2023: ein Blick zurück
Die Rollläden gehen runter, die Lichter sind schon aus, die Heizung ist abgedreht: Wir machen den Laden dicht bis 2. Januar 2024. Wir verabschieden uns für dieses Jahr von unseren Leser*innen und Unterstützer*innen und machen jetzt eine gute Woche Pause, um uns von diesem extrem spannenden, aber auch extrem anstrengenden Jahr zu erholen. Zuvor aber werfen wir noch einen Blick zurück auf die Höhepunkte dieses Jahres auf dem Verfassungsblog. Dies sind die Artikel, die den Mitgliedern des Verfassungsblog-Teams am meisten am Herzen liegen:
Hannah Beck:
„Das muss das Boot der Demokratie schon aushalten können“, höre ich oft (von Wissenschaftler*innen und Politiker*innen), wenn es um eine Zukunft geht, in der Björn Höcke Ministerpräsident Thüringens ist. Wir haben uns an den Gedanken gewöhnt, dass Rechtsextremist*innen Politik machen. In Mikropolitik des Rechtsrucks erklärt JULIA LESER, wie sich die AfD rechte Räume in unserem gesellschaftspolitischen Diskurs erarbeitet – und warum ihr die demokratischen Parteien dabei helfen.
Maxim Bönnemann:
Zu den schönsten Momenten des Verfassungsblogs gehört es, wenn Autor:innen anfangen, miteinander zu diskutieren. Wenn sie dabei dann auch noch hoch im Niveau und respektvoll im Ton über eine Frage schreiben, der (mal wieder) nachgesagt wird, dass sie die Gesellschaft „spaltet“, dann zeigt sich die ganze Stärke dieser Plattform. Wer nachlesen möchte, wie dies gelingen kann, dem möchte ich die Texte von KLAUS FERDINAND GÄRDITZ und SAMIRA AKBARIAN zum zivilen Ungehorsam ans Herz legen. Der eine Text sagt, ziviler Ungehorsam habe im demokratischen Rechtsstaat keinen Platz, der andere Text argumentiert das Gegenteil. Darüber lässt sich vortrefflich streiten, und das tun die beiden auch. Wenn Sie die Rede von gesellschaftlichen Echokammern auch gelegentlich ermüdet, dann werden Sie an dem Austausch zur Legalität und Legitimität des zivilen Ungehorsams Ihre Freude haben.
Anja Bossow:
Mein Lieblingsbeitrag in diesem Jahr war „Supreme Judgecraft“, geschrieben von zwei führenden Denkerinnen im Flüchtlings- und Migrationsrecht, CATHERINE BRIDDICK und CATHRYN COSTELLO. Der Beitrag analysiert die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs des Vereinigten Königreichs, dass die Ruanda-Politik der Regierung rechtswidrig ist. Der Beitrag ist rigoros und nuanciert und ermöglicht es auch einem mit dem Thema nicht vertrauten Leser, sowohl die rechtliche als auch die politische Bedeutung eines Urteils in einem Verfassungssystem zu erfassen, das ganz anders funktioniert als das deutsche. Bonuspunkte gab es für den hervorragenden Titel. Diese lassen mein Redakteursherz immer etwas höher schlagen.
Evin Dalkilic:
Es gibt Texte, die einen auf eine Weise berühren, dass man sie noch eine ganze Weile nach dem Lesen mit sich trägt. So ging es mir mit dem Beitrag von DÁNIEL KARSAI. Er ist Menschenrechtsanwalt und unheilbar krank und streitet vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte für das Recht, seinem Leben selbstbestimmt ein Ende setzen zu dürfen. Mit einer beeindruckenden Wucht und Stärke gelingt es Dániel Karsai, einen sehr persönlichen Text zu verfassen, ohne rührselig zu werden. Er führt uns einmal mehr eine Wahrheit vor Augen, die ebenso banal wie richtig ist: Regeln bleiben nur so lange abstrakt-generell, bis sie auf uns angewendet werden, und dabei können sie uns alle ganz unterschiedlich treffen.
Klaas Müller:
Ich möchte die Diskussion zur GEAS-Reform: „Europas Werk und Deutschlands Beitrag“ (MAXIMILIAN PICHL), „Showdown zur Asylpolitik in Brüssel“ (DANIEL THYM) und „Grenzwertige Grenzverfahren“ (ISABEL KIENZLE und JONATHAN KIEßLING) aus dem Sommer hervorheben. In einem Jahr, in dem das Asyl- und Migrationsrecht eine erhebliche politische und rechtliche Verschärfung erfahren hat, tut es sehr gut, wenn innerhalb der Fachdiskussion dennoch weiterhin die menschenrechtlichen roten Linien deutlich werden. Auch wenn die Perspektiven der Autor*innen stark divergieren, der hier geltende zwanglose Zwang des besseren Arguments ist die große Stärke des Verfassungsbloggings!
Janos Richter:
Zwei Beiträge haben mich dieses Jahr besonders beschäftigt: „Rechtsstaat in Gewahrsam“ (TORE VETTER) und „Pro-Palästina als unmittelbare Gefahr?“ (CLEMENS ARZT). Beide Texte problematisieren eine immer restriktivere Handhabung der Versammlungsfreiheit durch Polizei und Versammlungsbehörde. Anstatt sich auf ein differenziertes und verhältnismäßiges Vorgehen zu besinnen, wird mit Allgemeinverfügungen, überschießenden Verboten und (vermeintlicher) „Deeskalation durch Stärke“ reagiert. Diese Entwicklung lässt vor dem Hintergrund, dass autoritäre Akteur*innen bei den kommenden Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg in entscheidende Positionen gelangen könnten, sorgenvoll in das Jahr 2024 blicken.
Moritz Schramm:
Was für ein Jahr (mal wieder). Nach Atem japsend zwischen all den großen und kleinen Krisen, verheddert in eigenartigen Verschränkungen und hastig zusammengebastelten Lösungen vergessen wir oft innezuhalten und zu reflektieren. Was hat denn jetzt eigentlich das letzte Mal funktioniert? War diese oder jene Aufregung berechtigt? Was hätten wir anders machen können? Vor diesem Hintergrund war PÄIVI LEINO-SANDBERGS Text zu zwei Jahren NextGenerationEU mein diesjähriges Highlight. Investigativ, journalistisch, mit hoher juristischer Akuratesse stellt Päivi Fragen die weh tun, aber nötig sind und räumt so den Blick frei auf die Dehnungsstreifen und Wachstumsschmerzen europäischer Einigung.
Maximilian Steinbeis:
Mein Text des Jahres 2023 ist, was mir TAMAR HOSTOVSKY am 13. Februar über die Schlüsselrolle der israelischen Rechtswissenschaft in der Mobilisierung von massenhaftem Widerstand gegen die Unterwerfung der unabhängigen Justiz durch die Netanyahu-Regierung erzählt hat. Nach dem 7. Oktober und mitten im Gaza-Krieg wirkt das wie aus einer anderen Epoche. Aber die Inspiration ist zeitlos. Rechtswissenschaft matters im Abwehrkampf gegen den globalen autoritären Populismus. Das können wir von Israel lernen.
Friedrich Zillessen:
Eines der Ereignisse des Jahres war für mich die Wahl Robert Sesselmanns zum Landrat im südthüringischen Sonneberg – auch weil sie mit dem Start des Thüringen-Projekts zusammenfiel. Nach der Wahl bestand der AfD-Politiker, immerhin Beisitzer im Vorstand des „erwiesen rechtsextremistischen“ Landesverbandes, die sog. Verfassungstreueprüfung. In dem Beitrag „Scharfes Schwert oder bloßes Gesetzeslametta“ zeigt MICHAEL BRENNER treffend, inwiefern diese Regelung im Kommunalwahlrecht ein Lippenbekenntnis an die „wehrhafte Demokratie“ ist, die keinem Praxistest standhält. Wir werden wohl auch im nächsten Jahr sehen, wie viel „Gesetzeslametta“ die Instrumente der wehrhaften Demokratie in Deutschland sind. Auf sie verlassen sollten wir uns nicht.
Höcke Wählbarkeit aberkennen
Hallo Lucia,
AfD: 34 Prozent. Klingt absurd, könnte 2024 aber Realität werden. In Thüringen liegt die AfD unter Björn Höckes Führung in den Umfragen weit vorne. Doch ein Passus im Grundgesetz könnte alles verändern. Artikel 18 besagt: Wer Grundrechte zum Kampf gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung missbraucht, darf sich nicht mehr auf sie berufen. Im Fall von Höcke hieße das: Er würde sein Recht auf politische Aktivität verlieren – und dürfte sich nicht mehr zur Wahl stellen.
Genau das fordert Indra Ghosh mit einer Petition auf WeAct, der Petitionsplattform von Campact. Aufgegriffen hat er die Idee vom Juristen und Journalisten Heribert Prantl und der Verfassungsrechtlerin Gertrude Lübbe-Wolff. Der Clou: Eine sogenannte Grundrechtsverwirkung ist niedrigschwelliger als das ebenfalls diskutierte Parteiverbot – also realistischer. Lucia, unterzeichne die WeAct-Petition, damit dieser Vorschlag nicht verpufft.
Unterzeichne jetzt, damit sich Höcke nicht mehr wählen lassen kann
Gestartet von: Indra Ghosh
Wehrhafte Demokratie: Höcke stoppen!
An: Bundeskanzler Olaf Scholz / die Fraktionsspitzen der demokratischen Parteien des Deutschen Bundestages: R.Mützenich (SPD), F.Merz (Union), K.Dröge & B.Haßelmann (Die Grünen), C.Dürr (FDP), D.Bartsch (Die Linke)
Stoppen Sie den Faschisten Björn Höcke: Veranlassen Sie, dass die Bundesregierung beim Bundesverfassungsgericht einen Antrag auf Grundrechtsverwirkung nach Artikel 18 GG stellt.
Dieser Mann ist ein wahrhaft gefährlicher Feind der freiheitlichen Demokratie. Aber die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben im Bewusstsein der Erfahrungen während der Weimarer Republik Instrumente bereit gelegt, um sich gegen Verfassungsfeinde zu wehren: Neben einem kompletten Parteiverbot auf Landes- oder Bundesebene ist die „Grundrechtsverwirkung“ nach Artikel 18 des Grundgesetzes eine gezielte Maßnahme gegen einzelne Verfassungsfeinde, jüngst thematisiert von der ehemaligen Bundesverfassungsrichterin und Verfassungsrechtlerin Gertrude Lübbe-Wolff sowie Heribert Prantl, ehemaliges Mitglied der Chefredaktion der Süddeutschen Zeitung, Kolumnist und Honorarprofessor für Rechtswissenschaft an der Universität Bielefeld.[4,5] Die Grundrechtsverwirkung beinhaltet, dass demjenigen die Inanspruchnahme einzelner Grundrechte entzogen werden kann, der diese „zum Kampfe gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung missbraucht“.[6] Ein Antrag auf Verwirkung der Grundrechte kann vom Bundestag, von der Bundesregierung oder von einer Landesregierung gestellt werden. Das Bundesverfassungsgericht entscheidet in diesem Fall über Ausmaß und Dauer der Verwirkung.
Darüber hinaus kann im Zuge der Grundrechtsverwirkung für dessen Dauer auch das Wahlrecht, die Wählbarkeit und die Fähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Ämter aberkannt werden (§39 Absatz 2 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes, BVerfGG). Und genau dies muss passieren, damit Björn Höcke der freiheitlichen Demokratie keinen weiteren Schaden zufügen kann.
„Nächstes Jahr wird in Thüringen gewählt. Und es besteht die Gefahr, dass die AfD nach dieser Wahl die stärkste Kraft im Landtag von Erfurt sein wird. Dieser Landesverband wurde im März 2020 vom Thüringer Verfassungsschutz als rechtsextremistischer Verdachtsfall eingestuft. Im März 2021 wurde der Thüringer AfD-Landesverband zum erwiesen extremistischen Beobachtungsobjekt erklärt und im Verfassungsschutzbericht 2022 Freistaat Thüringen liest man: ‚Der AfD Landesverband Thüringen ist (jedoch) eine erwiesen rechtsextremistische Bestrebung gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung. Der Landesverband vertritt seit Jahren Positionen, die sich gegen die Menschenwürde, gegen das Demokratie- und gegen das Rechtsstaatsprinzip richten. Im Berichtszeitraum ist keine politische Mäßigung eingetreten. Im Gegenteil gelten die unter den genannten Begriffen zusammengefassten verfassungsfeindlichen Positionen, die sich in ziel- und zweckgerichteter Weise gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung richten, als die beherrschende und weitgehend unumstrittene politische Ideologie innerhalb des Landesverbandes.‘ [1]
An der Spitze des Thüringer AfD-Landesverbandes steht prominent Björn Höcke. Sein Einfluss in der Bundes-AfD ist ebenfalls zentral. Höcke hetzt gegen die im Grundgesetz verankerte freiheitliche demokratische Grundordnung, die Erinnerungskultur in Bezug auf den Holocaust und Menschen mit Migrationshintergrund. Er bezeichnet das Holocaust-Mahnmal in Berlin als ein ‚Denkmal der Schande‘ [2] und fordert im gleichen Zusammenhang eine ‚erinnerungspolitische Wende um 180 Grad‘. Er schwadroniert von dem ‚bevorstehenden Volkstod durch den Bevölkerungsaustausch‘.[3] Auch was er zukünftig vorhat, teilt er unverblümt mit: ‚Ein paar Korrekturen und Reförmchen werden nicht ausreichen, aber die deutsche Unbedingtheit wird der Garant dafür sein, dass wir die Sache gründlich und grundsätzlich anpacken werden. Wenn einmal die Wendezeit gekommen ist, dann machen wir Deutschen keine halben Sachen, dann werden die Schutthalden der Moderne beseitigt.‘ [3] Dies alles sagt ein Faschist. Dass man ihn so nennen darf, hat das Verwaltungsgericht Meiningen bereits im Jahr 2019 festgestellt.
Wir fordern, dass insbesondere die Bundesregierung aktiv wird und beim Bundesverfassungsgericht im Fall Höcke einen Antrag auf Grundrechtsverwirkung nach Artikel 18 GG stellt.“
Unterzeichne jetzt, um Höcke zu blockieren!
Diese Petition wurde auf WeAct, der Petitionsplattform von Campact, gestartet. Es ist also keine Kampagne von Campact, aber wird durch WeAct-Campaigner*innen unterstützt. Da viele Campact-Aktive diese Petition unterstützen, möchten wir Dich mit dieser E-Mail gerne darauf hinweisen.
Vielen Dank und herzliche Grüße
Dein Campact-Team
[1] Verfassungsschutzbericht 2022, Freistaat Thüringen, Pressefassung
[2] Rede vom 17.01.2017 auf der Veranstaltung der AfD-Jugendorganisation Junge Alternative (JA) in Dresden
[3] In „Nie zweimal in denselben Fluss“, Björn Höcke im Gespräch mit Sebastian Hennig, 21.06.2018, Manuscriptum Verlagsbuchhandlung
[4] Das Politikteil, Zeit Online, „Kann man die AfD verbieten? Sollte man sie verbieten?
[5] „AfD. Ein Fall für Artikel 18“, Kolumne von Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung vom 2. November 2023
[6] Artikel 18 GG
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Campact e. V. · Artilleriestraße 6 · 27283 Verden
Wie weit dürfen politische Interessen gehen, darf es dazu fuehren dass man durch Framing und bewusstes Weglassen von Kontext erst der Eindruck entsteht, dass die politische Forderung gar nicht so ungeheuerlich ist? Objektiv hat das Verwaltungsgericht eben nicht bestätigt, dass Herr Hoecke ein Faschist ist, es hat lediglich bestätigt, dass er im Rahmen einer politischen Auseinandersetzung dulden muss als solcher bezeichnet zu werden, da dies von der Meinungsfreiheit gedeckt ist. Das wird nirgends so kommuniziert und konsequent im oeffentlichen Diskurs faktisch falsch dargestellt (man darf Herrn Hoecke Faschist nennen). Mit der vorliegenden Begründung der Meinungsfreiheit darf jeder jeden in der Politik einen Faschisten nennen, das muesste dann der ÖRR dann in der Berichterstattung dann auch genauso kommunizieren um ihrer Beutrakitaetspflicht nachzukommen.