Des Menschen Wille ist sein Himmelreich: Das EGMR-Urteil zur Sterbehilfe
Der lange Streit um das Leben und Sterben des Vincent Lambert hat zumindest juristisch sein Ende gefunden. Die Große Kammer des EGMR hat entschieden, dass der Schritt, die Versorgung Lamberts mit Nahrung und Flüssigkeit einzustellen, nicht gegen die Menschenrechtskonvention verstößt. Doch das Urteil fiel nicht einstimmig. In ihrem abweichenden Votum kritisierten fünf der 17 Richter die Mehrheitsentscheidung ungewöhnlich scharf. Die Spaltung über den Fall Lambert, die seine Familie und ganz Frankreich in zwei Lager geteilt hat, hat damit auch den Gerichtshof erfasst.
Vincent Lambert hatte im Jahr 2008, damals 32 Jahre alt, infolge eines Motorradunfalls schwere Hirnverletzungen erlitten und war in ein Wachkoma gefallen. Seitdem wird er künstlich mit Nahrung und Flüssigkeit versorgt, vermag jedoch selbstständig zu atmen. Nachdem das Pflegepersonal zu erkennen glaubte, dass sich Lambert den Pflegemaßnahmen zunehmend widersetzte, wurde ein Verfahren nach dem so genannten Leonetti-Gesetz eingeleitet, welches die Einstellung medizinischer Maßnahmen erlaubt, die „unnötig oder unverhältnismäßig erscheinen oder als einziges Ziel die künstliche Lebenserhaltung haben“. Daraufhin entschied der behandelnde Arzt, die künstliche Ernährung einzustellen. Dies entzweite jedoch die Angehörigen: Während die Ehefrau Lamberts sowie sechs seiner acht Geschwister die Entscheidung befürworteten, konnten die Eltern wiederholt gerichtlich durchsetzen, dass Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr fortgesetzt wurden. Im Juni vergangenen Jahres jedoch entschied das oberste französische Verwaltungsgericht, der Conseil d’État, dass der Abbruch der künstlichen Ernährung rechtmäßig gewesen sei.
Daraufhin wandten sich die Eltern Lamberts umgehend an den EGMR und machten – sowohl im Namen ihres Sohnes als auch im eigenen Namen – geltend, der Behandlungsabbruch verletze das Recht auf Leben aus Art. 2 EMRK.
Eine Klage im Namen des Sohnes hielt die Richtermehrheit jedoch bereits für unzulässig. Eine solche sei für eine „personne vulnérable“ nur dann möglich, wenn die Gefahr bestehe, dass deren Rechte andernfalls nicht effektiv geschützt würden. Dies sei aber nicht der Fall, da sich die Kläger als Eltern von Vincent Lambert selbst auf Art. 2 EMRK berufen könnten. Zwar sei ihr Sohn noch nicht verstorben, die infrage stehende Einstellung der Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr werde aber seinen Tod zur Folge haben. Gegen diese drohende Verletzung des Rechts auf Leben stehe den Eltern im eigenen Namen der Klageweg offen.
Kein Verstoß gegen den Schutz des Lebens
Zum Recht auf Leben befand die Richtermehrheit sodann, weder das Leonetti-Gesetz als solches noch seine Anwendung im Fall Lambert hätten gegen Art. 2 EMRK verstoßen.
Das französische Gesetz erlaube weder „l’euthanasie“ noch den assistierten Suizid. Vielmehr verwies der Gerichtshof auf die Auslegung durch den Conseil d’État, der klargestellt hatte:
Si le geste d’arrêter un traitement entraîne la mort, l’intention du geste n’est pas de tuer: elle est de restituer à la mort son caractère naturel et de soulager.
Das oberste französische Verwaltungsgericht fand damit ähnliche Worte wie der BGH in seinem Grundsatzurteil von 2010, als er die bis dahin gängige Unterscheidung zwischen aktiver und passiver Sterbehilfe aufgab: Entscheidend sei nicht, ob ein Tun oder Unterlassen vorliege, sondern dass das Handeln darauf gerichtet sei,
einen Zustand wiederherzustellen, der einem bereits begonnenen Krankheitsprozess seinen Lauf lässt, indem zwar Leiden gelindert, die Krankheit aber nicht (mehr) behandelt wird, so dass der Patient letztlich dem Sterben überlassen wird.
Vor diesem Hintergrund sah die Richtermehrheit des EGMR keinen Verstoß gegen das durch Art. 2 EMRK aufgestellte Verbot des absichtlichen Tötens.
Darüber hinaus verlangt Art. 2 EMRK, dass die Vertragsstaaten das Leben der ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Personen schützen. Sofern es um medizinische Maßnahmen gehe, so der Gerichtshof, sei dabei das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen aus Art. 8 EMRK zu berücksichtigen, welches auch das Recht schütze, zu entscheiden, wann und wie das eigene Leben enden soll. Damit ist das Spannungsfeld der Sterbehilfe abgesteckt – zwischen dem Recht auf Leben und der staatlichen Pflicht, dieses zu schützen, einerseits und dem Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen andererseits. Da es in der Frage, wie dieses Spannungsverhältnis aufzulösen ist, an einem Konsens unter den europäischen Staaten fehlt, gesteht der Gerichtshof den Vertragsstaaten einen Einschätzungsspielraum zu.
Diesen hat Frankreich nach Einschätzung der Richtermehrheit mit dem Leonetti-Gesetz gewahrt. Dabei verwiesen sie wiederholt auf die Entscheidung des Conseil d’État, in der dieser die Tatbestandsvoraussetzungen des Gesetzes präzisiert hatte. Demnach hat der behandelnde Arzt bei der Frage, ob die Voraussetzungen für einen Behandlungsabbruch gegeben sind, ob also eine „obstination déraisonnable“ vorliegt, ein unzumutbares Beharren auf einer unnötigen, unverhältnismäßigen oder einzig der künstlichen Lebensverlängerung dienenden Maßnahme, neben medizinischen Indikatoren, etwa das Leiden des Patienten sowie die Irreversibilität der Erkrankung, insbesondere den Patientenwillen zu berücksichtigen – und zwar unabhängig davon, ob sich dieser explizit geäußert hat oder nicht. Mit diesen Garantien, so die Richtermehrheit, liege ein hinreichend klarer rechtlicher Rahmen vor, welcher den Anforderungen auf Lebensschutz aus Art. 2 EMRK genüge.
Im konkreten Fall hatte der behandelnde Arzt die gesetzlichen Anforderungen sogar übererfüllt. Zur Ermittlung des medizinischen Zustands von Vincent Lambert hatte er insgesamt sechs weitere Mediziner hinzugezogen – darunter einer, der von den Eltern bestimmt worden war –, die nahezu einhellig zu dem Ergebnis gekommen waren, die künstliche Ernährung einzustellen. Darüber hinaus hatte er wiederholt die Familienangehörigen versammelt, um zu ergründen, was Vincent Lambert, der weder eine Patientenverfügung verfasst noch eine Vertrauensperson bestimmt hatte, selbst gewollt hätte. Seine Ehefrau, wie er Krankenpflegerin und mit Fragen schwerster Krankheit vertraut, berichtete, dass ihr Mann vor seinem Unfall wiederholt geäußert habe, selbst nicht in einem Zustand der Abhängigkeit leben zu wollen. Diese Grundhaltung Lamberts wurde von mehreren seiner Geschwister bestätigt. Von gegenteiligen Äußerungen wussten auch seine Eltern nicht zu berichten. Vor diesem Hintergrund, befand die Richtermehrheit, habe der Arzt annehmen dürfen, dass der Behandlungsabbruch dem mutmaßlichen Willen Vincent Lamberts entsprach.
Ein Rückschritt für den Lebensschutz?
Ganz anders die fünf abweichenden Richter: Sie sehen in der Entscheidung einen Rückschritt für den Lebensschutz. Es genüge den Anforderungen der Menschenrechtskonvention nicht, dass die Einschätzung des behandelnden Arztes vom mutmaßlichen Willen Lamberts nicht „inexacte“ sei. Für die weitreichende Entscheidung über den Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen bedürfe es vielmehr absoluter Gewissheit. Diese sei vorliegend jedoch nicht gegeben. So wiesen die Richter darauf hin, dass Vincent Lambert noch lebe, obwohl seine Nahrungsversorgung zwischenzeitlich für eine Dauer von 31 Tagen unterbrochen und seine Flüssigkeitszufuhr deutlich reduziert worden waren – nach Auffassung seiner Eltern ein Zeichen seines Lebenswillens. Darüber hinaus könne die Aussage Lamberts, nicht in einem Zustand der Abhängigkeit leben zu wollen, nicht mit Gewissheit so verstanden werden, dass er keine Nahrung und Flüssigkeit erhalten wolle.
Dies ist sicherlich richtig und zeigt zugleich, dass die Argumentation der abweichenden Richter in die Irre führt. Denn absolute Gewissheit kann es nicht geben. Nicht, wenn es an einer expliziten Willensäußerung des Patienten fehlt – über den mutmaßlichen Willen lässt sich eben nur mutmaßen. Aber auch dann nicht, wenn eine solche vorliegt, aber etwa Angehörige geltend machen, dass sie für die eingetretene Situation oder die infrage stehende Maßnahme nicht gelte – auch der schriftlich fixierte Wille ist schließlich der Auslegung bedürftig und fähig. Und welcher Arzt wird unter diesen Voraussetzungen noch wagen von einem fehlenden Lebenswillen auszugehen? Die Rigidität der abweichenden Richter, die als Plädoyer für das Primat des Patientenwillens daherkommt, verengt diesen damit in Wahrheit auf eine Vermutung für den Lebenswillen. Eine solche aber würde dort, wo ein selbstbestimmtes Handeln nicht mehr möglich ist, auch ein selbstbestimmtes Sterben verwehren.