Die missverstandene Gewaltenteilung
Das parlamentarische Regierungssystem wird oft missverstanden. So beklagte sich der – überaus kundige – ehemalige Bundesrichter und Bundestagsabgeordnete der Linken Wolfgang Neskovic in der Süddeutschen Zeitung über die enge Kooperation zwischen den Koalitionsfraktionen und der Bundesregierung. Er schlug ein Gesetz vor, dass eine solche Zusammenarbeit verbieten würde. Max Steinbeis schrieb in diesem Blog über die zunehmende Macht der Exekutive, die von keinem Parlament mehr kontrolliert würde. Beide Thesen sind sehr verbreitet, aber nicht wirklich richtig:
Im parlamentarischen Regierungssystem soll es keine Gewaltenteilung zwischen Regierungsfraktionen und Regierung geben. Darum wählt der Bundestag die Kanzlerin. Die Mehrheitsfraktionen arbeiten mit den politisch ernannten Teilen der Ministerialverwaltung zusammen, um Gesetze zu erarbeiten. Beide bilden, wie es der große Kenner des englischen Regierungssystems Walter Bagehot nannte, eine „Fusion“. Auch die Politisierung der Leitungspositionen in den Ministerien und deren Weisungsbefugnis ist kein Problem. Sie soll gerade dafür sorgen, dass die Vorbereitung der Gesetze ein demokratisches Mandat hat. Die eigentliche Linie der Gewalten-Teilung verläuft durch das Parlament, zwischen Regierung und Oppositionsfraktion. Aus diesem Grund ist es wichtig, dass die Opposition Informationsrechte gegenüber der Regierung hat. Sie muss die Kontrolle übernehmen und die wirklichen oder vermeintlichen Fehlleistungen einer Regierung im Parlament publizieren und politisieren. Die Mehrheit dagegen hat die Regierung zu stützen und ihre Politik öffentlich im Parlament vertreten.
Die Vorstellung, das Parlament müsse als Ganzes Gesetze schreiben und der Regierung als Organ kritisch gegenüberstehen, entstammt dem deutschen Kaiserreich. Hier war der Reichstag eine demokratisch legitimierte Daueropposition, der die Regierung aber nicht verantwortlich war. Die Regierung verfügte über eine vermeintlich „unpolitische“ Bürokratie, also eine demokratisch nicht verantwortliche, politisch konservative Beamtenkaste.
Ob Parlamente insgesamt an Macht verlieren, ist zumindest schwer zu sagen. Zum ersten wird diese Behauptung, die übrigens so alt ist wie der Parlamentarismus selbst, eigentlich immer ohne jeden historischen Vergleich erhoben. Nur: Wann war welches Parlament denn eigentlich mächtiger als heute? In Weimar? Im Frankreich der III. Republik? Zum zweiten ist unklar, wie man einen solchen Machtverlust in Systemen misst, in denen Regierung und Parlament ja gerade zusammengehören. Aus diesem Grund lassen sich parlamentarische Regierungen und das amerikanische Präsidialsystem, für das die meiste Literatur zu dem Thema existiert, nicht über einen Kamm scheren. Im amerikanischen System stehen sich Kongress und Präsident in der Tat als Konkurrenten gegenüber, weil beide direkt gewählt werden. Damit gelten andere Regeln. Zusätzlich kompliziert wird dies alles durch eine organisationstheoretische Einsicht: In einem gegebenen Regierungssystem gibt es keine konstante Menge an Macht. Wenn ein Organ mächtiger wird, muss deswegen nicht ein anderes an Macht verlieren. Vor vorschnellen Verfallsthesen sei also gewarnt.
So richtig verstehe ich nicht, worauf Sie mit Ihrem Beitrag hinaus wollen. Demokratiesysteme haben alle Defizite. Auch unseres und das zur Genüge. Darüber nachzudenken, wie man “mehr Demokratie” erreichen kann, halte ich daher zu jeder Zeit für angebracht. Einen solchen Ansatz finde ich bei Ihrem Beitrag nicht, Sie interpretieren nur das deutsche und US-amerikanische Parlamentssystem. Die Philosophen haben schon die Welt unterschiedlich interpretiert. Kommt es aber nicht eher darauf an, sie zu verändern? Ob Neskovic mit seinem Vorschlag einen Blumentopf gewinnen kann, lasse ich offen. Aber er sucht offensichtlich nach Änderungen. Und das ist mir recht, egal aus welcher Partei die Suchenden stammen.
Folgt man dem Ansatz, dass die Gewaltenteilung nicht zwischen den Organen Regierung und Parlament, sondern mitten im Parlament verläuft, dann liegt – streng genommen – kein Verstoß gegen das Gewaltenteilungsprinzip vor, wenn die Regierung ein Gesetz “erlässt”.
Oder differenzieren Sie zwischen der streng juristischen Gewaltenteilung und der politischen?
Natürlich gibt es Gewaltenverschränkung. Die Probleme, die in letzter Zeit zu Diskussionen über die Gewaltenteilung und das Übergewicht der Exekutive gingen, betrafen aber ganz andere Punkte, als die von Ihnen beschriebenen. Hier ging es um Fraktionszwang, der verfassungswidrig ist, um den Entzug von Parlamentsrechten durch die Regierung (neuner Gremium), etc. Außerdem auf europäischer Seite um Entscheidungen des Ministerrates und des Europäischen Rates, die der Kontrolle der nationalen Parlamente unterliegen.
Die Gewaltenteilung läuft quer durchs Parlament? Entschuldigung, aber das ist doch Blödsinn. Denn es würde ja voraussetzen, dass die Opposition die Gesetzgebung übernimmt. Oder welche Gewalten sollen sonst getrennt werden?
Der Akt der Gesetzgebung ist doch nicht maßgeblich dadurch bestimmt, wer einen Gesetzesentwurf einbringen darf, sondern dadurch, wer ihn berät und verabschiedet. Das tut in Deutschland der Bundestag in seinen Ausschüssen und im Plenum. Dabei haben ja die Abgeordneten nicht mehr Rechte, weil sie zu einer der Fraktionen gehören, die die Koalition bilden. Es ist genau umgekehrt. Die Regierung wird erst dadurch ermächtigt, dass sich genügend Abgeordnete zu einer Koalition finden, die sie trägt. Das ist halt das parlamentarisch-repräsentative Element am System. (Bei dieser Darstellung ist natürlich der Bundesrat außen vor.)
Die Kritik dreht sich doch darum, dass das Verhalten der Abgeordneten dieser Koalition dazu führt, dass genau dieses Verhältnis umgekehrt wird. Das ist aber kein systematischer Fehler. Ihre Machtfülle ist nicht beschnitten, sie nehmen sie nur nicht wahr. Es handelt sich also um hundertfaches politisches Versagen.
[…] gutes Projekt. Möllers rückt im ersten Artikel gleich mal ein paar Mißverständnisse über die Gewaltenteilung zurecht. Ich wünsche den Autoren viel Erfolg auf diesem Weg. Tweet Verwandte Artikel:Neues […]
Und man kann die Liste lückenhafter Demokratie im Parlament fortsetzen: ich denke dabei an die fehlende Gewaltenteilung, wenn es möglich ist, als Mitglied der Exekutive gleichzeitig Mitglied der Legislative zu sein. Ist schon süß, wie Kanzlerin und Minister gleichzeitig Mitglieder des Bundestages sind. Und auf Landesebenen das gleiche Bild. Wowereit (als ein Beispiel) ist eben nicht nur OB, sonder auch Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses.
Kontrolle durch Selbstkontrolle? Wenn wir das Prinzip in der Justiz übernehmen, ist der Angeklagte gleichzeitig der Richter in gleicher Person.
Nee, Nee, wir sind noch weit entfernt von einer effektiven parlamentarischen Demokratie. Da gibt es genügend zu ändern. Packen wir es an!
Wenn es in der Bundesrepublik etwas zu bemängeln gibt, dann wohl zuallererst die Abhängigkeit der Justiz.
Doch haben wir eins im Hinterkopf: es geht um Gewaltenteilung! Es heißt nicht Gewaltentrennung!
Faktisch gibt es nämlich keine Gewaltentrennung, das ist auch gut so.
Alle 3 Gewalten bedingen sich und sind somit eher verschränkt.