10 July 2017

„Ehe für alle“ eher nicht: Traditionalismus und Staatshomophobie – Russlands Weg im Umgang mit Diskriminierung

Homophobe Rechtspraktiken in Russland haben eine lange Tradition. Diese Tradition wird von der russischen Regierung wie auch von der russisch-orthodoxen Kirche bewahrt. Weder ausreichende Schutzmaßnahmen für die Betroffenen homophober Diskriminierung und Gewalt, noch Aufklärung gegen Trans- und Homophobie werden seitens des Staates gewährleistet. Die Etablierung einer homophoben gesellschaftlichen Ordnung geht auf Kosten der Menschenrechte, wie die restriktive Gesetzgebung vergangener Jahre auf regionaler sowie föderaler Ebene gezeigt hat. Chancen auf faire gerichtliche Verfahren existieren bedauerlicherweise kaum. Prozesse vor dem EGMR werden so unvermeidbar und sind für viele Beschwerdeführer_innen die letzte Möglichkeit, ihre Rechte durchzusetzen.

Russland und der EGMR – ein Eiszeitmärchen

Das Verhältnis Russlands zum EGMR ist zerrüttet. Die Annahme der Beschwerde im Fall „Markin gegen Russland“ durch den EGMR im Jahre 2010 läutete den Einbruch der Eiszeit in den Beziehungen zum Gerichtshof ein. Der traditionsbewusste Vorsitzende des russischen Verfassungsgerichts W. Sorkin griff direkt nach dieser Annahme zur Feder und beschwerte sich im Staatsblatt „Russkaja Gazeta“ über die Infragestellung seiner Entscheidung durch den EGMR. Im Artikel „Die Grenze der Nachgiebigkeit“ schrieb er:„Die Grenze unserer Nachgiebigkeit ist der Schutz unserer Souveränität, unserer nationalen Institutionen und unserer nationalen Interessen.“ Dabei berief er sich auf Art. 4 der russischen Verfassung, welcher die Souveränität des Landes garantiert. Nachdem das russische Verfassungsgericht auf die Entscheidung des EGMR in diesem Fall im Jahre 2013 noch wild argumentieren musste, warum es bei den Entscheidungskollisionen mit dem EGMR „das letzte Wort“ habe, wurde im Jahre 2015 die postulierte „Grenze der Nachgiebigkeit“ durch eine Änderung im russischen föderalen Verfassungsgesetz als „zusätzliche Garantie“ zum Schutz der Verfassungsordnung, verankert. Diese ermöglicht unter anderem dem russischen Justizministerium nunmehr, die Entscheidungen internationaler Menschenrechtsschutzgremien vom Verfassungsgericht überprüfen zu lassen. Die im Verfassungsblog von Alsu Galiautdinova erwähnten Fälle Anchugov und Gladkov gegen Russland“ sowie „Yukos gegen Russland“ zeugen von der Missbrauchsanfälligkeit dieser Regelung. Eine Besserung der Lage in näherer Zukunft scheint unwahrscheinlich.

Staatshomophobie

Im Jahre 2006 beschloss das Regionalparlament von Rjasan das Gesetz über den „Schutz der Sittlichkeit und Gesundheit von Kindern in Rjasan Oblast“, welches Handlungen in der Öffentlichkeit, die „Propaganda“ von Homosexualität bei Minderjährigen zum Ziel haben, verbietet (Art. 4: „Handlungen in der Öffentlichkeit, die sich auf Propaganda für Homosexualität richten, sind nicht zulässig.“). Im Jahre 2008 folgte eine Regelung im regionalen Ordnungswidrigkeitsgesetz, die Handlungen in der Öffentlichkeit unter Geldstrafe stellt, die sich auf „Propaganda“ für Homosexualität richten. Ähnliche Regelungen wurden im Jahre 2011 in Archangelsk und 2012 in St. Petersburg eingeführt.

Der LGBT-Aktivist Nikolay Bayev protestierte im März 2009 mit zwei Plakaten vor eine öffentlichen Schule in Rjasan: „Homosexualität ist normal“ und „Ich bin stolz auf meine Homosexualität“ war darauf zu lesen. Daraufhin wurde er wegen „Propaganda“ für Homosexualität zu einer Geldstrafe verurteilt, ebenso wie die zwei Aktivisten Aleksey Kiselev und Nikolay Alekseyev in Archangelsk und St. Petersburg, die ähnliche Proteste führten. Gegen die Verurteilungen reichten die Aktivisten Beschwerden bei dem Russischen Verfassungsgericht ein. Sie beriefen sich auf Art. 19 und Art. 29 der russischen Verfassung, die Gleichbehandlung und Meinungsfreiheit garantieren. Das Verfassungsgericht lehnte die Beschwerden als unzulässig ab. Im Juni 2013 wurde das föderale Ordnungswidrigkeitsgesetz der Russischen Föderation geändert und durch Art. 6.21 ergänzt, der Geld- und Arreststrafen (sog. Administrativ-Arrest) für „Propaganda nicht-traditioneller sexueller Beziehungen bei Minderjährigen“ vorsieht.

Die Aktivisten Nikolay Alekseyev, Yaroslav Evtushenko und Dmitri Isakov wurden auf dieser Rechtsgrundlage zu Geldstrafen verurteilt, nachdem sie vor einer Kinderbibliothek in Archangelsk sowie im Zentrum von Kazan protestierten und Plakate mit ähnlichen Aussagen hochhielten. Daraufhin reichten sie beim russischen Verfassungsgericht eine Beschwerde gegen Art. 6.21 Ordnungswidrigkeitsgesetz mit dem Gesuch ein, die Norm für verfassungswidrig zu erklären. Das russische Verfassungsgericht hielt die Norm indes für verfassungskonform und begründete dies damit, dass das Verbot von „Propaganda“ für Homosexualität dem Schutz von bedeutenden Verfassungsgütern wie Familie und Kindheit, deren geistiger und moralischer Entwicklung sowie der Gesundheit von Minderjährigen diene. Weiterhin war das Verfassungsgericht der Überzeugung, dass die Regelung kein Verbot und keine öffentliche Verunglimpfung nichttraditioneller sexueller Beziehungen darstelle und eine öffentliche Diskussion über die rechtliche Lage „sexueller Minderheiten“ nicht verhindere.

Das jüngste Urteil des EGMR

Nach seiner Verurteilung wegen „Propaganda für Homosexualität“ reichte Nikolay Bayev noch im selben Jahr eine Beschwerde wegen Verletzung der Meinungsfreiheit und Diskriminierung aus Art. 10 und Art. 14 i.V.m. Art. 10 EMRK beim EGMR ein. Im Jahre 2013 folgten ihm Alksey Kiselev und Nikolay Alekseev mit weiteren Beschwerden. Der EGMR verband die Beschwerden miteinander und urteile am 20. Juni 2017 urteilte im Fall „Bayev, Kiselev, Alekseyev gegen Russland“ zu ihren Gunsten.

Die russische Regierung verfolgte drei Argumentationsstränge zur Rechtfertigung des umstrittenen Gesetzes: Schutz der Moral, Schutz von Gesundheit und demografischer Entwicklung sowie Schutz von Rechten Dritter. Zum Schutz der Moral argumentierte die Regierung, dass die öffentliche Kundgabe der Homosexualität im Widerspruch zu den gesellschaftlichen Werten der Bevölkerungsmehrheit Russlands stehe und ein Hindernis für die Vermittlung von traditionellen Familienwerten bilde. Ferner stelle die Förderung gleichgeschlechtlicher Beziehungen ein Risiko für die öffentliche Gesundheit und demographische Situation des Landes dar. Darüber hinaus argumentierte die Regierung damit, dass Minderjährige vor Informationen geschützt werden sollen, die ein positives Bild von Homosexualität vermitteln, um zu vermeiden, dass sie zum „homosexuellen Lebensstill“ konvertieren, denn dieser könnte ihre Entwicklung beeinträchtigen und für Missbrauch anfälliger machen. Die Regierung sieht vor allem die Selbstbestimmung der Kinder sowie die elterliche Entscheidung über die Sexualerziehung der Kinder in Gefahr.

Der EGMR geht in seiner Entscheidung vom klaren europäischen Konsens über die Anerkennung von Rechten homosexueller Menschen aus (Rn. 66). In Anbetracht der Tendenz, Beziehungen zwischen gleichgeschlechtlichen Paaren als „Familienkonzept“ zu verstehen (Rn. 67), vermag der Gerichtshof keine Hindernisse für die Vermittlung von traditionellen Familienwerten zu erkennen. Im Gegenteil – der EGMR beobachtet eine steigende Anzahl von Anträgen, die sich auf den Zugang zu Rechtsinstitutionen der Ehe, der Elternschaft und der Adoption bei gleichgeschlechtlichen Paaren richten. Nach Ansicht des Gerichtshofes konnte die russische Regierung nicht darlegen, wie die Meinungsfreiheit Homosexueller das Bestehen der „traditionellen Familie“ beeinträchtigen könne.

Ebenso wenig konnte die Regierung Nachweise über die angeblichen Gesundheitsrisiken erbringen. Der Gerichtshof hält es für sehr unwahrscheinlich, dass die Einschränkung der Meinungsfreiheit in Bezug auf Homosexualität zu einer Verringerung von Gesundheitsrisiken bei Minderjährigen führe. Vielmehr sieht der EGMR die Wissensvermittlung über die Fragen der Sexualität und Sensibilisierung für die damit verbundenen Risiken und Möglichkeiten, sich gegen diese Risiken zu schützen, als unentbehrlichen Bestandteil einer guten Gesundheitspolitik.

Für den Gerichtshof ist auch nicht erkennbar, wie das russische Verbotsgesetz die demografische Situation des Landes verbessern solle, denn das Bevölkerungswachstum hänge von vielen Faktoren ab, wobei die offensichtlichsten Wohlstand, soziale Absicherung sowie öffentliche Kinderbetreuung seien. Allen drei Faktoren sind in Russland schwach ausgeprägt. Zugleich hänge die Anerkennung heterosexueller Paare nicht von ihrer Reproduktionsfähigkeit ab (Rn. 73). Warum das bei homosexuellen Paaren anders sein sollte, ist für den Gerichtshof nicht nachvollziehbar.

Die Hinweise der Regierung auf eine angebliche Anfälligkeit homosexueller Minderjähriger für Missbrauch verdeutlicht das verzerrte Verständnis von Homosexualität; Homosexualität wird in Russland noch immer häufig mit Pädophilie in Verbindung gebracht. Der Gerichtshof verurteilt diese Gleichsetzung und weist darauf hin, dass Missbrauchsgefahr sich nicht nur auf homosexuelle Beziehungen beschränkt und dass heterosexuelle Beziehungen genauso davon betroffen seien. Minderjährige seien bereits durch das Strafrecht, das nicht nach sexueller Orientierung unterscheide, vor Missbrauch geschützt. Bei solch einem sensiblen Thema wie der Sexualerziehung sollen laut Gerichtshof die Ansichten der Eltern, die Bildungspolitik und die Meinungsfreiheit Dritter ins Gleichgewicht gebracht werden. Hierfür solle die Regierung auf Objektivität, Pluralismus und Wissenschaftlichkeit zurückgreifen (Rn. 82).

Der Versuch der russischen Regierung, diskriminierende Rechtspraktiken mit angeblichen Traditionen, Moralvorstellungen und Sorgen um den Nachwuchs zu rechtfertigen, scheiterte vor dem Gerichtshof kläglich. Der EGMR sah die Beschwerdeführenden in ihren Rechten aus Art. 10 und Art. 14 EMRK verletzt und sprach ihnen Entschädigung zu. Nur der Richter Dedov gab sich in gewohnter Manier die Mühe, die schwache Argumentation der Regierung in seiner abweichenden Meinung aufzupeppen, doch beschränkte auch er sich auf wenig differenzierte Ausführungen.

Das russische Justizministerium kündigte an, die noch nicht rechtskräftige Entscheidung innerhalb der nächsten drei Monate von der großen Kammer des EGMR überprüfen zu lassen. Die Wahrscheinlichkeit, dass die neue Entscheidung für Russland günstiger ausfallen wird, ist allerdings gering.

Ehe für alle? Eher nicht.

In Anbetracht der jüngsten Entwicklungen in Deutschland ist ein Blick auf das russische Familienrecht angezeigt. Die gleichgeschlechtliche Ehe ist in Russland – wenig überraschend – nicht anerkannt. Ebenso wenig sind andere Partnerschaftsformen für gleichgeschlechtliche Paare im russischen Recht vorgesehen. Die überkommene Formel von der Ehe als „Verbindung zwischen Mann und Frau“ ist im Land aktueller denn je und wird vehement verteidigt. Was eine „Ehe“ ist, ist allerdings weder in der russischen Verfassung noch im Familienrecht explizit definiert. Jedoch lässt sich das heteronormative Verständnis von Ehe aus dem Familienrecht ableiten, wo in Art. 1 Abs. 3 von der „ehelichen Bindung zwischen Mann und Frau“ die Rede ist. Während LGBT-Aktivist_innen versuchen, das Recht auf Ehe durch die Instanzen zu klagen, wird von Politiker_innen und Geistlichen gegen die gleichgeschlechtliche Ehe Stimmung gemacht.

Der russische Patriarch Kirill bezeichnet die gleichgeschlechtliche Ehe als „Symptom der Apokalypse“, vergleicht legalisierende Gesetzgebung gar mit den Gesetzen des Dritten Reiches und rechtfertigt damit homophobe Proteste (in diesem Fall in Frankreich). Putin fällt dabei nicht weit von seinem „geistigen Stammvater“ Kirill ab und sieht in der gleichgeschlechtlichen Ehe den „direkten Weg zu Degradierung und Primitivität sowie tiefer demografischer und moralischer Krise“. Auch der bereits erwähnte Vorsitzende des russischen Verfassungsgerichts Sorkin hetzte schon gelegentlich gegen Minderheiten und bezieht sich gerne auf die Weltuntergangsprophezeiungen des Apostel Paulus.

Wegen fehlender Möglichkeit, in Russland eine gleichgeschlechtliche Ehe oder Partnerschaft rechtlich einzugehen, reichten die LGBT-Aktivist_innen Irina Fedotova und Irina Shipitko eine Beschwerde gegen Russland wegen Verletzung ihrer Rechte aus Art. 8 und Art. 11 der EMRK beim EGMR ein. Der Gerichtshof nahm die Beschwerde an, so dass in der näheren Zukunft mit einer weiteren Entscheidung zu dieser Thematik zu rechnen ist. Dennoch scheint eher unwahrscheinlich, dass homosexuelle Paare in Russland bald wie in Deutschland die Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe feiern werden können. Die Homophobie ist in der Gesellschaft sehr weit verbreitet und durchdringt neben dem politischen auch das Rechtssystem des Landes. Durch das Erstarken der russisch-orthodoxen Kirche werden diskriminierende Praktiken gegen alles, was „nichttraditionell“ erscheint, befeuert. Die Zivilcourage von Aktivist_innen, Aufklärung sowie politischer Druck aus dem Ausland könnten die russische Regierung gleichwohl zum Umdenken bewegen, wie zu hoffen ist. Der EGMR kann dabei eine Schlüsselrolle einnehmen und trotz angedrohter „Grenzen der Nachgiebigkeit“ zugunsten der Menschenrechte entscheiden.


SUGGESTED CITATION  Prokopkin, Sergej: „Ehe für alle“ eher nicht: Traditionalismus und Staatshomophobie – Russlands Weg im Umgang mit Diskriminierung, VerfBlog, 2017/7/10, https://verfassungsblog.de/ehe-fuer-alle-eher-nicht-traditionalismus-und-staatshomophobie-russlands-weg-im-umgang-mit-diskriminierung/, DOI: 10.17176/20170710-183825.

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