Gefahr einer Versammlung
Schwachstellen im Entwurf des sächsischen Versammlungs(freiheits?)gesetzes
Im Sächsischen Landtag wird aktuell über den Entwurf eines neuen Versammlungsgesetzes1) beraten. Das Gesetzgebungsverfahren findet vor dem Hintergrund der Ende diesen Jahres anstehenden Landtagswahl statt. Noch frisch ist die Erinnerung daran, dass das Versammlungsrecht in Sachsen in der Vergangenheit regelmäßig Ort politischer Lagerkämpfe war. Statt für Deeskalation, sorgte der staatliche Umgang mit Demonstrationen, z.B. nach der Verurteilung von Lina E., eher für eine Zuspitzung der Lage. Damit sollte es vorbei sein. 2019 vereinbarte die sächsische Landesregierung im Koalitionsvertrag, dass Ziel einer Neuregelung neben der Praxisgerechtigkeit und Verständlichkeit der Schutz der Versammlungsfreiheit als „elementare staatliche Aufgabe“ sein sollte (S. 112): Nicht der Blickwinkel der Gefahrenabwehr, sondern der Grundrechte sollte die Erarbeitung leiten.
Entgegen diesem Ziel und dem neuen Namen „zum Schutz der Versammlungsfreiheit“, liegt dem jetzigen Entwurf das Bild der Versammlung als Gefahr und nicht als Mittel des demokratischen Diskurses zugrunde. Stellvertretend dafür stehen die Entgrenzung von Eingriffsbefugnissen, die Erfassung personenbezogener Daten von Ordner:innen, der Bruch mit der Polizeifestigkeit und der erschwerte Rechtsschutz.
Warten bis der Wahlkampf kommt
Der Debatte nicht zuträglich ist, dass der im Kabinett zuständige Innenminister die im Koalitionsvertrag bis 2021 vorgesehene Novellierung (S. 112) nicht schon früher vorangetrieben hat. Erst Ende Dezember 2023 brachte die Staatsregierung den Entwurf ein (LT-Drs. 7/15266). Mit Überweisung an die Ausschüsse hat das parlamentarische Verfahren nun begonnen (hier, hier und hier).2) Inkrafttreten soll das Gesetz am 1. September 2024 (§ 33), dem Tag der Landtagswahl. Als Zeitpunkt ist das kein Beruhigungsmittel. Es bleibt zu hoffen, dass die CDU trotz Wahlkampf ebenso wenig einseitig Partei für die Sicherheitsbehörden ergreift, wie SPD und B90/Grüne für die Demonstrierenden.
Nichts Gutes erahnen lässt daher die Aussage des CDU-geführten Staatsministeriums des Inneren, dass „bei der Erarbeitung des Gesetzentwurfs […] durch eine umfangreiche Beteiligung der zukünftigen Anwender des Gesetzes, d.h. der Versammlungsbehörden und der Polizeidirektionen, versucht werde, den Bedürfnissen der Praxis Rechnung zu tragen“ (LT-Drs. 7/15266, S. 137). Dass die Versammlungsfreiheit und ihre einfachgesetzliche Ausgestaltung eigentlich (auch) den Bürger:innen dient, fehlt. Nur konsequent ist daher, dass unter den Stellungnahmen zum Entwurf nur zwei von Grundrechtsträger:innen sind, gegenüber sieben von der Grundrechtsausübung betroffenen Interessensvertretungen.
Delegitimation durch sprachliche Ungenauigkeit
Die Voraussetzungen für Eingriffe in die Versammlungsfreiheit sind im Entwurf sprachlich ungenau gehalten. Das widerspricht nicht nur dem Bestimmtheitsgebot (vgl. BVerwG, Urteil vom 21. Juni 2023 – 3 CN 1.22, Rn. 17), sondern macht misstrauisch, welche Fälle mit den Normen (noch) erfasst werden sollen. Dieses Offenhalten kommt an unterschiedlichen Stellen zur Anwendung:
Nach dem Wortlaut des Aufrufens in § 4 Abs. 1 kann bereits die Person, die in Zukunft eine Versammlung online teilt oder Flyer auslegt, automatisch zur Veranstalterin im Sinne der Norm werden. Wegen der damit verbundenen Folgen, beispielsweise ein Ordnungsgeld bei unterbliebener Anmeldung nach § 25 Abs. 1 Nr. 11, besteht ein Abschreckungspotential bei eigentlich erwünschtem Verhalten. Das kann und sollte nicht gewollt sein.
Gegendemonstrationen können nicht pauschal verboten werden. Im Widerspruch dazu werden sie vom Verbot in § 8 erfasst, zielen sie doch darauf ab, mit kommunikativen – nicht physischen – Mitteln andere Versammlungen zu stören. Es fehlt an einer normativen Begrenzung auf die objektive Verhinderung der Versammlung wie z.B. in § 8 I BayVersG. So viele Ressourcen beim Staat durch Widerspruch mittels Gegendemonstrationen auch gebunden werden, sind sie Teil des vom GG geschützten öffentlichen Meinungskampfes und müssen von Sicherheitsbehörden und Steuerzahler:innen hingenommen werden (vgl. BVerfG, Beschluss vom 11.06.1991 – 1 BvR 772/90, Rn. 24). Das ist der Preis demokratischen Diskurses.
Auch darüber, was die wesentlich andere Durchführung einer Veranstaltung nach § 24 Abs. 3 ist, lässt sich streiten. Spätestens wenn, wie darin vorgesehen, eine Freiheitsstrafe droht, sollte die Norm so bestimmt sein, dass sie nicht schon bei kleinen – von der Veranstalter:in nicht zu kontrollierenden – Abweichungen den Abbruch provoziert.
Für diese bespielhaft genannten unbestimmten Rechtsbegriffe ließen sich Grenzen zwischen zu- und unzulässigen staatlichen Befugnissen durch verfassungskonforme Auslegung vor Gericht wohl finden (vgl. BVerfG, Beschluss vom 14.05.1985 – 1 BvR 233/81, 1 BvR 341/81, Rn. 78). Rechtsstaatlicher und transparenter für eine juristisch nicht vorgebildete Zivilgesellschaft wären aber Vorschriften, welche Grenz- und Abwägungsfälle schon im Gesetz aufgreifen und verfassungskonform entscheiden. Ferner müssen Grundrechte sonst erst mühsam von ihren Träger:innen unter Einsatz eigener Ressourcen erstritten werden.
Unpraktikable Regelung für Ordner:innen
Der Umgang mit Ordner:innen ist im Entwurf nicht praxisnah ausgestaltet. Veranstalter:innen können Freiwillige bei Versammlungen oft erst vor Ort akquirieren und haben keine Gelegenheit, ihre Identität zu überprüfen. Die Veranstalter:in ist aber nach § 16 Abs. 1 schon bei einem, im Zusammenhang mit der Gefahrenabwehr bislang unbekannten, Besorgen einer Gefahr verpflichtet, Namen und Geburtsdaten an die Polizei zu übermitteln. Der Veranstalter:in droht ein Ordnungsgeld, wenn sie die Personendaten der Ordner:innen nicht übermitteln kann (§ 25 Abs. 1 Nr. 7). Diese Datenerfassung ist daher gefahrunabhängig, da sie in der Praxis nur im Vorhinein der Veranstaltung durchführbar ist. Die entstehende präventive Dokumentationspflicht der Veranstalter:in wird die Gewinnung von Ordner:innen in Zukunft erschweren.
Auch die Voraussetzungen für den Zweck hinter der Datensammlung, die Ablehnung von Ordner:innen durch die Polizei, in § 16 sind unkonkret. Vor Ort können Entscheidungen auf dieser Grundlage nicht überprüft werden. Es leuchtet nicht ein, warum die bisherige Regelung, bei einer unmittelbaren Gefahr für die öffentliche Sicherheit als Polizei mittels einer Auflage Personen auszuschließen, nicht ausreicht. Zu begrüßen ist, dass gegenüber dem Referentenentwurf das Einleiten eines Ermittlungsverfahrens – z.B. vom politischen Gegner durch Strafanzeige ausgelöst – für die Ablehnung einer Ordner:in nicht mehr ausreicht. Eine Ablehnung in diesen Fällen darf nun auch nicht auf dem Umweg über die Generalklausel erfolgen.
Schließlich ist nach dem Wortlaut offen, ob die Erfassung der personenbezogenen Daten durch die Polizei nach § 16 Abs. 6 ebenfalls unter dem Vorbehalt des Besorgens einer Gefahr steht oder schon früher möglich ist, als den Veranstalter die Pflicht zur Dokumentation trifft (s.o.). Eine voraussetzungslose Erfassung persönlicher Daten von Ordner:innen durch die Polizei wäre nicht mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG vereinbar.
Bruch mit dem Grundsatz der Polizeifestigkeit des Versammlungsrechts
Besonders zu kritisieren ist der Verweis auf die polizeirechtlichen Eingriffsbefugnisse in § 13 Abs. 1. Der darin liegende Bruch mit dem System aus Polizei- und Versammlungsrecht ist grundsätzlicher Natur. Das Versammlungsrecht ist im Gegensatz zum Polizeirecht nach seiner Konzeption kein Gefahrenabwehrrecht, sondern dient der Ermöglichung politischer Partizipation. Dieser Unterscheidung wird durch die unterschiedlichen Eingriffsbefugnisse und Ermächtigungsgrundlagen Rechnung getragen, welche sich gegenseitig ausschließen.
13 Abs. 1 lässt hingegen beide Regelungssysteme nebeneinander zu. Damit negiert man die in Art. 8 GG niedergeschriebene und aus der Funktion als politisches Druckventil (Dreier GG/Kaiser GG Art. 8 Rn. 22) folgende Wesensverschiedenheit der „Gefahr“ Versammlung gegenüber anderen Gefahren des Polizeirechts. In Fortführung dieser grundgesetzlich geforderten Unterscheidung sollte nur § 13 Abs. 2 bleiben, der die polizeirechtliche Anwendbarkeit auf nicht-versammlungsspezifische Gefahren begrenzt.
Umkehrung des Regel-Ausnahme-Verhältnisses beim gerichtlichen Rechtsschutz
Durch § 28 haben Widerspruch und Anfechtungsklage gegen Verbote keine aufschiebende Wirkung mehr. Eine Versammlung bleibt verboten, solange Gericht oder Behörde über die Rechtsschutzanträge nicht entschieden haben. Der Entwurf enthält keine Begründung, warum das Regel-Ausnahme-Verhältnis nach § 80 Abs. 1 VwGO umgedreht wird, ohne dass andere Gesetze wie das kürzlich neugefasste Versammlungsgesetz NRW oder das teilweise noch fortgeltende Versammlungsgesetz des Bundes dies für notwendig erachten.
Aus ihrer Begründungspflicht nach § 80 Abs. 3 VwGO, warum eine sofortige Vollziehbarkeit nötig ist, wird die Behörde pauschal entlassen. Die Begründungslast, warum das nicht so ist, wird systemwidrig vom Staat auf die Grundrechtsträger:in verschoben.
Parallel zu den versammlungsrechtlichen Allgemeinverfügungen lässt sich hier eine Entwicklung beobachten, welche dem Staat auf Kosten der Grundrechte Arbeit erspart. In einem Rechtsstaat ist es immer problematisch, ressourcenorientiert zu argumentieren. Grundrechtsausübung ist aus staatlicher Perspektive immer anstrengend. Das Leerlaufen des Rechtsschutzmechanismus wird dadurch verstärkt, dass bis zur Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung (§ 80 Abs. 5 S. 1 Hs. 2 VwGO) die Teilnahme an einer Versammlung nach § 25 Abs. 2 Nr. 1 ordnungswidrig ist. Das Aufrufen ist nach § 24 Abs. 2 Nr. 1 sogar strafbewehrt.
Der Entwurf enthält weitere Vorschriften, welche die Ausübung des Versammlungsrechts erschweren. Beispielhaft dafür steht, dass in Zukunft das Wochenende und Feiertage bei der Frist der Anzeige einer Versammlung nach § 14 Abs. 1 nicht mitgerechnet werden. Auch telefonische Anzeigen entfallen. Da Versammlungen oft von Personen in ihrer Freizeit, also an Wochenenden und Feiertagen, geplant werden, wird die Organisation strukturell erschwert.
Versammlungsfreiheit als Vorsorge
Dieser Beitrag wirft nur ein Schlaglicht auf einzelne Vorschriften des Entwurfs. Bereits dabei fällt auf, dass die Betonung des Gefährdungsaspekts gegenüber dem Partizipationsaspekt von Versammlungen zunimmt. Wie an anderer Stelle dargelegt, erfüllen Versammlungen in aufgeheizten Debatten aber auch eine wichtige Abflussfunktion. In den Worten des Bundesverfassungsgerichts können sie dem „Bewußtsein politischer Ohnmacht und gefährlichen Tendenzen zur Staatsverdrossenheit entgegen[wirken]“ (BVerfG, Beschluss vom 14. Mai 1985 – 1 BvR 233, 341/81, Rn. 66). Die auf die Enthüllungen des Correctiv-Netzwerks folgenden Versammlungen der letzten Wochen zeigen, wie sehr eine demokratische Öffentlichkeit, ihre demokratieschützende Selbstvergewisserung und nicht zuletzt die unmittelbare Einwirkung auf die Politik vom Mittel der Versammlung leben.
Die unbestritten damit einhergehenden Herausforderungen für Staat und Veranstalter:innen sowie Gefahren für Grundrechte Dritter sollten diese Vorteile unabhängig vom Inhalt nicht verdrängen. Um dem Ziel aus dem Koalitionsvertrag, die „größtmögliche Wirksamkeit des Rechts auf politische Teilhabe“ (S. 112), ebenso wie Art. 8 GG gerecht zu werden, sollte das deeskalierende Potential im sächsischen Versammlungsfreiheitsgesetz ebenso Niederschlag finden wie versammlungsspezifische Gefahren.
Alle Parteien des demokratischen Spektrums sind aufgerufen, den Freiraum Versammlung im Sinne einer wehrhaften Demokratie offen zu halten – auch mit Blick auf zukünftige Entwicklungen. In einem abstrus anmutenden Antrag fordert die in Umfragen bei bis zu 35 % stehende sogenannte „Alternative“ in Sachsen unter Verweis auf einen Aufsatz von 1926, die Versammlungsfreiheit für Nichtdeutsche gleich ganz abzuschaffen (LT-Drs. 7/15229). Das deutet an, wohin die Reise aus ihrer Sicht gehen soll. Dem sollte nicht heute schon der Weg geebnet werden.
References
↑1 | Soweit nicht anders bezeichnet, sind alle §§ solches des Entwurfs des Gesetzes über den Schutz der Versammlungsfreiheit im Freistaat Sachsen. |
---|---|
↑2 | Aufgrund der unterschiedlichen Blickwinkel von Versammlungsrecht (Grundrechtsermöglichung) und Polizeirecht (Gefahrenabwehr) wäre systematisch passender gewesen, dem Ausschuss für Verfassung und Recht, Demokratie, Europa und Gleichstellung und nicht den für Polizeirecht zuständigen Ausschuss für Inneres und Sport mit der Federführung der Beratung zu betrauen – so wie z.B. im Landtag des Freistaates Bayern. |
Ihren Ausführungen ist nur zu zustimmen. beim Thema Bürger auf den Straßen wird gern alles unter dem Aspekt Innere Sicherheit und nicht Grundrechte gesehen.
Und etwa die neue geplante Regel zum Wochenende – dies kann man wirklich nur als absichtliche Erschwerung der Versammlungsfreiheit werten…