30 April 2024

Chaos, Verwirrung und republikanischer Kurswechsel

Abtreibung Arizona-Style

Das US-amerikanische Abtreibungsrecht ist ein Rätsel – für Schwangere, für Ärzt:innen, und auch für außenstehende Beobachter, die verstehen wollen, wie Abtreibung mit den Präsidentschaftswahlen 2024 verstrickt ist. Die Geschichte ist kompliziert, dynamisch und noch nicht vorbei. In den Worten von Bette Davis: “Fasten your seatbelts; it’s going to be a bumpy night”.

Sturz ins Chaos

Unser Ausgangspunkt ist Juni 2022, als der US Supreme Court das seit 50 Jahren geltende Recht auf Abtreibung mit einem Federstrich kippte. In Dobbs vs. Jackson Women’s Health Organization entschied eine neue konservative Mehrheit des Gerichts, dass die nationale Verfassung nicht mehr das Recht schütze, eine Schwangerschaft vor der Lebensfähigkeit des Fötus (ca. 24 Wochen) zu beenden. Von nun an war es den einzelnen Bundesstaaten überlassen, welchen rechtlichen Status sie Abtreibung zuschreiben, und auf welche Art: durch Gerichte, Gesetze oder Volksabstimmungen. Bundesstaaten konnten Abtreibung wieder zu einem Verbrechen machen, wie bereits in 16 Staaten geschehen, oder sie konnten Abtreibung als Recht schützen, so wie es die letzten 50 Jahre seit Roe vs. Wade der Fall war. Sie konnten auch einen Mittelweg wählen und Abtreibung beispielsweise ab der sechsten oder der 20. Schwangerschaftswoche legalisieren – ihre Entscheidung. “Illegale Staaten” können auch den Abbruch solcher Schwangerschaften straflos stellen, die durch Vergewaltigung entstanden sind oder das Leben des Fötus oder der Frau bedrohen. Es steht ihnen auch frei zu bestimmen, ob schwangere Minderjährige selbst über einen Schwangerschaftsabbruch entscheiden können oder nur mit Zustimmung der Eltern.

Mit 50 Bundesstaaten und einem Sammelsurium möglicher Regelungen waren nach Dobbs abtreibungsrechtliches Chaos und Verwirrung vorprogrammiert. Vieles war rechtlich ungeklärt: Konnte eine Frau aus einem „illegalen Staat“ in einem „legalen Staat“ eine Abtreibung bekommen und nach Hause zurückkehren, ohne gegen die Gesetze ihres Heimatstaates zu verstoßen? Konnte eine Ärztin oder ein Apotheker aus einem legalen Staat Abtreibungspillen (wie Mifepriston) per Post an eine Patientin in einem „illegalen Staat“ schicken, ohne eine Verhaftung zu riskieren? Diese und weitere vorhersehbare Fragen bleiben offen. Bis sie geklärt sind riskieren Ärzte, Verwandte und Freundinnen alle möglichen Strafen – einschließlich Haft –, wenn sie schwangeren Frauen dabei helfen, eine ungewollte Schwangerschaft extraterritorial zu beenden. Das ist ein hartes Los für unglücklich schwangere Frauen, die versuchen, ihr reproduktives Leben über Staatsgrenzen hinweg zu organisieren – gefährlich, teuer und einsam.

Abtreibung im Wilden Westen

Aber man muss nicht erst in einen anderen Bundesstaat reisen, um das Chaos des US-amerikanischen Abtreibungsrechts zu erleben. Die Dinge erweisen sich als chaotisch genug, wenn man in nur einem Staat bleibt. Schauen wir uns den aktuellen Spitzenreiter der Verwirrung an, den südwestlichen Bundesstaat Arizona, in dem über ein Jahrhundert Abtreibungspolitik zu zwei konkurrierenden Regelungen geführt hat. Die erste Regelung wurde 1864 eingeführt, als Arizona noch kein Staat, sondern lediglich ein Territorium war (man denke an den Wilden Westen). Ein von der Bundesregierung auferlegtes Rechtssystem verbot Abtreibung nahezu vollständig: Wer einer anderen Person eine Abtreibung vermittelt oder eine Abtreibung durchführt („supplying, providing or administering“), wird mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft, es sei denn, der Eingriff ist notwendig, um das Leben der schwangeren Frau zu retten.

1864 sah man Abtreibung allerdings anders als heute. Nach altem Gewohnheitsrecht konnten „abortionists“ (heute „abortion providers“) erst nach dem „quickening“ strafrechtlich verfolgt werden, also dem Moment in der 14. bis 15. Woche, ab dem die Mutter die Bewegungen des Fötus spüren kann. Erst diese Bewegung bewies eine Schwangerschaft; ohne sie gab es nichts, was abgetrieben werden konnte. Und diese Bewegung war rechtlich bewiesen, wenn die Frau sie bezeugte, nicht wenn ein Fachmann (Arzt, Richter oder Gesetzgeber) sie für wahrscheinlich hielt; man vergleiche die den Frauen mit Blick auf das „quickening“ gewährte Autorität damals mit der heutigen gesetzlichen Festlegung, dass eine Schwangerschaft ab Empfängnis beginnt. Ein weiterer Unterschied war, dass Abtreibung – anders als in der aktuellen Anti-Abtreibungsrhetorik und -politik – moralisch nicht mit Mord verglichen wurde. Wie der US-Historiker James Mohr erklärt, ging es dem Gesetzgeber bei den frühen Abtreibungsregelungen primär um das körperliche Wohl der Schwangeren. Damals verwendeten nicht zugelassene „abortionists“ alle möglichen Gifte und stumpfen Instrumente, um Abtreibungen vorzunehmen, oft zum Schaden ihrer Patientinnen. Abtreibungen unter die alleinige Aufsicht von Ärzten zu stellen, sollte diesen unsicheren Praktiken abhelfen. Es wertete jedoch auch den beruflichen Status von Ärzten auf und drängte Hebammen absichtlich aus der Schwangerschafts- und Geburtsbetreuung. Kurzum: Diese frühen Abtreibungsgesetze entstanden in einem anderen persönlichen und institutionellen Setting als die Gesetze heute.

Ein wahres Chaos

Doch die Geschichte Arizonas geht weiter. 2022 verabschiedete Arizona ein moderneres (aber weiterhin kriminalisierendes) Abtreibungsgesetz, das Schwangerschaftsabbrüche bis zur 15. Woche erlaubte. Verwirrung brach aus. Welches Gesetz hatte Vorrang, das totale Verbot von 1864 oder das 15-Wochen-Verbot? Und wenn das Verbot von 1864 galt – wie war dann die Ausnahme zu verstehen, die eine Abtreibung zuließ, um das Leben der Schwangeren zu retten? Wie nahe am Tod musste die Frau sein, um gerettet werden zu können? In Arizona zögerten Ärzt:innen diesen Punkt hinaus, ebenso wie im Fall von Savita Halappanavar, die 2012 in Irland während einer Fehlgeburt an einer Sepsis starb nachdem ihr eine Abtreibung versagt wurde. Solche Fälle gab es auch in den USA. So verweigerten Ärzt:innen in Texas der Schwangeren Kate Cox eine Abtreibung; sie floh daraufhin aus dem Bundesstaat, um eine Abtreibung zu bekommen. Und erst vergangene Woche verhandelte der U.S. Supreme Court dieses Thema für den Bundesstaat Idaho.

Zurück zu Arizona: Dort hat am 9. April der Oberste Gerichtshof über die zwei konkurrierenden Abtreibungsregelungen in Planned Parenthood Arizona vs. Mayes entschieden. Das Gericht vertrat die Auffassung, dass die beiden Gesetze nicht im Widerspruch zueinander stünden (Planned Parenthood argumentierte, dass es offensichtlich einen Widerspruch gebe) und das Gesetz von 1864 in Kraft treten könne. Damit sich jedoch alle Parteien äußern konnten, setzte das Gericht das Inkrafttreten des Gesetzes um 14 Tage aus. (Wohlgemerkt: Jede Gesetzesänderung lässt schwangere Frauen länger im Ungewissen darüber, wie sie sich rechtlich verhalten dürfen, und jede solche Verzögerung kann einen rechtzeitigen Schwangerschaftsabbruch verhindern). In der Zwischenzeit scheiterten zwei Versuche der Demokraten, das Gesetz von 1864 aufzuheben. Ein dritter Versuch war am 24. April erfolgreich, als zwei Republikaner sich den Demokraten anschlossen – nur einen Tag nachdem das Gesetz von 1864 wieder in Kraft treten sollte, es aber nicht tat. Der Senat von Arizona stimmt nun am 1. Mai über den aktuellen Gesetzentwurf ab, der das Verbot von 1864 aufhebt. Puh!

Ordnung wiederhergestellt?

Doch während Arizonas Politiker:innen damit beschäftigt waren, sich von absoluten Abtreibungsgegner:innen in „gegen das Verbot von 1864 zu stimmen rettet mich vor einer Niederlage im November“-Abtreibungsgegner:innen zu verwandeln, wählten Arizonas Pro-Choice Bürger:innen eine Abzweigung vom politischen Kreisel. Sie nahmen die Sache selbst in die Hand und sammelten genügend Unterschriften, um im November eine „Initiative“ (eine Form der direkten Demokratie) auf den Stimmzettel zu setzen, mit der die Verfassung von Arizona um ein Roe-ähnliches Recht auf Abtreibung ergänzt werden soll.

„Arizona for Abortion Access“ (AAA) benötigt bis zum 3. Juli 383.923 gültige Unterschriften und gibt an, bereits über eine halbe Million gesammelt zu haben. Abtreibungsgegner:innen kündigen nun an, eine Gegeninitiative auf den Wahlzettel im November setzen zu wollen, haben sich aber zu Unterschriften noch nicht geäußert.

Wäre die Pro-Choice-Initiative erfolgreich, würden in Arizona wieder die gleichen abtreibungsrechtlichen Verhältnisse wie nach Roe vs. Wade gelten. Abtreibung wäre ein Grundrecht, sodass der Staat ein außerordentliches (in verfassungsrechtlichen Worten „zwingendes“) Interesse nachweisen müsste, um in das Recht einzugreifen. Außerdem wären Abtreibungen bis zur Lebensfähigkeit des Fötus (und nicht nur bis zur 15. Woche) legal.

(Frauen-)Wählerstimmen sammeln

Die AAA-Initiative hätte auch erhebliche taktische Vorteile für die Präsidentschaftswahlen 2024. Die Wähler:innen würden ermutigt, sich für die Initiative zu registrieren und bei der Wahl zugleich auch für andere demokratische „down ballot“-Kandidat:innen zu stimmen (also für diejenigen Kandidat:innen, deren Namen unter denen des Präsidenten und des Gouverneurs stehen). Tatsächlich stehen im November sämtliche Sitze in Arizonas Legislative zur Wahl, und je höher die Wahlbeteiligung, desto wahrscheinlicher ist es, dass sich die stärkere Partei durchsetzen wird. Das ist besonders wichtig in Arizona, einem traditionell republikanischen Staat, in dem Joe Biden bei den Wahlen 2020 nur mit einem Vorsprung von 0,3 % der Wählerstimmen gewann.

Auch Geschlecht spielt eine Rolle. Einige Wählerinnen dürften weiterhin wütend sein über die Aufhebung von Roe im Jahr 2022 und über die wiederholten Hinweise des ehemaligen Präsidenten Trump, dass das Land dieses Urteil ihm und den von ihm ernannten drei rechtskonservativen Richter:innen (Gorsuch, Kavanaugh und Barrett) zu verdanken haben. Diese noch immer fuchsteufelswilden Frauen werden sich womöglich besonders engagieren, um innerhalb und außerhalb von Arizona für Pro-Choice-Initiativen und -Kandidaten zu stimmen. Erste empirische Untersuchungen deuten darauf hin, dass sich Wählerinnen als Reaktion auf Dobbs organisiert haben, um die erwartete „red tide“ bei den Kongresswahlen 2022 aufzuhalten, d. h. sie haben angesichts eines vorhergesagten republikanischen Siegs demokratisch gewählt. Wie wird Arizona im November wählen? Niemand kann das sicher vorhersagen. Doch Trump für das Ende von Roe verantwortlich zu machen, scheint mir ein guter Fall von (gewaltfreier) Selbstjustiz zu sein.

Reading the Reproductive Room

Aber was ist mit den treuen republikanischen Politiker:innen und Wähler:innen, die sich von den verschiedenen Ausbrüchen des ehemaligen Präsidenten Trump nicht verraten, sondern verstanden fühlten? Wie lässt sich ihr Meinungswandel erklären? Nehmen wir zum Beispiel die republikanischen Senatoren des Bundesstaates Arizona oder die Kandidatin für den US-Senat Kari Lake, die erst das Totalverbot von 1864 befürworteten und dann eine Kehrtwende machten. Vielleicht hat das jüngste Urteil des Obersten Gerichtshofs von Alabama den Ausschlag gegeben. Der Gerichtshof entschied, dass gefrorene Embryos „Kinder“ seien. Erst dann begriffen angehende Eltern in Alabama, dass sie sich nach dem Gesetz des Bundesstaates wegen Mord strafbar machen könnten, wenn sie einen nicht verwendeten Embryo während eines Zyklus künstlicher Befruchtung entsorgen.

Außerdem kann es einen durchaus wahnsinnig machen, dass der ehemalige Präsident Trump Arizonas fast vollständiges Abtreibungsverbot von 1864 als „zu weitgehend“ bezeichnete, obwohl „zu weitgehend“ – d. h. die Aufhebung von Roe – sein zentrales Wahlkampfversprechen von 2016 war.

Schließlich weicht auch die lähmende Angst, die Abtreibung in den US-amerikanischen Bundesstaaten zu einem „offenen Geheimnis“ gemacht hat, je mehr Frauen beginnen, offener über ihre eigenen Abtreibungserfahrungen zu sprechen. Vor einem Monat gab etwa die demokratische Senatorin Eva Burch öffentlich bekannt, dass sie schwanger war, gerade die Diagnose eines nicht lebensfähigen Fötus erhalten hatte und eine Abtreibung plante. Sie erklärte: “[F]ar-right extremists […] are in leadership positions, but that’s not an accurate representation of the entire Republican caucus in Arizona. And I do not think at all that it’s an accurate representation of all of the Republican voters. […] We can really see that people are ready for this [conversation].”

Auf seine eigene Weise hat Arizona das Dobbs-Urteil auf den Kopf gestellt. In seiner Entscheidung verkündete Richter Alito: „Es ist an der Zeit, […] die Frage der Abtreibung an die gewählten Vertreter des Volkes zurückzugeben.“ Bisher waren diese gewählten Vertreter:innen sowohl gespalten als auch stur. Während das Verbot von 1864 am 1. Mai aufgehoben werden könnte, steht die Volksabstimmung im Herbst noch aus. Gönnen wir Arizona eine Sommerpause. Mal sehen, wie die Geschichte im November angesichts Trumps Prahlerei und selbstbewusster Wählerinnen weitergeht.


SUGGESTED CITATION  Sanger, Carol: Chaos, Verwirrung und republikanischer Kurswechsel: Abtreibung Arizona-Style, VerfBlog, 2024/4/30, https://verfassungsblog.de/chaos-verwirrung-und-republikanischer-kurswechsel/, DOI: 10.59704/7305211d6e5bd2db.

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