der nachher in Brüssel im Rat mit am Tisch sitzt und über unser aller Wohl und Wehe mitentscheidet. Nach dieser Verfassung bestimmt sich, wie in Ungarn Recht gesetzt wird, das wir alle in Europa hinterher nach dem Grundsatz der wechselseitigen Anerkennung akzeptieren müssen.
Insoweit ist die Verfassung der Ungarn dann doch irgendwie auch unsere Verfassung. Genauer gesagt: Es gibt so etwas wie einen gemeinsamen Verfassungsraum, der die Ungarn einschließt und uns Deutsche und alle anderen Bürgerinnen und Bürger von EU-Mitgliedsstaaten auch. In Europa können wir schon längst nicht mehr nach unseren Angelegenheiten und euren Angelegenheiten differenzieren: Es gibt da ein europäisches „Wir“, und auch das ist irgendwie verfasst.
Das beschränkt sich noch nicht einmal auf das Territorium der Europäischen Union. Die Europäische Menschenrechtskonvention umfasst 47 Mitgliedsstaaten, sie reicht bis an den Kaukasus. Jede Woche entscheidet der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg mit Wirkung für diesen ganzen riesigen Raum, was „wir“ im Rahmen selbst gesetzter Regeln dürfen und nicht dürfen.
Und es gibt manche, die sogar den ganzen Erdball als entstehenden Verfassungsraum zu begreifen beginnen, mit globalen Rechtsbindungen, universellen Menschenrechten, weltumspannenden Kollektiventscheidungsmechanismen. „Unsere“ Verfassung ist so gesehen schon längst nicht mehr nur das Grundgesetz.
Zunehmend finden viele, dass diese supra- und internationale Konstitutionalisierung viel zu weit gegangen ist. In Großbritannien steht nicht nur das Brexit-Referendum an, sondern die amtierende Innenministerin fordert obendrein den Rückzug ihres Landes aus der Europäischen Menschenrechtskonvention. In der Schweiz versucht die rechtspopulistische SVP mit einem Referendum nach dem anderen, die völkerrechtlichen Verpflichtungen der Schweiz in punkto Menschenrechte zugunsten der eigenen „Souveränität“ zurückzudrücken. Und auch bei uns in Deutschland klingt in der Rechtsprechung des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts immer wieder die Forderung an, dass die supranationalen Bindungen des nationalen „Wir“ bestimmte Grenzen nicht überschreiten dürfen, damit auch weiterhin in Deutschland alle Staatsgewalt vom Volk ausgeht, sprich: vom deutschen Volk.
Wenn Verfassungsordnungen unterschiedlicher Herkunft und unterschiedlicher Wirkungskreise aufeinander treffen, dann gibt es natürlich Konflikte. Es kann theoretisch dazu kommen, dass der gleiche Sachverhalt nach der einen Verfassungsordnung so und nach der anderen anders zu beurteilen ist. Das Problem ist aber nicht nur ein rechtspraktisches: Schließlich ist eine Verfassung, die in ihrer Geltung von höherrangigem Recht abhängt, keine richtige Verfassung. Eine richtige Verfassung gilt, weil sie von einem Volk als verfassunggebender Gewalt, als Pouvoir Constituant, in Kraft gesetzt wurde (und – wie gesagt – dieses Volk im gleichen Moment konstitutiert hat), nicht weil es irgendwo höherenorts so beschlossen worden ist.
Diese Konflikte empfinden in besonderem Maße die Verfassungsgerichte, die zur Auslegung und Hütung der jeweiligen Verfassungsordnung berufen sind. Deswegen ist es kein Wunder, dass auch in Karlsruhe immer wieder mal die Handschuhe ausgezogen werden, um tatsächliche oder vermeintliche Übergriffe europäischer Gerichte in die eigene Deutungshoheit abzuwehren. Das Bundesverfassungsgericht war damit zwar Vorreiter, aber mittlerweile tun das viele andere europäische Verfassungsgerichte auch und orientieren sich dabei mitunter sehr eng am Karlsruher Vorbild.
Daran ist auch gar nichts auszusetzen. Die Verfassungsgerichte auf den verschiedenen Ebenen in Europa sind gemeinsam dafür verantwortlich, den konstitutionellen Bindungen politischer Macht auf allen Ebenen zur Geltung zu verhelfen, und sie tun das in einer Konstellation, die der Präsident des Bundesverfassungsgerichts Andreas Voßkuhle „Verfassungsgerichtsverbund“ genannt hat. Was das genau sein soll und nach welchen Regeln dieser Verbund funktioniert, ist gar nicht so leicht zu sagen. Entscheidend ist dabei aber, dass die Gerichte ihr Nebeneinander in sehr weitem Umfang akzeptieren und nicht der Versuchung verfallen, ihre Verfassungsordnung und damit ihr eigenes Richterwort als allein letztentscheidend zu betrachten.
Von dieser Versuchung ist übrigens auch der Europäische Gerichtshof in Luxemburg nicht immer frei. In letzter Zeit hat der EuGH gelegentlich sehr hemdsärmelig versucht, sich seinerseits einen Konkurrenten auf europäischer Ebene vom Leibe zu halten, nämlich den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. In einem sehr umstrittenen Gutachten hat der EuGH unlängst die rechtlichen Hürden für einen Beitritt der Europäischen Union zur Menschenrechtskonvention so hoch gelegt, dass ein Beitritt auf absehbare Zeit unmöglich erscheint. Damit erfüllt die EU eine Bedingung, die sie an jeden Beitrittskandidaten stellt, nämlich Mitglied der Europäischen Menschenrechtskonvention zu sein, formell selber nicht (wobei man allerdings sagen muss, dass die EMRK inhaltlich im Recht der Europäischen Union ohnehin gespiegelt ist).
Den Schlüssel, wie man diese Konfliktkonstellation geknackt bekommt, hat das Bundesverfassungsgericht geliefert, und zwar schon in den 70er und 80er Jahren. Damals beschloss das Bundesverfassungsgericht, fortan darauf zu verzichten, Europarecht am Maßstab des deutschen Grundgesetzes zu messen, solange die europäische Rechtsordnung im Großen und Ganzen die Grundrechte, wie wir sie kennen, bewahrt und beachtet. Solange, das war das Schlüsselwort: Man lässt sich wechselseitig in der jeweiligen Rechtssphäre gewähren, ohne sich ständig in den Arm zu fallen und eifersüchtig das eigene letzte Wort durchzusetzen. Solange im Prinzip kein Grund besteht, sich das Vertrauen zu entziehen. Aber wenn beim jeweils anderen grundsätzlich etwas aus dem Ruder läuft, dann behält man sich vor zu sagen: Da machen wir nicht mit.
Dieser so genannte Solange-Vorbehalt ist im Verhältnis der Mitgliedsstaaten zur EU mittlerweile gut etabliert. Aber auch in umgekehrter Richtung zeichnet sich womöglich so etwas ab. Der Direktor des Max-Planck-Instituts für Völkerrecht in Heidelberg, Armin von Bogdandy, hat einen Vorschlag entwickelt, wie umgekehrt die Europäische Union bzw. der Europäische Gerichtshof aktiv werden kann, wenn in einem Mitgliedsstaat verfassungsrechtlich fundamental etwas schief geht. Der Anlass dafür war Ungarn. Da ist nicht viel passiert, weil schon auf politischer Ebene die EU-Institutionen zögerten, mit der ungarischen Regierungspartei FIDESZ allzu hart einzusteigen – sie sitzt schließlich mit der CDU im Europaparlament in einer Fraktion. Jetzt, im Fall Polens, ist das anders. Die Kommission lässt im Augenblick keinerlei Bereitschaft erkennen, die polnische Regierung mit ihrer Demontage des Verfassungsgerichts ungeschoren davon kommen zu lassen. Wer weiß, was sich da noch draus entwickelt.
Im Übrigen ist bei der europäischen Ebene noch nicht Schluss. So etwas ähnliches wie einen Solange-Vorbehalt macht auch die EU gegenüber ihren eigenen globalen völkerrechtlichen Bindungen geltend, wenn sie darauf besteht, bestimmte Beschlüsse des UN-Sicherheitsrats nicht umzusetzen. Es geht dabei um Sanktionen im Kampf gegen den Terror, wo der Sicherheitsrat bestimmte Firmen und Leute auf eine schwarze Liste gesetzt und deren gesamtes Vermögen eingefroren hatte, ohne dass diesen irgendeine Möglichkeit zur Verfügung stand, in einem unabhängigen Verfahren überprüfen zu lassen, ob sie zu Recht auf dieser Liste stehen. Das, so der EuGH in seiner berühmten Kadi-Entscheidung, macht die EU nicht mit, obwohl sie völkerrechtlich eigentlich muss.
Das Gute an Solange-Vorbehalten ist, dass sie der anderen Seite die Chance gibt, die nötigen verfassungsrechtlichen Bindungen dann eben herzustellen. Das hat die EU nach dem ersten Solange-Urteil des Bundesverfassungsgerichts getan, und auch beim UN-Sicherheitsrat hat sich, wenngleich der Mangel an unabhängiger gerichtlicher Überprüfbarkeit immer noch nicht ganz behoben ist, viel getan, was sonst nicht so leicht passiert wäre. Der Solange-Vorbehalt ist ein Konstitutionalisierungsmotor und damit eine richtig gute Sache.
*
Zurück zum Volk, zurück zur ersten Person Plural. Wir sind das Volk: Dieser Ruf hat bekanntlich eine Geschichte, und manchen von Ihnen ist sie vielleicht sogar aus eigener Anschauung bekannt.
Die längste Zeit seiner Geschichte war das deutsche Staatsvolk des Grundgesetzes eine höchst komplizierte Angelegenheit. Das lag an der deutschen Teilung und der Tatsache, dass sich nach der NS-Diktatur und dem Weltkrieg, nach hunderttausendfacher Zwangs-Aus- und Einbürgerung und millionenfacher Flucht und Vertreibung alles andere als von selbst verstand, wer Deutscher war und wer nicht. Die Männer und Frauen, die 1948/49 in Bonn das Grundgesetz schrieben, wollten der Bundesrepublik auch für diejenigen Deutschen die staatliche Verantwortung auferlegen, die nicht im Geltungsbereich der westdeutschen Verfassung lebten. Es gab sozusagen ein tatsächliches Staatsvolk in Westdeutschland, und ein „eigentliches“ Staatsvolk, das auch die Bürgerinnen und Bürger in der DDR und die Deutschen in den Ostgebieten einschloss. Das ging so weit, dass das Bundesverfassungsgericht in den 80er Jahren die Forderung aufstellte, dass Einbürgerungen in der DDR von der Bundesrepublik auch dann ungeprüft zu akzeptieren seien, wenn es im konkreten Fall nach bundesdeutschem Recht gar keinen Einbürgerungstatbestand gegeben hätte. Wen die DDR zum Deutschen machte, den hatte auch die Bundesrepublik als Deutschen zu akzeptieren. Denn anderenfalls hätte das Staatsvolk der DDR und das deutsche Staatsvolk im Sinne des Grundgesetzes personell auseinander laufen können, und dass das nicht sein darf, gehörte zur Verfassungsdoktrin der Bundesrepublik integral dazu.
Aus dieser Logik heraus erschien es aus westdeutscher Perspektive folgerichtig, das Grundgesetz 1990 per Beitritt der ostdeutschen Bundesländer auf das Territorium der einstigen DDR auszudehnen. Die Bürgerinnen und Bürger der DDR hatten aus dieser Perspektive ja schon immer zum Staatsvolk dazugehört, nur der territoriale Geltungsbereich musste noch erweitert werden. Dass unter den betroffenen Bürgerinnen und Bürgern das viele ganz anders sahen und eigentlich erwarteten, die eben erst errungene Selbstbestimmung über ihr konstitutionelles Geschick nun auch ausüben zu dürfen, steht auf einem anderen Blatt.
Womit wir beim Jahr 1989 wären, und beim Ursprung des Rufs: Wir sind das Volk. Mit diesem Ruf hatten die Demonstranten in Leipzig, Berlin und anderswo der SED-Regierung sozusagen den konstitutionellen Stecker gezogen. Mit diesen vier Worten hatten sie den Finger darauf gelegt, dass die Macht in der DDR nicht auf konstitutioneller Selbstermächtigung des Volkes, sondern auf der Gewalt einer selbst ernannten und sich selbst reproduzierenden Elite beruhte, und dahinter auf den Panzern der sowjetischen Armee. Sie hatten den Finger darauf gelegt, dass das Recht in der DDR dem Nicht-„Wir“, dem vom Standpunkt der politischen Macht aus gesehen Anderen, keinen Schutz bot vor der alles überwuchernden Wissbegier und Zersetzungslogik der Stasi. Die DDR war kein Verfassungsstaat. Diese Tatsache tauchte der Ruf „Wir sind das Volk“ in gleißend helles Licht.
Jetzt wird wieder „Wir sind das Volk“ gerufen. Die Anknüpfungspunkte scheinen zahlreich zu sein: eine sich selbst reproduzierende Elite, die an den Bedürfnissen der einfachen Leute vorbei ihre Partikularinteressen durchsetzt, und das nicht nur in Deutschland, sondern in der gesamten westlichen Welt, wo überall das „Volk“ sich unter ähnlichen Slogans sammelt, um dem satten Establishment das Fürchten zu lehren und vor den Zumutungen der Globalisierung Schutz hinter nationalen Grenzen einzufordern.
Aber wenn man genauer nachdenkt, was diejenigen, die „Wir sind das Volk!“ rufen auf den Straßen von Dresden und anderswo, damit im Schilde führen – im Kontext einer demokratischen Verfassung wie dem Grundgesetz –, dann kommt man ins Grübeln.
Das sind die einfachen Leute, die kleinen Leute, wird oft gesagt, die nicht gehört werden und sich auf diese Weise halt jetzt Gehör verschaffen. Mag durchaus sein. Und an Versäumnissen, die es verdienen, laut und zornig angeprangert zu werden, hat es ja wahrhaftig nicht gefehlt, vom Bankenbailout bis zum Mismanagement der Flüchtlingskrise in Europa. Da muss man kein Rechter sein, um wütend zu werden. Und wenn diese Wut in der Politik keine Resonanz findet, dann verschafft sie sich halt auf der Straße Luft.
Aber nehmen wir diesen Satz doch mal beim Wort: Wir sind das Volk! Wir. Sind das Volk!
Die