Zur Gestalt Europas
Überlegungen anlässlich der bevorstehenden Europawahl
Für viele war es nicht weniger als der endgültige Beleg für die Reformbedürftigkeit der Europäischen Union (EU): Am 14.12.2023 verließ der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban (mutmaßlich auf Veranlassung des deutschen Bundeskanzlers) den Beratungsraum des Europäischen Rates, um auf diesem Wege eine einstimmige Entscheidung der verbliebenen 26 Mitgliedstaaten über den Kandidatenstatus der Ukraine zu ermöglichen (siehe hier). Sollte das nun ernsthaft der Weg sein, auf dem man in Brüssel entscheidet? Immerhin, so könnte man es positiv wenden, wurde hier noch eine einstimmige Entscheidung erreicht. Auf anderen Gebieten – gerade im Bereich der Außenpolitik – ist das hingegen immer seltener der Fall. Auch bei der Bekämpfung der Coronapandemie gab die Union kein sonderlich gutes Bild ab, für ihr Vorgehen gegen den russischen Aggressor Putin wurde sie immer wieder kritisiert, unlängst verhedderten sich Ursula von der Leyen und Charles Michel nach den grausamen Gewaltakten des 7. Oktober in wenig nachvollziehbaren Kompetenzkonflikten. Die „immer engere Union“ scheint am Scheideweg, nachdem ein Mitgliedstaat den aufkommenden Fliehkräften bereits zum Opfer gefallen ist.
Das Bestehende bewahren
Wenig überraschend häufen sich in den letzten Jahren die Visionen für die Zukunft der EU. Schon im Jahr 2000 präsentierte Joschka Fischer seine Ideen von einer Europäischen Föderation, 2017 plädierte Emmanuel Macron für eine „souveräne Union“ und 2022 folgte Olaf Scholz mit einer Rede, die freilich in besonderer Weise unter dem Eindruck der von ihm selbst ausgerufenen Zeitenwende stand. Mit beeindruckenden Beschreibungen wurde und wird dabei selten gegeizt: Europäischer Bundesstaat, Föderation, Republik, Einheit, Souveränität – kaum ein staatstheoretischer Großbegriff, der in dieser Debatte nicht bereits als Leitmotiv fungiert hätte.
Und dennoch scheint die Finalitätsdebatte in eine Sackgasse geraten zu sein. Die letzte Vertragsrevision liegt bald 15 Jahre zurück, ernsthafte politische Initiativen sind nicht erkennbar oder nicht Erfolg versprechend. Die Konferenz zur Zukunft Europas präsentierte Mitte 2022 ihre Ergebnisse, vermutlich dürften aber auch diese alsbald verpuffen. Wir tippeln auf der Stelle, seit dem Vertrag von Lissabon, eigentlich aber schon seit dem Scheitern des Verfassungsvertrages scheint die Debatte festgefahren. Anstatt über die weitere Entwicklung der Integration zu sprechen, scheint es eher darum zu gehen, das Bestehende zu bewahren und zu verhindern, dass es zu signifikanten Integrationsrückständen kommt. Auch die genannten Visionen spielen trotz ihrer prominenten Vertreter praktisch keine Rolle, werden bestenfalls pflichtschuldig zitiert und dann wieder weggelegt. Warum? Meines Erachtens (ausführlich hier) sind dafür zwei Gründe ausschlaggebend.
Entrückte Visionen
Erstens fehlt es den Visionen an einer sie tragenden Leitidee, gewissermaßen einem normativen Maßstab. Sie zeigen zwar Modelle auf, wie die Europäische Union in zehn, zwanzig oder fünfzig Jahren aussehen könnte, es fehlt aber an belastbaren und nachvollziehbaren Gründen, die – von einer Europaeuphorie oder erkennbaren politischen Interessen abgesehen – für die eigene Vision vorgebracht werden könnten. Welches aktuelle Integrationsproblem wird durch sie eigentlich gelöst? Teilweise scheinen die Visionen den aktuellen Integrationsproblemen sogar völlig entrückt. Joschka Fischer etwa betont diese Distanz in seiner Rede ausdrücklich. Anstatt Wege aufzuzeigen, wie das eigene Integrationsziel ausgehend vom Status quo Stück für Stück verwirklicht werden kann, wird eine Debatte über staatstheoretische Großbegriffe geführt, die sich von den vermeintlich banalen Gegenwartsproblemen völlig entkoppelt. Wenn man die EU reformieren will, wird man aber von diesem Status quo ausgehen müssen – die „neue EU“ wird nicht vergangenheitslos am Reißbrett erstellt.
Zweitens werden die Visionen zumindest latent von der Idee getragen, mit der Europäischen Union endlich das Politische überwinden zu können. In der EU soll allein das Recht, aber nicht die Politik regieren. In der Konsequenz wird jedes politische Problem, jeder politische Streit, jedes nicht enden wollende Gipfeltreffen nicht als gewöhnliche, vielleicht sogar wünschenswerte politische Auseinandersetzung interpretiert, sondern mit einer (noch) defizitären Institutionen- und vertraglichen Ordnung verknüpft. Mal sind es die fehlenden Kompetenzen, mal die institutionelle Struktur, mal die verfehlten Abstimmungsmodalitäten und manchmal einfach der Status quo per se, die eine „gute“, „schnelle“ oder „einfache“, jedenfalls pragmatisch-unpolitisch rationale Lösung verhindert haben. Die Integration hat ihren Endpunkt nicht erreicht, da man ansonsten keine politischen Probleme mehr haben dürfte. Dass weder Joschka Fischer noch Emmanuel Macron oder Olaf Scholz größere Mühen darauf verwenden, die Notwendigkeit grundlegender Reformen darzulegen, erweist sich vor diesem Hintergrund damit als ebenso folgerichtig wie aus einer theoretischen Perspektive unbefriedigend: Erwartbare politische Auseinandersetzungen werden einfach in grundlegende institutionell-organisatorische Defizite umgedeutet. Besonders deutlich wird das bei Emmanuel Macron, der die Debatten im Europäischen Rat gar mit einem zu überwindenden Bürgerkrieg vergleicht – ein Bild, das nicht erst seit dem 24.2.2022 verfehlt erscheint: Es sind diese politischen Debatten, die an die Stelle blutiger Kriege zwischen den Mitgliedstaaten der EU getreten sind.
Legitimität als neue Finalität
In der Finalitätsdebatte muss es folglich darum gehen, diese beiden Defizite zu vermeiden und stattdessen einen normativen Maßstab für die weitere Entwicklung der EU zu entwickeln, mit dessen Hilfe konkrete (institutionelle, kompetenz- und verfahrensrechtliche) Integrationsprobleme überwunden und zugleich das notwendig Politische der EU angemessen zur Geltung gebracht werden können.
Für die Aufteilung von Kompetenzen und die Gestaltung von Verfahren gibt es in föderalen Systemen indes keine universellen Vorgaben. Entscheidend ist vielmehr, dass die Herrschaftsgestaltung von der Bevölkerung als legitim angesehen wird. Das Ziel sollte es mithin sein, die gemeinsame Legitimität der Mitgliedstaaten und der Europäischen Union Stück für Stück zu erhöhen. Überraschenderweise steht es um diese Verbundlegitimität schon aktuell gar nicht so schlecht. Die Akzeptanzwerte für die Europäische Union fallen nicht schlechter als für die Mitgliedstaaten aus – teilweise liegen sie sogar darüber. Das heißt nicht, dass nichts zu verbessern wäre, spricht aber jedenfalls gegen das Vorhaben einer völligen (institutionellen) Neugestaltung, das bisweilen auch von einer etwas seltsamen Sehnsucht nach staatstheoretischer Eindeutigkeit getragen wird. Warum sollte die EU unbedingt ein Bundesstaat werden? Welches konkrete Problem wäre dadurch gelöst?
Geht man davon aus, dass die Legitimität einer Herrschaftsordnung davon abhängt, dass sie ausreichend Teilhabe gewährleistet, in angemessener Weise begrenzt und zudem hinreichend leistungsfähig ist, lassen sich aber auch bei der EU punktuelle Defizite ermitteln, die sich beheben lassen. Dazu gehört im Bereich der Teilhabe nicht zuletzt eine inhaltliche Überfrachtung der Verträge, die den politischen Handlungsspielraum zu stark begrenzt. Gerade in ökonomischen Fragen geben die Verträge viel vor, eben weil der Politik möglichst viel aus der Hand genommen werden sollte. Die erstaunliche Dicke der Verträge ist kein Zufall, sondern Ausdruck einer lange vorherrschenden Integrationsphilosophie. Anstatt Politik überwinden zu wollen ginge es also darum, genuin europäische Politik umfassend zu ermöglichen und dadurch nicht zuletzt die Debatten im Europäischen Parlament aufzuwerten, denen auf diesem Wege eine gesteigerte integrative Wirkung zukommen könnte. Natürlich geht das mit dem Risiko vermeintlich „schlechter“ Entscheidungen einher. Aber das ist das Wesen der Demokratie, die eben keine „guten“, sondern sanktionierbare Entscheidungen garantiert.
Nachdenken sollte man zudem darüber, wie eine genuin europäische Öffentlichkeit gestärkt werden kann. Hier ist in den letzten Jahren bereits viel passiert – in den nationalen Medien spielen europäische Themen eine weit größere Rolle als das noch vor ein oder zwei Jahrzehnten der Fall war. Aber es handelt sich doch in der Regel weiterhin um nationale Diskurse, die mehr oder weniger berührungslos nebeneinander herlaufen, was natürlich auch mit dem Sprachenproblem zusammenhängt. Hier könnte sich mit der aufkommenden KI allerdings eine Chance ergeben, die den Übersetzungsaufwand in den nächsten Jahren signifikant verringern dürfte. Damit eröffnet sich etwa die Möglichkeit eines „europäischen SPIEGEL“, der zeitgleich in allen Amtssprachen in allen Mitgliedstaaten erscheint und damit wie die ersten Tageszeitungen eine gefühlte politische Gemeinsamkeit zu erzeugen vermag.
Mehr EU durch weniger EU?
Reden müssen werden wir auch über die Kompetenzordnung und das ist an sich keine Überraschung: Legitimitätstheoretisch ist es nicht beliebig, wer in einer föderalen Ordnung welche Aufgaben wahrnimmt. Die bisherige Integration lief aber nicht selten nach dem Motto „Hauptsache Europa“ ab. Zufällige Mehrheiten für die Übertragung von Kompetenzen auf die Europäische Union wurden genutzt, ohne dass diesem Schritt ein normatives Leitbild für die Kompetenzverteilung zugrunde gelegen hätte. Es geht bei der Überprüfung der Kompetenzordnung also nicht darum, einer pauschalen Desintegration oder gar der Wiederbelebung des (vermeintlich) souveränen Nationalstaats das Wort zu reden. Das Ziel bleibt vielmehr die Steigerung der Verbundlegitimität von Europäischer Union und Mitgliedstaaten – dass Letztere weiterhin eine besondere Rolle im Integrationsprozess einnehmen werden und auch sollten, dürfte niemand ernsthaft bestreiten wollen. Als problematisch erweist sich insoweit vor allem die Unterstützungskompetenz des Art. 6 AEUV, da sie zu einer wenig glücklichen Vermischung von Verantwortungsebenen führt und damit auch ermöglicht, dass der Europäischen Union von nationalen PolitikerInnen der schwarze Peter für Missstände zugeschoben werden kann. Auf der anderen Seite sollte die Europäische Union dann aber auch mit allen notwendigen Zuständigkeiten ausgestattet werden, damit sie die ihr übertragenen Aufgaben effektiv wahrnehmen kann – halbherzige Zuweisungen können zu erheblichen Einbußen auf der Ebene der Leistungsfähigkeit führen, die die Legitimität unterminiert.
Das führt direkt zum Entscheidungsmodus und der Frage nach der Ausweitung des Mehrheitsprinzips, die bei praktisch allen Reformvorschlägen im Zentrum steht? Auch da wird man allerdings differenzieren müssen. In der Praxis findet das Mehrheitsprinzip in den überwiegenden Fällen ohnehin bereits Anwendung, anderes gilt nur in den hochpolitischen Bereichen. Wenn man es hier gleichwohl einführen will, geht das jedoch nur, wenn alle Mitgliedstaaten tatsächlich auch bereit sind, sich auf diesen Gebieten überstimmen zu lassen. Das aber ist im Bereich der Außenpolitik einschließlich der Sanktionspolitik aktuell sicher nicht der Fall – gerade aus deutscher Sicht. Es erscheint jedenfalls schwer vorstellbar, dass sich Deutschland etwa auf eine bestimmte Politik gegenüber Israel verpflichten lassen würde. Die verfrühte Einführung des Mehrheitsprinzips kann dann sogar zur Störung der Funktionsfähigkeit der Europäischen Union führen, wenn getroffene Entscheidungen von den überstimmten Mitgliedstaaten schlicht ignoriert werden – so wie es zuletzt etwa im Bereich des Asylrechts der Fall war. Dass die EU gleichwohl nicht handlungsunfähig ist, hat übrigens der Vorgang mit Victor Orban gezeigt. Gewiss keine ideale Lösung. Sondern eine politische.
dem kann ich nur zustimmen.
“Legitimitätstheoretisch ist es nicht beliebig, wer in einer föderalen Ordnung welche Aufgaben wahrnimmt” – hierfür allerdings hielte ich eine Bundesstaatliche föderatle Strukturierung wie in der BRD für äußerst zielführend.