Wird Deutschland durch Waffenlieferungen an die Ukraine zur Konfliktpartei?
Nach dem altehrwürdigen Neutralitätsrecht ist das Territorium neutraler Mächte „unverletzlich“1). Konfliktparteien dürfen es deshalb in keiner konfliktbezogenen Weise nutzen, z.B. zum Durchtransport von Kriegsmaterial2). Doch wann verliert ein Staat seine Neutralität? Absolute Neutralität kann es in Zeiten kollektiver Verteidigungsbündnisse nur geben, wenn ein Staat, wie die Schweiz etwa, einem solchen Bündnis nicht angehört und auch nicht an kollektiven friedenserhaltenden oder -stabilisierenden Maßnahmen teilnimmt. Schon dies zeigt, dass das Recht der Neutralität in einem Spannungsverhältnis zum Recht kollektiver Sicherheit steht. Wenn etwa der UN-Sicherheitsrat friedenserhaltende Maßnahmen gegen einen Aggressorstaat im Sinne von Art. 41, 42 UN Satzung (UNS) beschließt, so sind alle UN-Mitgliedsstaaten, auch neutrale Staaten wie die Schweiz, zur Befolgung dieser Maßnahmen verpflichtet. Ist der Sicherheitsrat aufgrund des Vetos eines ständigen Mitglieds (etwa Russlands) nicht handlungsfähig, kann die UN Generalversammlung (GV) propio motu (Art. 10, 11 UNS) oder im Rahmen einer Uniting for Peace (U4P) Resolution Empfehlungen beschließen3). Auch wenn GV-Beschlüsse nicht bindend sind, legitimieren sie doch die Ergreifung entsprechender Maßnahmen und überwinden damit auch eventuelle Neutralitätseinwände.
Für Staaten, die wie Deutschland ohnehin nicht absolut neutral sind, weil sie etwa einem Militärbündnis angehören, stellt sich die Frage, wann sie ihre relative (konfliktbezogene) Neutralität verlieren und zu einer Konfliktpartei werden. Die Frage ist kompliziert, weil zwei Rechtsregime (Neutralitätsrecht und UN-Satzung) zusammenspielen und es neben (absolut) neutralen Staaten und Konfliktparteien auch eine Zwischenkategorie von Staaten gibt, die weder neutral noch Konfliktpartei sind4). Und insoweit stellt sich die Frage, welche Art von Maßnahmen zugunsten einer Konfliktpartei (z.B. Ukraine) den betreffenden Staat selbst zu einer Konfliktpartei machen und – als weitere Konsequenz – die andere Konfliktpartei (z.B. Russland) zu Gegenmaßnahmen ermächtigen. Für Michael Bothe, einen der führenden Experten auf dem Gebiet des humanitären Völkerrechts, stellt jede Unterstützung einer Konfliktpartei eine Verletzung des Neutralitätsrechts dar, die zu Gegenmaßnahmen berechtigt5). An anderer Stelle6) nennt Bothe insbesondere Waffenlieferungen als unzulässige Unterstützung7). Dabei komme es nicht darauf an, ob der unterstützte Staat das Opfer eines (völkerrechtswidrigen) Angriffs geworden sei, denn nach dem Grundsatz der Gleichheit der Konfliktparteien spiele die Rechtmäßigkeit bzw. Rechtfertigung des Angriffs keine Rolle, vielmehr sei strikt zwischen dem ius ad bellum und dem ius in bello zu trennen8).
Wenn man dieser Ansicht folgt, stellen deutsche Waffenlieferungen an die Ukraine zumindest eine Neutralitätsverletzung dar, die Russland zu Gegenmaßnahmen berechtigt, z.B. zu einem Angriff auf ein deutsches Schiff, welches Waffen für die Ukraine transportiert. Bothe erkennt immerhin an, dass das Neutralitätsrecht durch die UN-Satzung und insbesondere durch Sicherheitsratsbeschlüsse modifiziert werden kann9). Doch selbst ohne einen solchen Beschluss oder eine GV-Empfehlung kann das Neutralitätsrecht es Drittstaaten nicht verwehren, zugunsten eines völkerrechtswidrig angegriffenen Staates einzuschreiten. Dies folgt zunächst aus dem kollektiven Selbstverteidigungsrecht i.S.v. Art. 51 UNS, das UN-Mitgliedsstaaten, einschließlich Drittstaaten10), sogar militärische Gegenmaßnahmen erlaubt und insoweit das Neutralitätsrecht verdrängt.
Die UN Völkerrechtskommission hat in ihrem Entwurf zur Staatenverantwortlichkeit (Artikel. 21) in diesem Sinne anerkannt, dass eine „lawful measure of self-defence“ im Sinne des UNS die Rechtswidrigkeit des entsprechenden Handelns ausschließt. Auch wenn die Kommentierung offen lässt, ob sich Art. 21 auch auf die Nothilfe durch Drittstaaten bezieht, so spricht dafür doch der Bezug auf die UNS. Aus dem Recht der Staatenverantwortlichkeit (Art. 41 II) lässt sich weiter entnehmen, dass Staaten den Bruch zwingenden Völkerrechts11) nicht in irgendeiner Weise anerkennen oder zu ihm beitragen sollten; vielmehr sind sie berechtigt, wenn nicht gar verpflichtet, gegen die Völkerrechtsverletzung und den daraus folgenden rechtswidrigen Zustand vorzugehen12). Eine Neutralitätsrechtsverletzung wiederum, sollte man eine solche im Lichte von Art. 51 UNS überhaupt noch annehmen können, kann nicht zu über die UN-Satzung, insbesondere das Gewaltverbot (Art. 2(4) UNS), hinausgehenden Gegenmaßnahmen berechtigen; insbesondere dürften bewaffnete Repressalien ausgeschlossen sein13).
Zu berücksichtigen ist insoweit auch, dass nicht jede Art einer Neutralitätsrechtsverletzung den betreffenden Staat zu einer Konfliktpartei im humanitärvölkerrechtlichen Sinne machen kann; vielmehr wird man davon nur ausgehen können, wenn die Unterstützungsmaßnahme als unmittelbare Teilnahme an den Feindseligkeiten i.S.v. Art. 51 III ZP I und Art. 13 III ZP II zu deuten ist. Zuletzt sei noch darauf hingewiesen, dass der russische Angriffskrieg gegen die militärisch weit unterlegene Ukraine die strikte Trennung von ius ad bellum und ius in bello und die daraus folgende Gleichstellung und -behandlung der Kombattanten von Verletzer-/Angreifer- und Opferstaat im Rahmen des bewaffneten Konflikts auf eine harte Bewährungsprobe stellt. Zumindest in solchen Situationen extremer Asymmetrie verdienen die moralphilosophischen Argumente der Befürworter einer Berücksichtigung des Kriegsgrundes14) verstärkte Beachtung.
Herrn Dr. Lippold, Göttingen, sei für wichtige Hinweise gedankt.
References
↑1 | Art. 1 Hague „Convention (V) respecting the Rights and Duties of Neutral Powers and Persons in Case of War on Land, 18.10.1907 |
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↑2 | Art. 2 Hague Convention (V) |
↑3 | näher Barber, EJIL: Talk, 26.2.2022 |
↑4 | vgl. Art. 2 c) Erstes Zusatzprotokoll zu den Genfer Konventionen: „other State not a Party to the conflict“ |
↑5 | in Fleck, Handbook of International Humanitarian Law, 4. Aufl. 2021, S. 603 f. |
↑6 | MPEPIL, 2015, para. 36 |
↑7 | s. insoweit auch Art. 6 Hague „Convention (XIII) concerning the Rights and Duties of Neutral Powers in Naval War, 18.10.1907 |
↑8 | in Fleck, a.a.O., S. 612 |
↑9 | in Fleck, a.a.O., S. 604 |
↑10 | Nolte/Randelzhofer, in Simma et al., UN Charter Commentary, 3. Aufl. 2012, Art. 51 para. 47 f. |
↑11 | wie etwa des Grundsatzes territorialer Unversehrtheit und des Gewaltverbots i.S.v. Art. 2 II UNS durch den russischen Angriffskrieg, s. hier |
↑12 | deshalb etwa für eine Aussetzung von Nordstream II Desierto, EJIL-Talk, 22.2.2022 |
↑13 | so auch Bothe, MPEPIL, para. 28 und in Fleck, a.a.O., S. 612 |
↑14 | ursprünglich McMahan, 2011 |
Hallo Herr Ambros,
sie werfen leider die Begrifflichhkeiten durcheinander und beantworten die eigentlich aufgeworfene Frage nicht:
Zur Beantwortung müssten Sie subsumieren. Dazu müssten Sie den Begriff »Konfliktpartei« definieren und die herangezogene Rechtsquelle einordnen. Sie vernachlässigen beides und verbiegen im Ergebnis die aufgeworfene Frage dahin, ob ein waffenliefernder Staat mit Gegenmaßnahmen von einem Staat überzogen werden darf, der sich in einem internationalen bewaffneten Konflikt mit einem dritten Staat befindet, der die Waffenlieferung erhält. Darum geht es aber bei der Ausgangsfrage gerade nicht.
Darauf stellt auch das humanitäre Völkerrecht nicht für die Beantwortung der Ausgangsfrage ab: Nach dem humanitären Völkerrecht, das i.W. aus internationalen Abkommen und Völkergewohnheitsrecht besteht, handeln Staaten durch ihre Organe und deren Amtswalter. Im Ausgangsbeispiel geht es um den Fall eines »internationalen bewaffneten Konflikts« im Sinne des humanitären Völkerrechts. An einem »internationalen bewaffneten Konflikt« ist nach humantitärem Völkerrecht nur Beteiligter, wer sogenannte »Kombatanten« einsetzt. Wer hingegen eine der kombatierenden Seiten durch Sachlieferungen unterstützt, setzt keine Kombatanten für oder gegen eine der Seiten ein und kann damit auch nicht »Konfliktpartei im Sinne des humantitärem Völkerrechts« bezüglich eines »internationalen bewaffneten Konflikts« sein.
MfG
Rechtsanwalt Nikolaus Wiesel