Wenn der Vorhang fällt
NGO-Schiffe im Mittelmeer und ein fragwürdiges Rechtsstaatsverständnis des Verkehrsministeriums
Das Transparenzportal FragdenStaat hat letzte Woche rund 900 Seiten interne Unterlagen des Bundesverkehrsministerium für Verkehr und Infrastruktur (“BMVI”) veröffentlicht. Darin finden sich E-Mailverkehr, Verordnungsentwürfe und Stellungnahmen (“IFG-Dokumente”) zur 19. Schiffssicherheitsanpassungsverordnung (“SchSAV”). Aus den Dokumenten geht hervor, dass die Voraussetzungen für eine Verordnungsänderung durch das BMVI nicht vorlagen, die offizielle Begründung für die Verordnungsänderung nur vorgeschoben war und das BMVI rechtsstaatliche Verfahrensstandards missachtet hat. Der Blick hinter die Kulissen zeigt auch, worum es dem BMVI wirklich ging: die zivile Seenotrettung zielgerichtet zu behindern.
Die Anpassungsverordnung und ihre Wirkung
Am 3. März 2020 änderte das BMVI durch die SchSAV unter anderem die Schiffssicherheitsverordnung (“SchSV”) und die See-Sportbootverordnung (“SeeSpbootV”). Konkret geht es um eine Definitionsänderung: Vor der Änderung waren kleinere Schiffe (Sportboote und sogenannte Kleinfahrzeuge), die zu Sport- und Freizeitzwecken eingesetzt werden, von bestimmten Sicherheitsanforderungen ausgenommen und benötigten insbesondere kein Schiffssicherheitszeugnis. Durch die Verordnungsänderungen definiert das Ministerium diese Freizeitboote nun als solche Schiffe, die ausschließlich zu Sport- oder Erholungszwecken eingesetzt werden.
Da nach der Rechtsauffassung des Ministeriums Missionen mit humanitärem Zweck nicht unter einen Erholungszweck fallen, ist für sie seit März ein Schiffssicherheitszeugnis notwendig. Dadurch werden Sicherheitsanforderungen gestellt, die für die Berufsschifffahrt gedacht sind und für humanitäre Missionen regelmäßig keinen Sinn ergeben. Betroffene Organisationen wie beispielsweise Mare Liberum e.V., Mission Lifeline e.V. und RESQSHIP e.V. können diese Anforderungen de facto nicht erfüllen. Für den Fall, dass die Schiffe ohne ein solches Schiffssicherheitszeugnis auslaufen, drohen den betroffenen NGOs Bußgelder bis zu 100.000,00 EUR (siehe auch hier und hier).
Die Konstruktion von Handlungsbedarf
Ministerien dürfen nur dann Recht in Form von Verordnungen erlassen, wenn sie dazu in einem Parlamentsgesetz ermächtigt sind. Das BMVI fußt seine Kompetenz für die Rechtsänderung auf § 15 Schiffssicherheitsgesetz (“SchSG”) und §§ 9 Abs. 1, 7 Abs. 1 iVm § 1 Nr. 4 Seeaufgabengesetz (“SeeAufgG”). Das BMVI darf demnach nur dann im Wege einer Rechtsverordnung aktiv werden, wenn abstrakte „Gefahren für die Sicherheit und Leichtigkeit des Seeverkehrs“ und den „sicheren, effizienten und gefahrlosen Schiffsbetrieb“ bestehen (§ 9 Abs. 1 SeeAufgG).
Für das Vorliegen einer abstrakten Gefahr müssen hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte bestehen, dass ein Sachverhalt im Regelfall auch mit einer konkreten Gefahr im Sinne des Gefahrenabwehrrechts einhergeht. Auf der Bundespressekonferenz am 10. Juni 2020 konnte der Vertreter des BMVI keinen einzigen Umstand nennen, der eine Gefahr indiziert. In einer schriftlichen Antwort auf eine Frage der Bundestagsabgeordneten Luise Amtsberg hat das BMVI am 8. Juli 2020 einzig zwei Vorfälle aus dem Jahr 2017 als sicherheitsrelevante Umstände aufgeführt (S. 137, 138). Im Anschluss an diese Einzelfälle hatte das BMVI in zwei Rechtsänderungen die Möglichkeit, die Rechtsgrundlagen zu ändern (nämlich mit der 17. SchSAV/2017 und der 18. SchSAV/2018). Hat es aber nicht.
Die IFG-Dokumente beziehen sich auch nicht auf tatsächliche Umstände oder setzen sich mit der Frage auseinander, weshalb humanitäre Einsätze gefährlicher sein sollen als sportliche Einsätze. Es hat seit Beginn der zivilen Seenotrettung im Mittelmeer am 1. Juli 2015 keinen einzigen bekannten Unfall gegeben, bei dem ein Crewmitglied oder eine gerettete Person an Leib oder Leben geschädigt wurde. Im gleichen Zeitraum hat es beispielsweise allein auf dem Bodensee hunderte Verletzte und dutzende Tote durch Unfälle mit Sportbooten gegeben.
Vielmehr verdeutlichen die Dokumente, worum es dem Ministerium eigentlich ging. Zu einem Änderungsvorschlag des Deutschen Seglerverbandes schreibt das Referat: „Damit hätten wir nichts gewonnen, sondern vielmehr einen Weg zur Nutzung von Sportbooten für die Flüchtlingsrettung geöffnet“ (S. 654).
Die Umgehung unliebsamer Rechtsprechung
Bereits im April 2019 verbot die zuständige Behörde dem Verein Mare Liberum e.V. per Festhalteverfügung, mit seinem gleichnamigen Schiff den griechischen Hafen zu verlassen. Dies geschah mit der Begründung, dass es sich bei Menschenrechtsbeobachtung, die der Verein betreibt, nicht um einen Freizeitzweck handele. Hintergrund war dabei eine Weisung des BMVI, nach der der Begriff des Freizeitzwecks so ausgelegt werden sollte, dass Schiffe mit humanitärem Einsatzzweck nicht darunter fallen.
Das OVG Hamburg stellte daraufhin klar, dass humanitäre Maßnahmen – wie die Überwachung der Menschenrechte oder die Rettung auf See – unter den Freizeitzweck fallen können und das Schiff kein Schiffssicherheitszeugnis benötige. Auf S. 43 der IFG-Dokumente diskutiert das BMVI die mögliche Reaktion auf den verlorenen Rechtsstreit. Die Option, die Rechtsprechung zu akzeptieren, wird abgelehnt. Begründet wird dies damit, dass ansonsten der Betrieb von Schiffen zur “Flüchtlingsrettung” (sic!) ohne staatliche Kontrolle möglich wäre (S. 44). Das Ministerium entschied daher, die relevanten Verordnungen zu ändern. Öffentlich sollte stets kommuniziert werden, dass dies aus schiffssicherheitsrechtlichen Erwägungen geschehe (S. 46).
Die Umgehung rechtsstaatlicher Vorgaben
In rechtsstaatlichen Verfahren sind individuell (Grundrechts-)Betroffene anzuhören und potentielle Einwände gegen belastende Maßnahmen zu berücksichtigen. Diesem Grundsatz tragen §§ 47 Abs. 1, 62 Abs. 2 der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien Rechnung, wonach bei Rechtsverordnungen durch Bundesministerien eine Beteiligung von Ländern, kommunalen Spitzenverbänden, Fachkreisen und Verbänden erfolgt, wenn ihre Belange berührt sind.
Betroffene NGOs wurden jedoch gerade nicht angehört – mit folgenden Argumenten: Es würde ein Präzedenzfall geschaffen (S. 678, 709, 721) und Aufruhr erzeugt werden (sogenannte “außenpolitische Reflexwirkung”, S. 724). Zudem führe die Rechtsänderung zu einer zeitlichen Verzögerung (S. 678, 701, 721). Dass die Verordnungsänderung als Einzelfallgesetz aufgefasst werden könnte, das Seenotrettung verhindern soll, war auch dem Ministerium nicht entgangen. Aus den Dokumenten geht hervor, dass Beteiligte vor einem solchen Einzelfallgesetz, einer “Lex Alan Kurdi” (sic!), gewarnt haben müssen (S. 721). In einer E-Mail vom 8. Februar 2020 wird versucht, diesen Einwand zu entkräften: “Die Regelung erfolgt ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Herstellung von Rechtssicherheit…” (S. 721).
Das Ministerium hörte stattdessen nur solche Verbände an, die gar nicht oder nur geringfügig betroffen sind – mit einer Frist von 3 Wochen (S. 474). Auf S. 303 wird ersichtlich, dass das BMVI in der Vergangenheit nicht nur sogenannte Spitzenverbände im Rahmen von Verordnungsänderungen angehört hat, sondern auch Gewerkschaften und eine Seerechtsstiftung. Das Argument, die Beteiligung von NGOs schaffe einen Präzedenzfall, geht also fehl.
Vergleicht man die SchSAV mit vorhergehenden Änderungsverordnungen, fällt darüber hinaus auf, dass die Möglichkeiten der Beteiligung von anderen Ressorts, Ländern und Verbänden erheblich eingeschränkt waren. Während 2019 der Zeitraum vom Referentenentwurf bis zur Verkündung einer Verordnung durchschnittlich rund 200 Tage betrug, hat das BMVI die SchSAV innerhalb von 76 Tagen verkündet.
Die vorgeschobene Begründung
Auffällig kurz ist aus rechtsstaatlicher Sicht auch der Zeitrahmen zur Beteiligung der Bundestagsfraktionen, der übrigen Ministerien und der (Spitzen-)Verbände. Die Frist zur Stellungnahme für andere Ministerien betrug einen Monat ab dem 18. Dezember 2019 (inklusive Weihnachtsfeiertage und Neujahr; S. 336). Den Fraktionen räumte das BMVI eine Frist von neun Tagen ein, um Stellung zu den Rechtsänderungen zu beziehen (S. 394, 395). Wer den Parlamentsbetrieb kennt, weiß, dass neun Tage wenig Zeit sind. Änderungen des Schiffssicherheitsrechts gehen regelmäßig nicht mit gesellschaftlichen Debatten einher und das Erkennen der Auswirkungen der Rechtsänderung auf zivile Seenotrettung und Beobachtungsmissionen hätte eine intensive Analyse der Dokumente erfordert, die in neun Tagen nur sehr schwer durchzuführen ist. Dass die Regelung – wenn sie erkannt worden wäre – auf “massiven Widerstand” stoßen würde (S. 701), war dem Ministerium bekannt.
Die fehlende Anhörung betroffener NGOs und die kurzen Fristen zur Stellungnahme, inklusive der (außerordentlichen) zeitgleichen Abstimmung mit den anderen Bundesministerien, Fraktionen, Verbänden und Ländern (S. 387, 723), begründete das BMVI damit, dass Deutschland bereits im Verzug sei mit der Umsetzung der EU-Richtlinien 2017/2108, 2017/2109 und 2017/2110. Die Änderungen, welche NGO-Schiffe betreffen, waren selbst aber gerade nicht aufgrund europarechtlicher oder internationaler Vorgaben notwendig. Diese EU-Richtlinien betrafen vielmehr Regelungsbereiche, die keinerlei Bezug zu den in diesem Beitrag aufgezeigten Änderungen des Schiffssicherheitsrechts aufweisen.
Bemerkenswert ist, dass innerhalb des BMVI stets die Rede war von der “besonderen Bedeutung” der hier diskutierten Rechtsänderung, die die zivile Seenotrettungsorganisationen betrifft (S. 299). In der externen Kommunikation hieß es lediglich, dass die Verordnung wegen EU-Umsetzungsfristen schnellstmöglich in Kraft treten solle (S. 337, 387, 474). Einwände innerhalb des BMVI, die Verbindung der Richtlinienumsetzung mit den Änderungen der SchSV und SeeSpbootV seien unnötig und problematisch, wurden übergangen (S. 700 f.).
Interessanterweise warnte sogar das Auswärtige Amt explizit vor zu kurzen Fristen und einer fehlenden Anhörung der NGOs und verwies dabei sowohl auf das Gebot legislativer Transparenz, als auch auf niederländische Rechtsprechung (S. 409, 672). In den Niederlanden sind sicherheitsrechtliche Regelungen für NGO-Schiffe nach einer von Sea-Watch e.V. geführten Klage für ungültig erklärt worden – insbesondere wegen zu kurzer Umsetzungsfristen. Die Meinung des BMVI dazu: “Hinweis [des Auswärtigen Amtes] auf NL [Niederlanden] ist Unsinn” (S. 671).
Hinter den Kulissen des BMVI
Das BMVI ist nur dazu berechtigt, den Einsatz von Schiffen zu regulieren, um Gefahren für die Sicherheit und Leichtigkeit des Seeverkehrs abzuwehren. Mithilfe der IFG-Dokumente lässt sich rekonstruieren, dass das BMVI mitnichten um die Sicherheit und Leichtigkeit des Seeverkehrs besorgt war und ein solcher Grund zur Sorge empirisch auch nicht bestand. Es ging Bundesverkehrsminister Scheuer offenkundig darum, die zivile Seenotrettung zielgerichtet zu behindern. Zunächst versuchte es das Ministerium 2019 mit einer Dienstanweisung an die untergeordnete Behörde, die daraufhin die erste Festhalteverfügung erließ. Nachdem die Verfügung erfolgreich vor Gericht angefochten wurde, holte das BMVI zum Rundumschlag aus und änderte die geltenden Verordnungen, um die OVG-Rechtsprechung zu umgehen. Die zuständige Behörde erließ daraufhin diesen Sommer Festhalteverfügungen gegen zwei Schiffe von Mare Liberum, wehalb die beiden Schiffe des Vereins (‘Mare Liberum’ sowie ‘Sebastian K.’) aktuell ihren Hafen nicht verlassen können.
Im Ergebnis ist diese hier im Detail dargelegte Art und Weise der Verordnungsänderung nicht nur nach rechtsstaatlichen Maßstäben scharf zu kritisieren. Sie ist auch menschenverachtend und rassistisch, denn eine solche “Verkehrspolitik” führt unmittelbar dazu, dass noch mehr Menschen im Mittelmeer ertrinken, in diesem Jahr bereits über 550 (Stand 7. September 2020). Unterstützung im Geiste findet der Verkehrsminister bei Bundesinnenminister Horst Seehofer, der ihn angeleitet haben soll, den “Taxi”-Dienst ziviler Seenotrettungsorganisationen zu beenden.
Die Auswirkungen derart zielgerichteter Politik gegen humanitäre Organisationen hat das vergangene Wochenende gezeigt: Griechische Beamt_innen durchsuchten offensichtlich rechtswidrig das Schiff Mare Liberum, beschlagnahmten Geräte und nahmen Crewmitglieder fest. UN-Organisationen drängen europäische Staaten wiederholt, die Behinderung der Arbeit von NGO-Schiffen im Mittelmeer zu unterlassen. Diese Aufforderung gilt auch gegenüber dem BMVI. Der “Rechtskampf”, der nun bevorsteht, wird erneut vor der Hamburger Verwaltungsgerichtsbarkeit stattfinden. Der betroffene Verein Mare Liberum hat bereits Eilrechtsschutz gegen die Festhalteverfügungen beantragt.