Unfriedlichkeit statt Verhinderungsblockade
Wie das Bundesverwaltungsgericht den Teufel mit dem Beelzebub austreibt (Besprechung BVerwG Urteil vom 27. März 2024 – 6 C 1.22)
Die Polizeifestigkeit der Versammlung, also die Sperrwirkung der Versammlungsgesetze gegenüber dem allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht, gehörte bislang zu den Grundpfeilern des deutschen Versammlungsrechts. Danach muss die zuständige Behörde eine Versammlung zunächst auflösen, bevor sie weitergehende Maßnahmen ergreifen darf. Diese schlichte Schrittfolge bereitet den handelnden Behörden in der Praxis dennoch oftmals erstaunliche Schwierigkeiten: Fälle, in denen Maßnahmen allein deshalb rechtswidrig sind, weil es an der vorherigen Auflösung einer Versammlung gefehlt hat, sind mit einiger Regelmäßigkeit in der Rechtsprechung zu finden.
Dieses Problem steht auch im Zentrum der Entscheidung des BVerwG vom 27. März 2024, deren schriftliche Begründung nunmehr vorliegt. Diese war mit Spannung erwartet worden, da der VGH Baden-Württemberg in der Vorinstanz das Fehlen einer Auflösung dadurch legitimiert hatte, dass er einer Protestaktion als „Verhinderungsblockade“ schlicht die Versammlungseigenschaft abgesprochen hatte. Das BVerwG erteilte dieser Vorgehensweise zwar eine deutliche Absage, zog daraus jedoch nicht die Konsequenz, die Entscheidung des VGH aufzuheben. Kaum minder problematisch (vgl. auch hier) begründete das BVerwG die Entbehrlichkeit der Aufhebung stattdessen damit, dass die Versammlung von Anfang an unfriedlich gewesen sei.
Protest gegen den AfD-Parteitag 2016
Der spätere Kläger hatte an einer Protestaktion gegen den Bundesparteitag der AfD im Frühjahr 2016 auf dem Gelände der Landesmesse Stuttgart teilgenommen. Nach den gerichtlichen Feststellungen hatte eine Gruppe von mehreren hundert, teilweise vermummten und „fast ausschließlich schwarz oder mit weißen Einmalanzügen bekleideten Personen“ am frühen Morgen des 30. April 2016 einen Kreisverkehr im Osten der Messe besetzt. Mitglieder dieser Gruppe blockierten die Ausfahrten des Kreisverkehrs mit Barrikaden aus Baustellenmaterial und zündeten Pyrotechnik. Bei Eintreffen der Polizei verließ die Gruppe den Kreisverkehr und bewegte sich über die angrenzende Flughafenstraße auf das Messegelände zu. Den sich nähernden Einsatzkräften der Polizei warfen sie „eine Rauchbombe entgegen“. Die Polizei kesselte die Gruppe – in der sich auch der Kläger befand – ein. Es folgten Lautsprecherdurchsagen der Polizei „an alle Teilnehmer, die den friedlichen Verlauf der Versammlung stören“. Sie genössen wegen ihrer Vermummung und der Errichtung von Barrikaden nicht mehr den Schutz des Versammlungsrechts. Sie befänden sich in polizeilichem Gewahrsam und würden in Kürze polizeilich bearbeitet (BVerwG aaO, Rn. 3 f.).
Im weiteren Verlauf wurde der Kläger in einem Bus – stehend und mit auf den Rücken gefesselten Händen – zu der ca. 600 Meter entfernten, als Gefangenensammelstelle dienenden Messehalle verbracht. Gegen Mittag wurde er einer Identitätsfeststellung und erkennungsdienstlichen Behandlung unterzogen, anlässlich der ihm auch die Fesseln abgenommen wurden. Sodann wurde er in einer Einzelzelle in einem Gefangenenbus eingeschlossen. Gegen Abend wurde ihm ein Platzverweis für das Messegelände erteilt. Erst ungefähr zwei weitere Stunden später wurde der Kläger dann zu dem ca. 16 Kilometer entfernten Bahnhof Esslingen verbracht, wo er schließlich gegen 19.50 Uhr aus dem polizeilichen Gewahrsam entlassen wurde. Während des gesamten Gewahrsams wurde dem Kläger kein Toilettengang ermöglicht und ihm auch kein Trinkwasser zugänglich gemacht. Eine richterliche Entscheidung über den Gewahrsam des Klägers wurde nicht herbeigeführt (BVerwG aaO, Rn. 5).
Fortgesetzte Feststellungen
Rund 14 Monate nach diesen Ereignissen beantragte der Kläger sinngemäß, die Rechtswidrigkeit der gegen ihn ergriffenen Maßnahmen festzustellen. Das in der ersten Instanz mit der Sache befasste VG Sigmaringen gab allen Anträgen statt. Zwar sprach es der Blockadeaktion den Schutz der Versammlungsfreiheit ab, da diese unfriedlich gewesen sei und es sich um eine sog. „Verhinderungsblockade“ gehandelt habe, die nicht dem Versammlungsbegriff unterfalle. Dennoch habe das Bundesversammlungsgesetz – dieses gilt nach Art. 125a I GG fort, da Baden-Württemberg nach wie vor kein eigenes Versammlungsgesetz erlassen hat – eine Sperrwirkung entfaltet, so dass die polizeilichen Maßnahmen erst nach vorheriger Auflösungsverfügung hätten ergehen dürfen. Eine solche sei jedoch nicht erfolgt (VG Sigmaringen, Urteil v. 13. Februar 2019, 1 K 4335/17, unveröffentlicht, S. 23 ff.; BVerwG aaO, Rn. 6 ff.).
Auf Berufung des beklagten Landes wies der VGH Baden-Württemberg die Klage weitgehend ab. Lediglich die Nichtermöglichung eines Toilettengangs und das Vorenthalten von Trinkwasser hielt auch der VGH für rechtswidrig. Anders als das VG Sigmaringen, war der VGH der Ansicht, dass vom Versammlungsgesetz keine Sperrwirkung ausgegangen sei, da es sich gar nicht um eine Versammlung, sondern nur um eine sogenannte „Verhinderungsblockade“ gehandelt habe (VGH BW aaO, Rn. 44 ff.; BVerwG aaO, Rn. 9 ff.).
Die sogenannte Verhinderungsblockade
Die vom VGH bemühte Figur der Verhinderungsblockade geht zurück auf eine Entscheidung des BVerfG aus dem Jahr 2001. Ihr gedanklicher Ausgangspunkt ist der vom BVerfG zu Grunde gelegte enge Versammlungsbegriff, nach dem Art. 8 GG die Freiheit der Versammlung gerade als Ausdruck gemeinschaftlicher, auf Kommunikation angelegter Entfaltung schützt, die auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichtet ist. In einen Gegensatz zu dieser Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung stellte das BVerfG die zwangsweise oder anderweitig selbsthilfeähnliche Durchsetzung eigener Forderungen. Diese dürften jedenfalls nicht im Vordergrund von Blockadeaktionen stehen.
Eine gewisse Prominenz erlangte die „Verhinderungsblockade“ vor allem im Zusammenhang mit Stuttgart 21, als die Behörden mehrfach versuchten, unter Berufung auf diese Figur den Protesten den Schutz der Versammlungsfreiheit abzusprechen. In der Aufarbeitung für einen Untersuchungsausschuss des baden-württembergischen Landtags wandten Ralf Poscher und ich uns gegen derartige Versuche.1) Daran anknüpfend war ich allgemein zu dem Schluss gekommen, dass die „Verhinderungsblockade“ als Kategorie zwar nicht rundheraus abzulehnen, ihr aber allenfalls ein schmaler Anwendungsbereich zuzubilligen ist.2) Denn die Figur ist gerade nicht Ausdruck des Friedlichkeitsvorbehalts des Art. 8 I GG, sondern des vom BVerfG vertretenen Versammlungsbegriffs, so dass es auf das Ausmaß der Blockade als solche nicht ankommt. Die Figur kann vielmehr nur solche Fälle erfassen, die ausschließlich die selbsthilfeähnliche Durchsetzung eigener Forderungen und nicht zumindest auch die Beteiligung an öffentlicher Meinungsbildung bezwecken.
Der VGH drehte dieses Verhältnis im vorliegenden Fall geradezu um: Bei einer Blockade bedürfe es „substantiierter Anhaltspunkte dafür […], dass der Kommunikationszweck im Vordergrund stehe“. Dies sei allenfalls anzunehmen, wenn die Blockade „nur kurzfristig symbolischen Protest“ ausdrücke, „bei dem die Behinderung Dritter bloße Nebenfolge“ sei, nicht aber, wenn es darum gehe, „die Rechte Dritter gezielt zu beeinträchtigen oder das, was – wie etwa eine andere Versammlung – politisch missbilligt wird, tatsächlich zu stören oder zu verhindern“. Nicht ausreichend sei, „dass die Veranstaltungsteilnehmer ihre Meinung lediglich bei Gelegenheit der Blockade kundtäten“ (VGH aaO, Rn. 52).
Der VGH bestimmte die „Verhinderungsblockade“ also gerade nicht, wie es den Ausführungen des BVerfG entsprochen hätte, ausschließlich anhand des kommunikativen Zwecks der Versammlung, sondern vermischte diese Frage mit der Intensität der Blockadeaktionen. Die „Verhinderungsblockade“ wurde somit zu einer Art Friedlichkeitsgebot „light“, bei der es keiner aktiven Gewalttätigkeiten mehr bedarf, sondern schon die bloß passive Blockade ausreicht. Zu begrüßen ist, dass das BVerwG diesem Vorgehen des VGH, das in der Rechtsprechung der Instanzgerichte bereits Nachahmer gefunden hat, eine deutliche Absage erteilt hat. Der VGH habe die Kriterien des BVerfG in mehrfacher Weise überdehnt:
Das Vorgehen des VGH erfordere in hohem Maße eine Bewertung der von den Veranstaltungsteilnehmern verfolgten Zwecke, obgleich der Versammlungsbegriff gebiete, dies zu unterlassen und im Zweifel den Versammlungscharakter anzunehmen. Der vom VGH aufgestellten Forderung, Meinungskundgaben müssten im Vordergrund stehen und es dürfe zu ihnen nicht nur bei Gelegenheit der Blockade kommen, fehle in der Rechtsprechung des BVerfG die Grundlage. Der Versammlungscharakter einer Blockadeaktion, die nicht offensichtlich allein dem Nahziel diene, eine konkrete, vor Ort erfüllbare Forderung durchzusetzen, sondern in deren Verlauf auch weitere kommunikative Ziele verfolgt würden, könne vielmehr nur dann verneint werden, wenn das kommunikative Anliegen und der Einsatz entsprechender Kommunikationsmittel in handgreiflicher Weise einen bloßen Vorwand darstellten. Zudem habe der VGH in seiner Definition einer Verhinderungsblockade die bloße Störung einer anderen Versammlung deren vollständiger Verhinderung gleichgestellt (BVerwG aaO, Rn. 49 ff.).
Unfriedlichkeit einer Versammlung
Leider belässt es das BVerwG nicht bei diesen Ausführungen, sondern unternimmt auf Grundlage des § 144 IV VwGO einen eigenen Anlauf, zu begründen, weshalb es keiner vorherigen Auflösung der Protestaktion bedurft habe: Es bewertet die Versammlung als unfriedlich und erklärt, für unfriedliche Versammlungen gelte von vornherein nicht die Sperrwirkung des Versammlungsgesetzes. Lediglich in Hinblick auf die Fesselung des Klägers während seiner Zeit in der Gefangenensammelstelle sowie die Fortsetzung des Gewahrsams nach Erteilung des Platzverweises am späten Nachmittag verwies das BVerwG die Sache zurück, da es – in deutlichen Worten – eine mangelnde Sachverhaltsaufklärung durch den VGH bemängelte (BVerwG aaO, Rn. 68 ff.).
Nicht zu kritisieren ist es zunächst, wenn das BVerwG die Unfriedlichkeit einer Versammlung mit dem BVerfG dahingehend definiert, dass die Friedlichkeit auf der gleichen Stufe wie das ebenfalls in Art. 8 I GG genannte „Mitführen von Waffen“ verstanden werden müsse. Es bedürfe deshalb „Handlungen von einiger Gefährlichkeit wie etwa aggressive Ausschreitungen gegen Personen oder Sachen oder sonstige Gewalttätigkeiten“, nicht schon ausreichend sei, „wenn es zu Behinderungen Dritter kommt, seien diese auch gewollt und nicht nur in Kauf genommen“. Zudem müsse die Versammlung im Ganzen einen gewalttätigen oder aufrührerischen Verlauf nehmen. Begingen nur einzelne Versammlungsteilnehmer oder eine Minderheit unter ihnen im Verlauf einer Versammlung Ausschreitungen, bleibe der Schutz der Versammlung mit Blick auf die friedlichen Teilnehmer erhalten (BVerwG aaO, Rn. 57).
Für ein solcherart gewalttätiges Verhalten der Anti-AfD-Demo gibt der von VGH und BVerwG wiedergegebene Sachverhalt freilich eher wenig her. Weder die dort genannte Vermummung noch die lediglich passiv wirkende Blockade des Kreisverkehrs sind – unabhängig von einer etwaigen strafrechtlichen Bewertung als Gewalt – geeignet, die Unfriedlichkeit einer Versammlung zu begründen. Für eine Unfriedlichkeit könnte der ebenfalls genannte Einsatz von Pyrotechnik sprechen, allerdings bleiben die weiteren Details dieses Einsatzes gänzlich unklar. Lediglich bzgl. einer Rauchbombe ist die Rede davon, diese sei den Polizeikräften „entgegengeworfen“ worden, was freilich viel Raum zur Interpretation offenlässt. Das VG führt zusätzlich aus, es seien „zahlreiche weitere Rauchbomben gezündet sowie mit pyrotechnischer Munition in die Luft geschossen“ worden, was ebenfalls nicht für ein gewalttätiges Vorgehen spricht. Eine Einordnung der Pyrotechnik als Waffe nimmt das BVerwG nicht vor.
Die Unergiebigkeit des Sachverhalts in diesen Punkten hat das BVerwG vielleicht ebenso gesehen, denn es bedient sich zusätzlich eines zweiten Begründungsstranges: Das BVerwG rechnet den blockierenden Personen weitere Teile eines Gesamtgeschehens zu. Bemerkenswert ist dies, weil dieses Geschehen zum Zeitpunkt der polizeilichen Maßnahmen noch gar nicht stattgefunden hatte, sondern lediglich als polizeiliche Prognose existierte. Laut den von der Polizei im Vorfeld gewonnenen Erkenntnissen seien „850 bis 1000 gewaltbereite Personen aus dem linksautonomen Spektrum zu erwarten“ gewesen, die darauf ausgingen, „Zufahrtswege zur Messe als dem Veranstaltungsort des AfD-Bundesparteitags zu blockieren, Infrastruktur an der Messe zu zerstören und durch das Inbrandsetzen von Kraftfahrzeugen und Ladengeschäften ähnlich schwere Ausschreitungen zu begehen, wie sie im Jahr 2015 anlässlich der Eröffnung der Europäischen Zentralbank in Frankfurt am Main stattgefunden hatten“. Die Aktionen im Kreisverkehr seien ihrerseits in „erkennbar planmäßiger Umsetzung dieser im Vorfeld ermittelten Intentionen“ erfolgt (BVerwG aaO, Rn. 58). Das BVerwG ließ dies für die „Unfriedlichkeit der Versammlung“ ausreichen, die nicht voraussetze, „dass es schon zu Gewalttätigkeiten in dem genannten Sinne gekommen ist“. Es reiche vielmehr aus, wenn diese nach einer auf belastbare Feststellungen gestützten Prognose unmittelbar bevorstehe. Vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des BVerfG sei dies die „ganz herrschende Ansicht“ (BVerwG aaO, Rn. 57).
Die Schwierigkeit von Vorhersagen…
Nun ist es mit der „herrschenden Ansicht“ als Argument immer so eine Sache. Die vom BVerwG hierzu angeführten Fundstellen beschränken sich letztlich nur darauf, die einschlägigen Ausführungen des BVerfG in der Brokdorf-Entscheidung (Rn. 92) wiederzugeben und ihrerseits zu ergänzen, dass aufgrund der schwerwiegenden grundrechtlichen Konsequenzen Zurückhaltung bei der Annahme von Gewalttätigkeit zu üben sei. Hiervon abgesehen heißt es beim BVerfG an entsprechender Stelle nun aber tatsächlich: „Die Anordnung eines Versammlungsverbotes wirft verfassungsrechtlich auch bei Großdemonstrationen keine besonderen Probleme auf, wenn die Prognose mit hoher Wahrscheinlichkeit ergibt, daß der Veranstalter und sein Anhang Gewalttätigkeiten beabsichtigen oder ein solches Verhalten anderer zumindest billigen werden. Eine derartige Demonstration wird als unfriedlich von der Gewährleistung des Art. 8 GG überhaupt nicht erfaßt; ihre Auflösung und ihr Verbot können daher dieses Grundrecht nicht verletzen.“
Überzeugend erscheinen diese Ausführungen des BVerfG freilich nicht. Denn bei einer Prognose handelt es sich notwendig um ein Wahrscheinlichkeitsurteil, also um eine Angabe darüber, wie hoch der subjektive Grad der Überzeugung der maßgeblichen Stelle ist, dass ein bestimmtes Ereignis eintreten wird. Dies schließt aber notwendig immer auch die Möglichkeit ein, dass dieses Ereignis nichteintritt. Eine Maßnahme, die sich lediglich auf die Prognose der Unfriedlichkeit stützt, muss sich folglich auch immer in Hinblick darauf rechtfertigen lassen, dass weiterhin die Möglichkeit besteht, dass die Versammlung am Ende gar keinen unfriedlichen Verlauf nimmt. Dies spricht dagegen, den grundrechtlichen Schutz hier vollständig entfallen zu lassen. Schließlich muss es einen Unterschied machen, ob sich jemand tatsächlich auf eine bestimmte Art und Weise verhält oder ihm ein solches Verhalten lediglich von Dritter Seite für die Zukunft als möglich unterstellt wird.
Das Ende der Polizeifestigkeit des Versammlungsrechts?
Hiervon unabhängig hat das BVerwG aber noch eine weitere Hürde zu überwinden, um das Vorgehen der Polizei trotz fehlender Auflösung rechtfertigen zu können. Denn aus dem Fehlen verfassungsrechtlichen Schutzes folgt keineswegs automatisch, dass auch die Sperrwirkung des Versammlungsrechts entfällt. So hatte denn auch der VGH noch explizit argumentiert, der Anwendungsbereich des Versammlungsgesetzes umfasse auch unfriedliche Versammlungen. Systematisch regele das Versammlungsgesetz gerade auch Eingriffsbefugnisse gegenüber unfriedlichen Versammlungen und übertrage bis zur Auflösung die Verantwortung für die Einhaltung der gesetzlichen Regelungen und behördlichen Auflagen bewusst der Versammlung selbst (VGH, aaO, Rn. 48).
Diese Ausführungen des VGH übergeht das BVerwG vollständig. Auch die Literatur, die hier weitgehend der Auffassung des VGH folgt, lässt das BVerwG an dieser Stelle vollkommen unberücksichtigt. Vollständig ignorieren konnte es das Problem jedoch auch nicht, hatte es doch in einer früheren Entscheidung, auf die der VGH auch verweist, noch explizit die gleiche Auffassung vertreten.
Erst vor diesem Hintergrund lassen sich auch die Ausführungen des BVerwG eingangs der Entscheidungsgründe verstehen (BVerwG aaO, Rn. 33 f.). Bereits seit dem Jahr 2007, so der Senat, habe das Gericht mit dieser Rechtsprechung gebrochen, als es mehrfach betont habe, die Sperrwirkung des Versammlungsgesetzes bedeute nicht, dass in die Versammlungsfreiheit ausschließlich auf der Grundlage des Versammlungsgesetzes eingegriffen werden könne. Das Versammlungsgesetz „enthalte keine abschließende Regelung für die Abwehr aller Gefahren, die im Zusammenhang mit Versammlungen auftreten“ könnten. Das Versammlungswesen sei „im Versammlungsgesetz nicht umfassend und vollständig, sondern nur teilweise und lückenhaft geregelt, so dass in Ermangelung einer speziellen Regelung auf das der allgemeinen Gefahrenabwehr dienende jeweilige Landespolizeirecht zurückgegriffen werden müsse“. Zwar habe man diesen auf den Grundsatz des Vorrangs des speziellen Gesetzes bezogenen Ansatz bisher nur für Maßnahmen im Vorfeld von Versammlungen und für die Verhütung von Gefahren, die allein aus der Ansammlung einer Vielzahl von Menschen an einem dafür ungeeigneten Ort entstehen sowie für die Vollstreckung von auf versammlungsrechtlicher Grundlage erlassenen Verfügungen angewandt, prinzipiell sei der Ansatz aber nicht auf diese Konstellationen begrenzt.
Das BVerwG suggeriert insoweit eine Kontinuität seiner Rechtsprechung, die keine ist. Denn die angeführten Ausnahmen verbindet, dass das Versammlungsgesetz keine Regelungen für sie bereithält: Aus diesem Grund ist die Unanwendbarkeit des Versammlungsgesetzes im Versammlungsvorfeld seit langem anerkannt. Entsprechendes gilt für die Vollstreckung von auf versammlungsrechtlicher Grundlage erlassenen Verfügungen wie in dem vom BVerwG zitierten Fall, der eine Besonderheit des niedersächsischen Versammlungsgesetzes betrifft, das derartige Maßnahmen enthält, ohne zugleich ihre Vollstreckung zu regeln. Bei der Verhütung von Gefahren, die allein aus der Ansammlung einer Vielzahl von Menschen an einem dafür ungeeigneten Ort entstehen, ging es schließlich um eine Versammlung in einem geschlossenen Raum, für die § 13 I VersG als entsprechende Ermächtigung zur Versammlungsauflösung im Gegensatz zu § 15 III VersG bekanntlich gerade keinen generalklauselartigen Charakter hat. Demgegenüber lassen sich Maßnahmen gegen unfriedliche Versammlungen unter freiem Himmel stets auf § 15 VersG stützen..
Entbehrlichkeit der Auflösungsverfügung?
Vor diesem Hintergrund hätte es eines ganz neuen Ansatzes bedurft, um zu begründen, weshalb das Versammlungsgesetz im hiesigen Fall unangewendet bleiben und der Durchgriff auf das allgemeine Polizeirecht eröffnet sein sollte. Die weiteren Ausführungen des BVerwG verursachen hingegen eher Ratlosigkeit. Denn in diesen äußert sich das BVerwG vor allem zur fehlenden verfassungsrechtlichen Gebotenheit einer Auflösungsverfügung bei unfriedlichen Versammlungen (BVerwG, aaO, Rn. 64 f.), die angesichts der expliziten Herausnahme dieser Versammlungen aus dem Schutzbereich des Art. 8 I GG ohnehin kaum bestritten werden dürfte.
Bezogen auf das Versammlungsgesetz scheinen Wortlaut und Gesetzessystematik für das BVerwG hingegen irrelevant. Zur einfachrechtlichen Rechtslage äußert sich das Gericht nur insofern, dass eine Auflösungsverfügung zwar aus Gründen der Rechtssicherheit in Fällen geboten sein könne, „in denen eine anfänglich friedliche Versammlung in ihrem weiteren Verlauf objektiv einen unfriedlichen Charakter bekommt“. Dies gelte aber nicht „in Bezug auf eine unfriedliche Versammlung, die von ihrem Beginn an und dann durchgehend bis zum Zeitpunkt des polizeilichen Einschreitens einen unfriedlichen Charakter hat“. Werde – wie im vorliegenden Fall – „eine Versammlung von Anfang an und sodann unverändert durch kollektive und aggressive Ausschreitungen gegen Personen oder Sachen oder sonstige Gewalttätigkeiten geprägt, könne das keinem Versammlungsteilnehmer – auch nicht einem solchen, der sich als Einzelner an diesen Ausschreitungen oder Gewalttätigkeiten nicht beteiligt – verborgen bleiben“ (BVerwG aaO, Rn. 66).
In Bezug auf den von ihm zu entscheiden Fall ignoriert das BVerwG zudem, dass die Versammlung nach dem zugrunde gelegten Sachverhalt kaum „von Anfang an und sodann unverändert durch kollektive und aggressive Ausschreitungen gegen Personen oder Sachen oder sonstige Gewalttätigkeiten geprägt“ gewesen war. Derartige Entwicklungen waren zum Zeitpunkt der polizeilichen Maßnahmen ja im Wesentlichen erst prognostiziert worden. Wie aber ein einzelner Versammlungsteilnehmer die Absichten der übrigen Teilnehmer hinsichtlich ihres künftigen Verhaltens soll erahnen können, bleibt unbeantwortet.
Darüber hinaus leidet die Rechtssicherheit notwendig auch in Fällen, in denen es auch nach Auffassung des BVerwG weiterhin einer Auflösungsverfügung bedürfen soll. Denn in diesen Fällen werden sich die Versammlungsteilnehmer nicht darauf verlassen können, dass es zunächst zwingend einer Auflösung der Versammlung bedarf, bevor an weitergehende Maßnahmen, insbesondere die Anwendung massiver Gewalt, gedacht werden kann. Ob die Polizei eine Versammlung als „von Anfang an gewalttätig“ oder als „gewalttätig geworden“ einstuft, werden Teilnehmende kaum zuverlässig beurteilen können, insbesondere wenn bloße polizeiinterne Prognosen die Beurteilungsgrundlage bilden sollten.
Stärkung des Rechtsschutzes für Versammlungen
Die Entscheidung des BVerwG verärgert. Nicht einmal in erster Linie wegen der mangelhaften Begründung als solcher. Ärgerlich ist vor allem, dass das Gericht derartige Abwege gänzlich ohne Not beschreitet. Nichts hätte dagegengesprochen, den Fall schlicht so zu entscheiden, wie es das VG Sigmaringen vorgemacht hatte: Eine Versammlung ist aufzulösen, bevor weitere Maßnahmen ergriffen werden können; hieran hat es gefehlt, also waren die Folgemaßnahmen rechtswidrig.
Angesichts der defizitären Begründung und dem – wenn auch verschleierten – Bruch mit der eigenen Rechtsprechung drängt sich der Eindruck auf, das BVerwG habe in erster Linie vom Ergebnis her gedacht. Ist es aber tatsächlich zu viel verlangt, dass die Polizei eine Durchsage macht, bevor sie Personen über Stunden in Gewahrsam nimmt oder gar zu Pfefferspray und Gummiknüppel greift? Im vorliegenden Fall hatte es ja auch durchaus Durchsagen der Polizei gegeben, nur eben nicht die erforderliche Auflösung der Versammlung. So verstärkt die Entscheidung den Eindruck, im Bereich des Polizei- und Ordnungsrechts werde in den höheren Instanzen der deutschen Verwaltungsgerichtsbarkeit im Zweifel für die Behörde entschieden und die entscheidenden Gerichte machten sich eher die behördliche Aufgabe der Wahrung von Sicherheit und Ordnung zu eigen, als sich als Kontrolleure behördlichen Handelns zu verstehen.3)
Dabei steht gerade das Versammlungsrecht vor der Herausforderung, dass der verwaltungsgerichtliche Rechtsschutz in seiner aktuellen Form immer weniger geeignet zu sein scheint, dem Recht auf Versammlungsfreiheit zur Durchsetzung zu verhelfen.
Präventive Kontrollen werden verhindert, wie im Falle des Vorgehens der Berliner Polizei gegen den sog. Palästina-Kongress, indem Verfügungen möglichst kurzfristig und im Zweifel erst vor Ort bekannt gegeben werden. Oder sie werden umgangen, wie im Vorfeld des G20-Gipfels in Hamburg, als die Behörden in Reaktion auf das Obsiegen der Kläger im einstweiligen Rechtsschutz nach § 80 V VwGO schlicht die alte Verfügung zurücknahmen und eine neue gleichen Inhalts erließen.
Aber auch die nachlaufende Kontrolle mittels (Fortsetzungs-)Feststellungsklage scheint nur sehr eingeschränkt in der Lage, eine Steuerung der behördlichen Praxis zu bewirken. Dies gilt nicht zuletzt für die bei Versammlungen regelmäßig zu beobachtende unverhältnismäßige Polizeigewalt, inklusive der das Folterverbot verletzenden „Schmerzgriffe“. Prozessual beschränkt sich die Wirkung ohnehin auf die Feststellung der Rechtswidrigkeit des behördlichen Handelns. Damit diese eine über den Einzelfall hinausgehende Wirkung zu entfalten in der Lage wäre, bedürfte es zumindest einer klaren Maßstabsbildung in den Entscheidungsgründen. Diese fehlt jedenfalls dann, wenn die Gerichte stattdessen auf die Umstände des Einzelfalls verweisen, wie es der VGH etwa kürzlich in einer weiteren Entscheidung getan hat, in der es ebenfalls um die Verweigerung des Toilettengangs während eines Gewahrsams ging. Weitergehende Ansprüche des Betroffenen, insbesondere auf Schmerzensgeld, sind auch im Falle einer festgestellten Rechtswidrigkeit höchst ungewiss. Konsequenzen für die handelnden Personen sind in der Regel nicht ersichtlich, obwohl sich etwa bei den seitens des VGH festgestellten Menschenwürdeverletzungen durch die Vorenthaltung von Toilettengang und Trinkwasser durchaus an eine strafbare Nötigung denken ließe.
De lege lata sind nur wenige Stellschrauben ersichtlich, an denen gedreht werden könnte. Am erfolgsversprechenden könnte kurzfristig noch eine Ausweitung des präventiven Rechtsschutzes mittels einstweiliger Anordnung nach § 123 I VwGO sein, bei der Antragsteller positiv verlangen können, es der Behörde bereits im Vorhinein zu untersagen, bestimmte Maßnahmen zu ergreifen. Dies würde die Verwaltung zumindest hindern, den Rechtsschutz durch ein möglichst langes Abwarten zu erschweren, und sie zwingen, ein gerichtliches Abänderungsverfahren betreiben zu müssen, statt sich einer etwaigen aufschiebenden Wirkung schlicht durch Rücknahme der Verfügung zu entledigen. Jedenfalls im Falle des G20-Gipfels war ein solcher Versuch freilich nicht von Erfolg gekrönt gewesen, weil das VG seinerzeit bereits das Rechtsschutzinteresse verneint hatte.
An Überlegungen, wie das Grundrecht der Versammlungsfreiheit wieder gestärkt werden kann, geht jedenfalls kein Weg vorbei, soll weiterhin der Leitsatz der Brokdorf-Entscheidung gelten: „Das Recht des Bürgers, durch Ausübung der Versammlungsfreiheit aktiv am politischen Meinungsbildungsprozeß und Willensbildungsprozeß teilzunehmen, gehört zu den unentbehrlichen Funktionselementen eines demokratischen Gemeinwesens.“ Gelingt es dem Rechtstaat nicht, diese Freiheit sicherzustellen, hat die Demokratie also ein Problem. Und zwar kein kleines.
References
↑1 | Diese ist als Anlage 10 abgedruckt in LT-BW, Drs. 14/7500. |
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↑2 | Rusteberg, Die Verhinderungsblockade, NJW 2011, 2999 ff. |
↑3 | Ausf. dazu in Bezug auf die namensgebenden Maßnahmen meine im Erscheinen begriffene Habilitationsschrift „Rechtstreubezogene Maßnahmen im Polizei- und Ordnungsrecht“. |