Ein „konstitutioneller Wumms“ für den Straßenbau
Sinn und Unsinn eines Staatsziels Verkehrsinfrastruktur
Ein Vorschlag aus FDP-Kreisen sorgt seit Anfang Oktober für verfassungsrechtliches Stirnrunzeln: Durch die Einführung eines neuen Staatsziels „Verkehrsinfrastruktur“ im Grundgesetz soll eine schnellere Umsetzung von Infrastrukturvorhaben ermöglicht werden. Bei näherer Betrachtung entpuppt sich die Idee bestenfalls als Symbolpolitik, tatsächlich aber wohl als Fördermaßnahme für klimaschädliche Verkehrsinfrastruktur.
Der Vorschlag klingt zunächst nach einem großen normativen Wurf. Staatszielbestimmungen sind offen gefasste Verfassungsnormen, die den Staat verpflichten, auf die Verwirklichung bestimmter Ziele hinzuwirken. Teilweise verkürzt als „Staatsaufgabe“ bezeichnet, umreißen sie ein bestimmtes Programm staatlicher Tätigkeit und bilden mit den Staatsstrukturprinzipien einen wesentlichen Bestandteil der objektiven Verfassungsordnung.1) Prominenteste Beispiele für solche Staatsziele sind die Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern (Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG), die Verwirklichung eines vereinten Europas (Art. 23 Abs. 1 GG) und – nicht zuletzt seit dem Klimabeschluss des BVerfG wieder im Rampenlicht – der Schutz von Umwelt und Tieren (Art. 20a GG).
Staatsziele richten sich nicht nur an die Gesetzgebung, sondern verpflichten auch die Rechtsprechung und vollziehende Gewalt. Als bindende Direktive ist ihnen daher sowohl bei der Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe als auch bei der Ermessensausübung Rechnung zu tragen und auf ihre Verwirklichung hinzuwirken. Die Einführung eines neuen Staatsziels ist daher ein schweres Geschütz, dessen potenzielle Wirkmacht eine nähere Befassung mit dem Vorschlag rechtfertigt.
Wissing: Verkehrsinfrastruktur verfassungsrechtlich aufwerten
Bereits Ende September hatte sich Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) auf der Verkehrsmesse InnoTrans dafür ausgesprochen, eine verlässliche Infrastruktur als Staatsziel ins Grundgesetz aufzunehmen. Anschließend führte er im Handelsblatt seine Vorstellungen näher aus: Bei Güterabwägungen hätten Infrastrukturbauinteressen „zu oft das Nachsehen“. Um das zu ändern, müsse dieses Interesse verfassungsrechtlich aufgewertet werden. Mitte Oktober griff die FDP-Bundestagsfraktion den Vorschlag auf ihrer Veranstaltung „Schneller Planen, schneller Bauen“ und in einem dazu veröffentlichten Positionspapier auf: „Wir wollen gute zukunftsfähige Infrastruktur ausdrücklich als Staatsziel im Grundgesetz verankern.“ Ganz neu ist die Idee nicht. Bereits 2014 forderten FDP-Politiker*innen ein Staatsziel Straßenbau und 2017 misslang der Versuch, ein solches in der Hessischen Verfassung zu verankern.
Mittlerweile gibt es auch einen entsprechenden Entwurf für eine Verfassungsänderung aus dem Verkehrsministerium. Der Vorschlag verknüpft die Idee eines neuen Staatsziels mit dem zuletzt viel diskutierten Instrument der Legalplanung. Danach soll einerseits der Bund eine bedarfsgerechte Verkehrsinfrastruktur gewährleisten. Andererseits soll der Bundestag selbst bedeutende Infrastrukturvorhaben zulassen können. Der Referentenentwurf liegt derzeit im dafür zuständigen Innenministerium (SPD) mit der Bitte, ihn ins Kabinett einzubringen.
Vorgeschobene Beschleunigungsgründe
Der Bundesverkehrsminister und die FDP-Fraktion begründen ihre Forderung nach einem neuen Staatsziel insbesondere mit einem Beschleunigungsbedarf. Dabei wird suggeriert, für die (schnelle) Bereitstellung von Verkehrsinfrastruktur fehle es an einer soliden (verfassungs-) rechtlichen Unterfütterung und ein entsprechendes Staatsziel könne einen Beitrag zur schnellen Umsetzung von Vorhaben leisten.
Die Beschleunigung von Planungs- und Genehmigungsverfahren ist ein Dauerbrenner – und das nun schon seit mehr als vierzig Jahren. Im Koalitionsvertrag der Ampelregierung wird das Thema auf mehr als zwei Seiten behandelt. Es geht unter anderem darum, die Klimakrise mithilfe eines schnellen Ausbaus der erneuerbaren Energien bewältigen zu können. Die Regierung hat bereits mehrere Beschleunigungspakete auf den Weg gebracht, beziehungsweise bereitet diese vor. Befeuert durch die jüngsten Sorgen um die Energiesicherheit wurden einige dieser Gesetze selbst im Rekordtempo verabschiedet (z.B. das LNG-Beschleunigungsgesetz).
In diesen Kontext ordnet Wissing seinen Vorschlag ein: „Wir müssen schneller planen, schneller prüfen und schneller bauen.“ Ein Staatsziel kann aber, entsprechend seiner Natur, keinen Beitrag zu der vielbeschworenen Beschleunigung von Genehmigungsverfahren leisten. Denn als Fluchtpunkt staatlichen Handelns kann ein Staatsziel zwar auf die Gewichtung entscheidungserheblicher Belange und damit auf das Abwägungsergebnis in behördlichen Zulassungsentscheidungen einwirken, den Weg dorthin aber wohl kaum verkürzen.
Auch die Verknüpfung mit dem Instrument der Legalplanung entbehrt einer sachlichen Rechtfertigung. Letzteres beschreibt die Ermächtigung des Bundestages, besonders wichtige Infrastrukturvorhaben unmittelbar durch Gesetz zuzulassen. Weil dadurch exekutive Planungs- und Zulassungsprozesse vermieden werden, erhofft man sich eine schnellere Umsetzung von Vorhaben. FDP und Verkehrsministerium fordern nun das neue Staatsziel in einem Atemzug mit der Einführung der Legalplanung und wollen beides gemeinsam im Grundgesetz verankern. Tatsächlich besteht zwischen beiden Instrumenten kein Zusammenhang.
Bislang stehen der Legalplanung die Rechtsschutzgarantien aus der Verfassung (Art. 19 Abs. 4 GG), dem Europa- (Richtlinie 2011/92/EU) und Völkerrecht (Art. 9 Abs. 2 Aarhus-Konvention) entgegen, weil kein Zugang zu fachgerichtlichem Rechtsschutz gewährleistet ist. Dies wurde schon anhand des Maßnahmengesetzvorbereitungsgesetzes (hier und hier) aufgezeigt und im Juni 2022 von der EU-Kommission zum Gegenstand eines Vertragsverletzungsverfahrens gegen Deutschland gemacht.
Laut Koalitionsvertrag soll zur Sicherstellung effektiven Rechtsschutzes eine erstinstanzliche Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts geschaffen werden. Dafür wäre möglicherweise eine Verfassungsänderung erforderlich, denn das Grundgesetz sieht aktuell für das gerichtliche Vorgehen gegen Gesetze nur die Möglichkeit einer Verfassungsbeschwerde nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG oder einer konkreten Normenkontrolle gemäß Art. 100 Abs. 1 GG vor dem Bundesverfassungsgericht vor. Der Prüfungsmaßstab ist hier jedoch auf die Verletzung spezifischen Verfassungsrechts beschränkt. Zur Überwindung dieser verfassungsrechtlichen Hürde kann ein Staatsziel keinen Beitrag leisten.
Tatsächlich geht es bei der Einführung eines neuen Staatsziels also nicht um Beschleunigung. Die Idee zielt vielmehr darauf ab, dem Interesse am Bau von Verkehrsinfrastruktur größeres Gewicht zu verleihen und ihm dadurch in behördlichen Zulassungsverfahren zur Durchsetzung gegen widerstreitende Belange (wie z.B. den Schutz von Natur, Arten, Gesundheit oder Klima) zu verhelfen.
Aufwertung von Verkehrsinfrastruktur überflüssig
Eine verfassungsrechtliche Aufwertung des öffentlichen Interesses am Infrastrukturbau ist aber schlicht überflüssig. Die staatliche Bereitstellung einer Grundversorgung mit Infrastruktur durch den Staat ist Bestandteil der Daseinsvorsorge und dem daran bestehenden Bedürfnis der Allgemeinheit wird bereits heute hinreichend Rechnung getragen.
So ist der Bau von Energieinfrastruktur zur Versorgung der Bevölkerung nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG eine „öffentliche Aufgabe von größter Bedeutung“. Beim Fernstraßenbau kommt nach Auffassung des BVerwG den Verkehrsinteressen regelmäßig ein „besonderer“ bzw. „sehr hoher“ Stellenwert zu. Für den Erhalt und Ausbau des Schienennetzes enthält Art. 87e Abs. 4 S. 1 GG sogar einen ausdrücklichen Gewährleistungsauftrag des Bundes, der seinerseits als Staatszielbestimmung ausgestaltet ist.2)
Darüber hinaus bietet überall dort, wo ein schneller Ausbau für eine nachhaltige Verkehrswende erforderlich ist, das Grundgesetz dem Interesse der Allgemeinheit an klimafreundlicher Infrastruktur bereits jetzt ein verfassungsrechtliches Rückgrat. Denn einerseits verpflichtet der (seinerseits als Staatsziel ausgestaltete) Art. 20a GG den Staat zu effektivem Klimaschutz zur Herstellung von Klimaneutralität auf einem Paris-kompatiblen Reduktionspfad (hier Rn. 198). Andererseits verlangt das Grundgesetz über das Gebot der intertemporalen Freiheitssicherung die Schonung künftiger Freiheit und die verhältnismäßige Verteilung von Freiheitschancen über die Zeit. Das Bundesverfassungsgericht mahnt in seinem Klimabeschluss vom 24. März 2021 mit Nachdruck an, die Transformation in eine klimaneutrale Gesellschaft umgehend einzuleiten. In allen Lebensbereichen – und dazu gehört gerade auch die Infrastruktur – sind tiefgreifende Veränderungen erforderlich. Dabei ist der Staat in der Pflicht, die Voraussetzungen und Anreize dafür zu schaffen, dass diese Entwicklungen tatsächlich einsetzen. Nicht zufällig verdeutlichten die Karlsruher Richter*innen dies anhand eines Beispiels aus dem Verkehr (vgl. hier, Rn. 248). Die Errichtung klimafreundlicher Verkehrsinfrastruktur dient der Erfüllung dieses Verfassungsauftrages, und folglich kommt dem öffentlichen Interesse daran bei jeder behördlichen Zulassungsentscheidung ein ganz erhebliches Gewicht zu. Und dieses nimmt, so das BVerfG, mit der sich zuspitzenden Klimakrise und dem immer kleiner werdenden nationalen CO2-Budget weiter zu.
Vor diesem Hintergrund erscheint eine weitere Aufwertung des Interesses an Verkehrswegen redundant. Tatsächlich scheitert der Bau von Verkehrsinfrastruktur in der Praxis auch gar nicht an einem zu geringen abstrakten Gewicht des öffentlichen Interesses. Wenn überhaupt stehen den Projekten fehlende personelle und sachliche Planungskapazitäten, mangelnde Digitalisierung, sowie die fehlende Vereinheitlichung beziehungsweise Konkretisierungen des materiellen Rechts im Weg. Hinzu kommen unvollständige bzw. fehlerhafte Planunterlagen der Vorhabenträger. So wurde zuletzt der Bau der A 20 wegen falsch berechneter Stickoxideinträge vom BVerwG gestoppt und die A 14 konnte nur durch das Nachschieben eines Ergänzungsbeschlusses während des Gerichtsverfahrens noch „gerettet“ werden. An diesen Mängeln kann aber auch die Einführung eines Staatsziels wenig ändern.
Vorschlag fördert allenfalls klimaschädliche Infrastruktur
Bei genauerer Betrachtung stellt sich vielmehr die Frage, ob hinter dem Vorschlag eines Staatsziels Verkehrsinfrastruktur nicht tatsächlich die Absicht einer verfassungsrechtlichen Absicherung klimaschädlicher Verkehrsträger, namentlich der Straße, steht. Wenn überhaupt, könnte eine besondere verfassungsrechtliche Anerkennung der Verkehrsinteressen wohl nur in solchen Fällen relevant werden, in denen Art. 20a GG einem Vorhaben entgegensteht und für eine Zulassung deshalb ein entsprechendes verfassungsrechtliches Gegengewicht erforderlich wäre. Bei Vorhaben der Verkehrsinfrastruktur wäre das aber nur für den Straßenbau denkbar.
Denn beim Schienenausbau streitet neben dem verfassungsrechtlichen Gewährleistungsauftrag aus Art. 87e Abs. 4 S. 1 GG auch das Klimaschutzgebot aus Art. 20a GG selbst zugunsten eines Vorhabens, weil Bahnverkehr gegenüber anderen Verkehrsträgern mit weniger THG-Emissionen verbunden ist. Entsprechend ist die Verkehrsverlagerung von der Straße auf die Schiene und dazu der Ausbau der Netze zentraler Bestandteil der Klimaschutzstrategie für den Verkehrssektor.
Demgegenüber ist der motorisierte Straßenverkehr für gut 98 Prozent der Treibhausgas-Emissionen im Verkehrssektor verantwortlich – und dieser Sektor überschreitet nicht nur aktuell, sondern auch prognostisch die Vorgaben des Klimaschutzgesetzes ganz erheblich. Eine Gegensteuerung ist nicht erkennbar. Für sein völlig unzureichendes, im übrigen gesetzeswidriges, Sofortprogramm wurde das Verkehrsministerium im August 2022 vom Expertenrat für Klimafragen mit deutlichen Worten kritisiert. Nicht zuletzt deshalb kommt dem Klimaschutz im Verkehrssektor hohe Dringlichkeit zu. Weil mit dem Bau neuer Straßen aber nicht nur unmittelbare THG-Emissionen verbunden sind, sondern immer auch zusätzlicher Straßenverkehr verursacht wird, sehen sich solche Vorhaben durch das Klimaschutzgebot aus Art. 20a GG einem besonderen, und mit Fortschreiten des Klimawandels zunehmenden, Rechtfertigungsdruck ausgesetzt. Dieser könnte durch ein entsprechendes Staatsziel womöglich gemindert, „Klimaschutzargumente“ gegen ein Vorhaben entsprechend abgeschwächt und so dem Interesse am Straßenbau trotz Klimaschädlichkeit zur Durchsetzung verholfen werden.
Ein „Staatsziel Straßenbau“ sollte aber schon aus Gründen der politischen Glaubwürdigkeit als solches klar benannt werden und nicht hinter unzutreffenden Beschleunigungsargumenten, der allgemeinen Förderung von Verkehrsinfrastrukturvorhaben oder vorgetäuschten Klimaschutzbemühungen versteckt werden. Ob Wissings Vorschlag tatsächlich einen „konstitutionellen Wumms“ für den Straßenbau liefern könnte, erscheint fraglich. Denn dort, wo er tatsächlich zum Tragen käme, stünde ihm mit dem Klimaschutzgebot aus Art. 20a GG ein grund- und verfassungsrechtlich determinierter Auftrag von besonderem, im Laufe der Zeit zunehmenden Gewicht gegenüber, sodass ein neues Staatsziel am Ergebnis der Abwägung kaum etwas ändern dürfte. Für den Bau klimafreundlicher Infrastruktur kann sich der Verkehrsminister dagegen bereits jetzt auf den vollen Zuspruch der Verfassung verlassen.
Die Verfasser*innen arbeiten als Referent*innen bei Green Legal Impact e.V. zu den Themen der Bundesverkehrswegeplanung und Planungsbeschleunigung.