Sonderrecht
Dies ist eine Zeit großer Trauer, Furcht und Verwirrung, und ich fühle mich drei Wochen nach dem Überfall der Hamas-Terroristen auf Israel nicht bereit, starke Meinungen rauszuhängen zu dem, was da in Hinblick auf die israelische Reaktion, den Protest dagegen und die Repression dieses Protestes gerade passiert. Gleichzeitig nimmt mir die 9/11-hafte Wucht, mit der sich auch und gerade hier in Deutschland im Augenblick die Koordinaten des grundrechtlich Geschützten bzw. Verbietbaren zu verschieben scheinen, den Atem. Was passiert hier gerade unter unseren Füßen?
Plötzlich sind sich offenbar weite Teile der Politik und der öffentlichen Meinung darin so einig, als verstünde sich das völlig von selbst, dass die Antwort auf die Frage, wie weit der Schutz der Meinungs- und Versammlungsfreiheit reicht, nicht in bestimmten benennbaren Normen des Grundgesetzes zu suchen und zu finden ist, sondern in etwas, das sich “Staatsräson” nennt. Was genau soll das sein? Die Sicherheit Israels ist stets im Interesse der Bundesrepublik Deutschland, sehr gut, bin ich absolut dafür. Aber wie kann ein außenpolitisches Staatsinteresse eine Rechtfertigung dafür sein, Bewohner*innen und Bürger*innen der Bundesrepublik im Inland, auf dem Geltungsbereich des Grundgesetzes, in ihren Freiheitsgrundrechten einzuschränken? Wie konstruiert man das rechtlich? In welchem Verfahren wurde der Rechtssatz, der diese Schranke errichtet, in Geltung gesetzt? Oder steht das implizit schon drin im Grundgesetz, und wenn ja, wo und wie genau? Ehrlich, ich versteh’s nicht. Vielleicht kann mir das jemand erklären.
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An der Bucerius Law School ist zum 1. Januar 2024 bei Prof. Dr. Christian Bumke (Commerzbank Stiftungslehrstuhl Grundlagen des Rechts) eine Stelle als wissenschaftliche:r Mitarbeiter:in (m/w/d) zu besetzen. Tätigkeitsbereiche sind das öffentliche Recht, insbesondere Verfassungsrecht, sowie ggfs. die Grundlagen des Rechts. Die Stelle ist zunächst auf 2 Jahre befristet und umfasst 20 Wochenstunden. Bewerbungsfrist ist der 1. Dezember 2023. Nähere Informationen finden Sie hier.
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Die CDU will die Leugnung des Existenzrechts Israels unter Strafe stellen. Ich habe, to state the obvious, keinerlei Sympathie mit Menschen, die Israel das Recht zu existieren absprechen. Und ich kann auch jeden verstehen, der Verdruss angesichts der Notwendigkeit empfindet, Gegendemos zu organisieren, auf dass die Leugner nicht unwidersprochen bleiben. Man wünschte, man könnte die Polizei rufen gegen sie. Aber das Grundgesetz schützt bekanntlich innerhalb der Schranken der “allgemeinen Gesetze” die Freiheit, auch die abscheulichste Meinung zu haben und zu äußern. Mittels allgemeiner Gesetze kann der Staat das Geeignete, Erforderliche und Verhältnismäßige tun, um die gefährlichen Auswirkungen von Meinungsäußerungen für bestimmte Rechtsgüter zu regulieren, wozu selbstverständlich auch und insbesondere die Sicherheit von Jüd*innen in Deutschland gehört – schrecklich genug, dass die wieder und immer noch so gefährdet ist. Aber was er nicht tun kann, ist ein “Sondergesetz” erlassen, das direkt das Haben und Äußern einer ganz bestimmten Meinung verbietet. Das ist ihm nach Art. 5 Grundgesetz verboten.
Der hessische Justizminister Roman Poseck, der diese neue Strafnorm auf die Tagesordnung der nächsten Justizministerkonferenz am 10. November gesetzt hat, steht einem Pressebericht zufolge auf dem Standpunkt, die Leugnung des Existenzrechts Israels sei gar keine Meinung, sondern eine falsche Tatsachenbehauptung: Das Völkerrecht garantiere Israels Existenzrecht, und wer das leugnet, behauptet eine falsche Tatsache. Wie er darauf kommt, ist nicht schwer zu erraten: Die Holocaust-Leugnung ist bekanntlich auch strafbar, und das ist in der Tat keine Meinung darüber, wie die Wirklichkeit sein sollte, sondern eine Behauptung, wie die Wirklichkeit bereits beschaffen ist, und zwar eine evident falsche (zur etwas komplizierteren Holocaust-Verharmlosung: hier). Dass sich das nicht auf die Leugnung des Existenzrechts Israels übertragen lässt, liegt auf der Hand. Was rechtlich gilt oder nicht, ist keine Tatsachenfrage, was eigentlich jeder, der eine juristische Ausbildung durchlaufen hat, im Schlaf wissen müsste.
Das Verbot von Sondergesetzen gilt nicht lückenlos, sondern seit einer spektakulären und hoch riskanten Intervention des Bundesverfassungsgerichts 2009 mit einer Ausnahme: Die Meinung, die nationalsozialistische Gewalt- und Willkürherrschaft sei zu billigen, zu verherrlichen oder zu rechtfertigen, durfte der Gesetzgeber in der Tat mittels eines Sondergesetzes (§ 130 IV StGB) verbieten, ohne gegen Art. 5 II GG zu verstoßen. Das nationalsozialistische Gewalt- und Willkürregime, so die Begründung, sei nicht irgendein Regime, zu dem man als Bundesdeutsche*r diese oder jene Meinung haben könne, sondern “für die verfassungsrechtliche Ordnung der Bundesrepublik Deutschland (von) gegenbildlich identitätsprägende(r) Bedeutung”. Das Grundgesetz sei als “Gegenentwurf” zu diesem Regime entstanden und sei “von seinem Aufbau bis in viele Details hin darauf ausgerichtet, aus den geschichtlichen Erfahrungen zu lernen und eine Wiederholung solchen Unrechts ein für alle Mal auszuschließen”. Sich auf die Seite dieses Regimes zu schlagen, sei daher keine Meinung, deren Gefährlichkeit mittels allgemeiner Gesetze in den Griff zu bekommen ist, sondern als solches “ein Angriff auf die Identität des Gemeinwesens nach innen mit friedensbedrohendem Potential”.
Das, so das Gericht, gilt aber nur für die Verherrlichung des historischen NS-Regimes 1933-45. Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus insgesamt müsse die Bundesrepublik ohne Sondergesetze hinbekommen. Das Grundgesetz kenne “kein allgemeines antinationalsozialistisches Grundprinzip”, so der Erste Senat in Abgrenzung zum Oberverwaltungsgericht Münster, mit dem er sich damals eine fortdauernde Fehde über die Verbietbarkeit von Nazi-Demonstrationen lieferte. “Das Grundgesetz gewährt Meinungsfreiheit im Vertrauen auf die Kraft der freien öffentlichen Auseinandersetzung vielmehr grundsätzlich auch den Feinden der Freiheit.”
Es hat damals nicht an liberalen Stimmen gefehlt, die diese Ausnahme für gefährlich hielten. Wenn man mit den Ausnahmen mal anfängt, so hieß es, dann hört man so schnell nicht mehr auf damit. Mir hat das nicht eingeleuchtet. Das Verbot der Verherrlichung des NS-Regimes, so schien mir, ist die Ausnahme, die die liberale Regel kraftvoll bestätigt.
Ich bin da nicht mehr so sicher. Könnte man nicht die Leugnung des Existenzrechts Israels genauso als “Angriff auf die Identität des Gemeinwesens nach innen mit friedensbedrohendem Potential” sehen? Warum sollte man dafür nicht eine weitere Ausnahme von der Regel zulassen? Und wenn man das tut, was macht das dann mit der für unsere Demokratie doch so “schlechthin konstitutiven” Regel?
Eine Ausnahme bestätigt die Regel. 25 Ausnahmen bestätigen die Nichtgeltung der Regel. Kann es sein, dass wir uns bereits irgendwo dazwischen befinden?
Die letzten zwei Wochen auf dem Verfassungsblog
Dass “Palästina-Demos” pauschal und präventiv verboten werden dürfen und sollen, darauf scheinen sich im Augenblick nicht nur in Deutschland eine Menge Leute bemerkenswert mühelos verständigen zu können. CLEMENS ARZT klärt die versammlungs- und verfassungsrechtliche Rechtslage und sieht einen bedenklichen repressiven Trend.
Unterstützer*innen der Terrororganisation Hamas auszuweisen oder ihnen gar die deutsche Staatsbürgerschaft zu entziehen – geht das? Wo die migrationsrechtlichen Grenzen verlaufen, zeigt ANDREA KIEßLING.
Wie Online-Antisemitismus effektiv bekämpft werden kann, untersuchen WERNER SCHROEDER und LEONARD REIDER.
Wie die Europäische Union, insbesondere Nachbarschaftskommissar Olivér Várhelyi und Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, in Hinblick auf den Terrorangriff der Hamas und den anschließenden Krieg in Gaza kommuniziert hat, findet PETER VAN ELSUWEGE entsetzlich und sieht Anlass, kritisch zu überprüfen, wie die Union sich nach außen präsentiert.
Wer aus Gaza über die einzige Grenze außer der zu Israel fliehen will, nämlich der ägyptischen, steht vor verschlossenen Toren. Ägypten lässt niemand durch. Warum das ein Verstoß gegen das Non-Refoulement-Verbot und damit klar völkerrechtswidrig ist, begründet JAMES HATHAWAY.
Israel hat das Recht, sich zu verteidigen, bleibt dabei aber dabei an das humanitäre Völkerrecht gebunden. Daran erinnert KAI AMBOS, und was das für die Pflichten Deutschlands bedeutet, untersuchen MURIEL ASSEBURG und LISA WIESE. Das moralische Dilemma der israelischen Regierung, Hamas nicht ohne extreme Schäden für Tausende Unschuldige effektiv bekämpfen zu können, diskutieren BARAK MEDINA und DAVID ENOCH.
Die Absolutheit der Menschenwürde zu verteidigen, führt noch nicht zu einer Antwort auf die Frage, wie Israelis und Palästinenser in sicheren, friedlichen Staaten leben können, was VICENTE MEDINA in einem moralphilosophischen Essay ausführt.
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Promotion im Öffentlichen Recht als Wiss. Mit. (m/w/d)!
Möchten Sie wichtigen, aktuellen Fragen auf den Grund gehen? Am Lehrstuhl von Prof. Dr. Bernd J. Hartmann, LL.M. (Virginia), an der Universität Regensburg besteht die Möglichkeit zur Promotion mit guter, stetiger und strukturierter wissenschaftlicher Betreuung. Interessiert? Bitte lesen Sie unbedingt die Ausschreibung unter www.go.uni-regensburg.de/hartmann. Achtung: Die Bewerbungsfrist endet bald. Am besten Sie bewerben sich noch heute!
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Mit ihrem jüngsten Asylpaket will die Bundesregierung den Zulauf für Rechtspopulisten in Deutschland eindämmen, aber drin in dem Paket sind nach der Analyse von ISABEL KIENZLE und ANUSCHEH FARAHAT vor allem Verschärfungen gegenüber Schutzsuchenden und die Simulation von Handlungsfähigkeit, die den Eindruck der Lähmung nur noch verschärfen wird. Warum die aktuelle Debatte um eine “Arbeitspflicht” für Asylsuchende in Deutschland neben der Sache liegt, erläutert JULIAN SEIDL.
Das Bundesverfassungsgericht hat einen Antrag der Thüringer AfD-Fraktion, die Härtefallkommissionen im Aufenthaltsrecht für verfassungswidrig zu erklären, als unzulässig abgelehnt. WINFRIED KLUTH nimmt die Gelegenheit wahr, die rechtlichen Hintergründe zu erklären.
Sahra Wagenknecht und ihre Gefolgsleute sind aus der Partei “Die Linke” ausgetreten. Hat die damit jetzt automatisch ihren Fraktionsstatus verloren? Kann der Bundestag ihn ihr aberkennen? Antworten von JANNIK KLEIN.
Können sich Minister, die gleichzeitig Abgeordnete sind, unter Berufung auf die Freiheit ihres Mandats ihren Ministerpflichten aus dem Informationsfreiheitsgesetz entziehen? Die Frage ist bezogen auf den ehemaligen Außenminister Heiko Maas zurzeit vor dem Verwaltungsgericht Berlin anhängig. LENNART LAGMÖLLER untersucht die Rechtslage.
Auch das bayerische Landesamt für Verfassungsschutz darf die AfD als Verdachtsfall führen. Das Urteil des OVG München analysiert TIM RENNER.
Darf die EU-Kommission durch Microtargeting auf Twitter ihre Durchsetzungschancen gegenüber den Mitgliedstaaten erhöhen? Das hat sie bei der auch als “Chatkontrolle” bekannten Kinderschutzverordnung probiert, hätte sie nach Ansicht von TIMO HAMMELSBECK aber nicht tun dürfen.
Den Gesetzentwurf zur Finanzierung politischer Stiftungen hält auch ANTJE NEELEN für unzureichend.
Unser Buch “Kleben und Haften” zum zivilen Ungehorsam in der Klimakrise hat FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube zu Betrachtungen animiert, die MATTHIAS JAHN und FYNN WENGLARCZYK als “Basta-Legalismus” bezeichnen, der den Blick auf die strafverfassungsrechtlichen Implikationen verstellt, die mit der Verfolgung organisierten Klimaprotests als organisierter Kriminalität durch Vereinigungen einhergehen.
Wer entscheidet, was als Desinformation gilt unter dem Digital Services Act? ALEXANDER PEUKERT beschreibt die Landschaft aus privaten Organisationen, die diese zentrale Funktion übernehmen, und fordert, sich deren Tun genauer anzuschauen.
Der Wahlsieg der Opposition über die autoritär-populistische PiS-Partei in Polen war nicht das Ende des Kampfs um die Wiederherstellung der Demokratie, sondern nur der Anfang. YANIV ROZNAI und AMICHAI COHEN zeigen am Beispiel der letzten Anti-Netanyahu-Koalition in Israel, dass post-populistische Regierungen oft populistischer agieren als sie gerne zugeben. Unser Blogsymposium zum Machtwechsel in Polen und seinen Folgen geht weiter: ANNA WÓJCIK untersucht, wie die Medienfreiheit wieder hergestellt werden könnte. WITOLD ZONTEK schaut sich die Staatsanwaltschaft näher an. Und MACIEJ BERNATT diskutiert die Rolle von staatseigenen Betrieben.
In Italien nimmt die rechte Regierung von Giorgia Melloni nach einigen migrationsrechtlichen Niederlagen vor Gericht jetzt die unabhängige Justiz unter Feuer. ELEONORA CELORIA und VIRGINIA PASSALACQUA können keinen legitimen Grund für diese Attacken entdecken.
Nach dem Wahlsieg von Robert Fico droht die Slowakei in eine beunruhigend illiberale Richtung abzurutschen. MAX STEUER und DARINA MALOVÁ weisen auf die vergleichsweise niedrige Schwelle für Verfassungsänderungen hin und hoffen, dass das Verfassungsgericht dem zu erwartenden Druck standhalten kann.
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Die Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn ist eine internationale Forschungsuniversität mit einem breiten Fächerspektrum. Sie zählt zu den bedeutendsten Universitäten Deutschlands und wurde als Exzellenzuniversität ausgezeichnet. Der Lehrstuhl für deutsches und europäisches Verfassungs- und Verwaltungsrecht sucht zum 01.01.2024 befristet auf drei Jahre eine*n wissenschaftliche Mitarbeiter*in (50 %). Nähere Informationen finden Sie hier.
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Seit 2018 versucht RADOSVETA VASSILEVA die EU-Kommission dazu zu bringen, Europarechtsverletzung durch Bulgarien beim strafprozessrechtlichen Grundrechtsschutz zu ahnden. Was der Vorgang über den Respekt der EU-Institutionen für die Grundrechte und ihren Umgang mit Bürger*innenbeschwerden verrät, schildert sie hier.
In Mexiko will Präsident Lopez Obradór durch ein Zusammenstreichen der Haushaltsmittel die Justiz schwächen und sich rechtsstaatliche Kontrolle vom Hals schaffen. DANIEL BERTRAM und LAURA HIGUERA SÁNCHEZ sehen bei der Präsidentschaftswahl im nächsten Jahr die Unabhängigkeit der Justiz auf dem Spiel stehen.
In Indien hat der Oberste Gerichtshof gegen ein Recht auf gleichen Zugang zur Ehe für LGBTQ+-Paare entschieden. AKSHAT AGARWAL ist tief enttäuscht. Das indische Parlament hat unterdessen per Verfassungsänderung eingeführt, dass auf Bundes- und Landesebene in den Parlamenten ein Drittel der Sitze für Frauen reserviert sein muss – aber erst nach dem nächsten Zensus und damit sicher nicht mehr bei den Wahlen 2024, wahrscheinlich nicht mal bei den darauf folgenden Wahlen. ANMOL JAIN erklärt die Taktik der Modi-Regierung dahinter.
Das aktuelle Blogsymposium, das wir mit einem Aufschlag von SINA FONTANA, PIA LANGE und DANA VALENTINER in dieser Woche gestartet haben, widmet sich dem Prostituiertenschutzgesetz und den bisherigen Erfahrungen damit. STEFANIE KILLINGER, STEPHAN RIXEN und DEMET DEMIR tragen bei, weitere werden in den nächsten Tagen folgen.
Damit wäre ich durch für diese Woche. Ihnen alles Gute, bis nächste Woche und Kopf hoch!
Herzlich
Max Steinbeis
Lieber Herr Steinbeis,
nach einem bewegenden, nottuenden und wohltuenden Solidaritätskonzert “Künstler:innen für Israel” im Deutschen Nationaltheater in Weimar.
Ich gehe mit Ihnen einher, würde aber eine weitere “Ausnahme” mit Blick auf das Existenzrecht Israels – wie Roman Poseck – befürworten.
Für mich wurzeln die deutsche Republik und die Europäische Union in Auschwitz, Buchenwald und Katyn. Wir stehen in einer besonderen Verantwortung, genozidaler Rede entgegenzutreten, wie sie in die DNA der Nationalsozialisten und der Hamas eingebrannt war und ist.
Meine Tochter Anna hat während ihres Freiwilligen Sozialen Jahres 2020/2021 in einer Einrichtung für behinderte Menschen bei Haifa ein schwer behindertes Määdchen im Rollstuhl betreuen dürfen. Ihr liebevoller und fürsorglicher Vater, der dankbar war für das Engagement deutscher Volontär:innen, wollte seiner Tochter ein möglichst normales Leben ermöglichen. Er nahm sie mit zum Festival am Gazastreifen. Die Mörder zwangen Ruth aus dem Rollstuhl und ermordeten sie bestialisch vor seinen Augen, dann ihn.
Ein Bekannter, “Täterkind”, “perp child”, erfuhr vor einigen Jahren durch Gerichtsakten, dass sein Vater sein Jurastudium in Breslau unterbrach, in einem “Freisemester” nach Minsk aufbrach, dort über 600 Menschen, darunter viele Kinder, an der Rampe erschoss, um dann nach Berlin zu wechseln. Ein deutscher Jurist. Wie so viele Juristen, die sich in der NS-Zeit schwer belastet haben, darunter Namensgeber renommierter Kanzleien.
Vergessen wir nicht, dass Judenhass und genozidaler Diskurs von Nazi-Deutschland aus in den Nahen Osten exportiert wurden. Auch dies bringt – im Lichte von Art. 1 GG und Art. 1 Charta – eine besondere Verantwortung mit sich.
„Für mich wurzeln die deutsche Republik und die Europäische Union in Auschwitz, Buchenwald und Katyn“.
Für mich steht Auschwitz vor Allem für Völkermord. Die deutsche Republik hat Auschwitz meines Wissens nach erst in den 60er Jahren zur Kenntnis genommen („Frankfurter Prozesse“). Das wäre etwas spät für eine „Verwurzelung“.
Die Bedeutung von Ausschwitz für das Verhältnis der deutschen Republik zur Europäischen Union dürfte sich von der Bedeutung von Katyn für das Verhältnis der polnische Republik zur Europäischen Union kategorial unterscheiden. Es befremdet mich vor diesem Hintergrund, Auschwitz und Katyn in diesem Satz mit einem „und“ verbunden zu sehen.
Der Besorgnis über einen Dammbruch für Sondergesetze schließe ich mich an. Darüber hinaus sehe ich auch noch ein Problem mit der Bestimmtheit. Die nationalsozialistischen Verbrechen 1933-45 bilden eine ziemlich gut greifbare Kategorie. Aber auf welche Meinung oder Klasse von Meinungen bezieht sich die aktuelle Forderung genau? Was ist mit dem Existenzrecht (aus meiner Sicht ein insgesamt wenig nützlicher Begriff) und was mit Israel gemeint – der Staat (vgl. Staatsräson), die Menschen, auf welchem Gebiet?
Aus europäischer Sicht mag es naheliegend sein, aber im Gegensatz zu Herrn Borowsky halte ich es für einen Fehler, den Staat Israel als eine absolut zwingende und unumstößliche Folgerung aus der europäischen Geschichte zu betrachten. Angesichts des verstetigten Besatzungsregimes ist es sogar naheliegend, das Projekt eines jüdischen und demokratischen Staates gegenwärtig für gescheitert zu halten.
(Dabei beschädigt die allmähliche Inbesitznahme von dann nur noch pro forma dem Besatzungsrecht unterstehendem Territorium nicht nur die völkerrechtliche und moralische Glaubwürdigkeit des Staates Israel, sondern die zunehmende Gewöhnung an das Unrecht wirkt sich auch verheerend auf die israelische Gesellschaft aus. – Ich hoffe, dass trotzdem eine Verteidigung und Stärkung rechtsstaatlicher Prinzipien gelingen wird.)
Das eigentliche Ziel sollte darin bestehen, Frieden, Sicherheit und Freiheit für israelische und palästinensische, arabische und jüdische, alle Einwohner zwischen Mittelmeer und Jordan zu erreichen. Ob der Staat Israel jedenfalls in seiner derzeitigen Verfassung für dieses Ziel förderlich ist, daran müssen Zweifel erlaubt bleiben.
Herr Steinbeis, ich bin froh, dass Sie diesen Ausbruch von McCarthyismus und die Absolutheit der Menschenrechte ansprechen. Nichts ist gefährlicher als diese Art der Relativierung von Menschenrechten und Grundrechten, die einmal begonnen, in den Händen der Falsche schneller zum bösen Erwachen führt als die meisten zu glauben scheinen.
Wir werden die kollektive kognitive Dissonanz zwischen unseren Werten und den Repressionen gegen Palästinenser und Mitbürgern, die sich mit ihnen solidarisieren wollen, nicht mit Scheinlösungen wie neuen Straftatbeständen, Informationskrieg, Relativierung von Menschenrechten oder Verbundenheitsbekundungen auflösen können. Dieser Widerspruch verschwindet erst dann, wenn wir aufhören über Hamas zu reden, um zu übertönen wie sehr unsere Zerrissenheit danach schreit, dass wir unsere Solidarität mit Israel da beenden, wo sie nicht mehr mit viel wichtigeren Werten als irgendeiner Staatsräson in Einklang zu bringen ist. Der Mut muss da sein, seinen Freunden im Recht und im Unrecht beizustehen. Im Recht durch Unterstützung und im Unrecht durch Widerstand.
Die Sondergesetze sind wohl das Anzeichen eines um sich greifenden McCarthyismus in der Politik und das mit der Staatsräson hat den faden Beigeschmack einer autoritären Herrschaft, frei nach dem Motto: Wir haben immer Recht.
VERSUCHUNGEN der UNFREIHEIT (Ralf Dahrendorf)
Hierfür stehen der Nationalsozialismus, das KL Auschwitz, das ich im September mit meiner Augustiner-Kantorei aus Erfurt – anlässlich einer Aufführung der H-Moll-Messe in Krakau – mit eigenen Augen sah, zeitgleich mit einer Gruppe deutscher Kultusminister, und der Stalinismus, Katyn. Es war in der Tat lange Zeit eine überschaubare Minderheit, die “Auschwitz” auf der mental map hatte, und Katyn wie andere Jahrhundertverbrechen des Kommunismus sind auch aufgrund eines bis heute spürbaren Antipolonismus bis heute kaum im öffentlichen Bewusstsein. Lebensgeschichtlich musste die erste Frau am Bundesarbeitsgericht, Dr. Anne-Gudrun Meier-Scherling, unter beiden totalitären Systemen leiden, wie ich in einer biografischen Skizze auf LTO aufzeige: https://www.lto.de/recht/feuilleton/f/ns-juristen-anne-gudrun-meier-scherling-erste-richterin-bag/
Angesichts mancher Reaktionen, auch hier auf dem Verfassungsblog, frage ich mich, ob wir im 21. Jahrhundert nicht gegenwärtig eine dritte Versuchung der Unfreiheit erleben, nämlich eine islamistische Variante totalitären und genozidalen Diskurses. Hier dürfte es Tiefenverbindungen zu faschistischen Denkschulen geben. Im Zuge meiner Recherchen zu Murad Ferid, der schon als Schüler am 9. November 1923 als Mitglied Nr. 64 des “Jungsturm Hitler” auf die Feldherrnhalle marschierte und später in NSDAP wie SA engagiert war, bin ich darauf gestoßen, dass er als Geheimdienstoffizier in Athen wie Saloniki und auf dem Balkan versuchte, den Nahen Osten zu destabilisieren, wohl in Kooperation mit dem Großmufti von Jerusalem … Viel Forschungsbedarf …
Aktuell sehe ich im Nahen Osten nur eine rechtsstaatliche Demokratie, bei der die Menschenwürde oberster Maßstab ist, und es steht zu hoffen, dass sich der Iran nach Befreiung von der Diktatur bald dazugesellt.
schwierig schwierig. Ambiguitäten sind schwer auszuhalten… man kann pro palästinensich und pro israelisch sein, so wie gegen HAMAS und gegen die rechtsextreme Regierung Israels etc…
Das Existenzrecht Israels als uneingeschränkte solidarische Staatsraison der BRD – dem kann ich so einfach nicht zustimmen. Staaten sind keine lebenwesen und allein historisch zeigt sich ihre Wandlungsfähigkeit: wo wären wir heute wenn zB das Römische Reich ein Existenzrecht durchgesetzt hätte? die KuK-Monarchie? das Deutsche Reich? das Britische Imperium? die Sowjetunion? (ähem…)
Dem Existenzrecht von Staaten widerspricht das Recht der Selbstbestimmung der Völker; die Souveräntität eines Staates ist völkerrechtlich gesichert – das stimmt! allerdings war dem Völkerrecht immer schon die Zerreißprobe hierzwischen bewusst und hat völkerrechtliche Regeln eingeführt, um etwa die Selbstbestimmung eines “Volkes” innerhalb eines Staates mit anderen Völkern zu schützen – bis hin zur Abspaltung oder Auflösung des Staates.
im Falle Israel-Palästina hat das bisher nur leider nicht funktioniert: zum großen Teil wegen seiner arabischen undemokratischen Nachbarn, zT wegen israelischer nationalistischer extremistischer Gruppen wie den jüdischen “Siedlern” und natürlich wegen der terroristischen politischen Führung/en der Palästinenser selbst (=vemutlich kann man auch der Weltgemeinschaft eine Mitschuld geben, zumindest den zwei großen Playern im Kalten Krieg).
was wäre für uns in Deutschland das Fazit?
Israel als demokratischer Rechtsstaat hat das völkerrechtlich gesicherte Recht auf Souveränität. Palästinensische Gruppen das Recht auf Selbstbestimmung.
Beide müssen sich dabei ans Völkerrecht an die Menschenrechte halten.
Staatsraison Solidarität mit Israel? gern. aber eigentlich müssen wir das übersetzen in: Solidarität mit Israelis. und mit den jüdsichen Mitbürgern. (und auch mit den Palästinensern dort und hier, wenn auch historisch nicht so stark).
uneingeschränkte Solidarität kann es mit Staaten sowieso nicht geben!
insofern ist das Ganze jetzt schon Teil unserer Bekenntniskultur für Neubürger: zum Grundgesetz müssen alle stehen. dafür braucht man kein gesondertes Bekenntnis zu Israel.
Was ja nicht heißt, dass nicht im Einbürgerungsprozess wesentlich deutlicher darauf hingewiesen werden sollte. und für mehr Verständnis für unsere, unsere deutsche Verantwortungsverpflichtung in Einwanderern zu werben.
Gerade letzteres scheint aber angesichts der regelmäßigen Umfrageergebnisse und der letzten Wahlen in bayern und hessen auch für die “Eingeborenen”, die native germans zu gelten.