21 March 2022

“An Ever Stronger Union” unter dem Radar der europäischen Öffentlichkeiten

Die EU als militärischer Sicherheitsprovider

Als die Union im Jahr 2003 unter dem Titel A Secure Europe in a Better World“ ihre erste Sicherheitsstrategie veröffentlichte, legte sie diesem Leitdokument für die Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik die Feststellung zugrunde, dass Europa niemals wohlhabender, sicherer und freier gewesen sei. Dieses Bild hat in den folgenden Jahren tiefe Kratzer erlitten, durch die Finanz- und Wirtschaftskrise, den Brexit und nicht zuletzt durch die autoritären, nationalistischen Entwicklungen in einer Reihe von Mitgliedstaaten. Mit dem Versprechen, dass die europäische Integration politische Stabilität, Demokratisierung und Wohlstandswachstums erbringe, ist der wesentliche „Legitimationsclaim“ der Union prekär geworden. Diese Prekarität spiegelt sich direkt darin wider, dass die Union gegenwärtig eine neue Rhetorik der Notwendigkeit und Leistung der europäischen Integration entwickelt: Die EU will Garant der Sicherheit ihrer Bürger und ihres Hoheitsgebietes sein oder jedenfalls werden, und zählt zum notwendigen Instrumentarium gerade auch militärische Mittel. Die Garantie von Sicherheit – ein altbekanntes Paradigma der Staatstheorie und der politischen Legitimität – wird als Aufgabe und Leistung der EU profiliert.

Die EU als Sicherheitsprovider: Neue Rechtfertigung der europäischen Integration

Ein wesentliches Momentum dafür markiert die im Juni 2016 unter dem Titel Shared Vision, Common Action: A Stronger Europe, A Global Strategy for the European Union’s Foreign And Security Policy veröffentlichte EU-Sicherheitsstrategie, die unter der damaligen Hohen Vertreterin für Außenpolitik Federica Mogherini entwickelt wurde: Die Global Strategy ruft – in auffälligem Unterschied zur ersten Sicherheitsstrategie der EU – das Bild einer existenziellen Krise auf, einer internen wie externen Bedrohung der EU und des europäischen Projekts insgesamt, vor deren Hintergrund die EU sich als Sicherheitsgarant, als „Sicherheitsprovider“ aufstellen müsse. Dabei könne sie nicht allein auf zivile und diplomatische soft power setzen. In einer „fragilen Welt“ müsse die Union ihre Sicherheits- und Verteidigungsfähigkeit in höherem Maße glaubhaft machen und als Sicherheitsgemeinschaft aufgestellt werden. Im zeitlichen Kontext ist die Globalstrategie von den Krisen und Konflikten im Nahen und Mittleren Osten und nicht zuletzt von der Krimannexion durch Russland informiert. Mit dem Ukraine-Krieg hat das düsterere Weltbild der Global Strategy zuletzt noch an Schärfe und Überzeugungskraft gewonnen.

Intensivierung der militärischen und militärpolitischen Integration in der EU-Verteidigungspolitik

Die Global Strategy von 2016 ist – wie auch das Vorgängerpapier – kein Rechtsakt und wurde nicht förmlich vom Rat beschlossen. Sie wurde von der Außenbeauftragten vorgelegt und vom Rat lediglich in Ratsschlussfolgerungen zur Kenntnis genommen. Gleichwohl ist die Strategie ein wesentliches Movens der EU-Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik, sie informiert und treibt deren Fortentwicklung an: Ausgehend von der Globalstrategie hat die Union seit 2016 verstärkt daran gearbeitet, ihre Fähigkeit zu militärischem Handeln auszubauen, um „strategisch autonom“ zu werden. Dies umfasst die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit (Permanent Structured Cooperation, PESCO), ein komplexes regulatorisches Programm zur Entwicklung gemeinsamer militärischer Fähigkeiten in der Union; die jährliche Überprüfung der Verteidigungsfähigkeiten, die der koordinierten Verteidigungsplanung und der Priorisierung gemeinschaftlicher Rüstung der Mitgliedstaaten dient (Coordinated Annual Review on Defence, CARD); den Europäischen Verteidigungsfonds zur finanziellen Förderung gemeinschaftlicher Rüstung (European Defence Fund, EDF); die Errichtung eines militärischen Planungs- und Durchführungsstabes für europäische Militäreinsätze (Military Planning and Conduct Capability, MPCC); sowie einen außerbudgetären Fonds zur gemeinschaftlichen Finanzierung von EU-Militäreinsätzen und zur Unterstützung der militärischen Entwicklung von Drittstaaten (Europäische Friedensfazilität, European Peace Facility).

Aktuell arbeitet die Union am update der Global Strategy: Diese neue Sicherheitsstrategie, der Strategic Compass, ist im Juni 2020 vom Rat in Auftrag gegeben worden und wird vom Europäischen Auswärtigen Dienst erarbeitet, was auch einen Dialog mit den Mitgliedstaaten einschließt – an dem die Öffentlichkeit in Deutschland allerdings nicht sichtbar teilgehabt hat. Überdies beteiligt sich eine EU-eigene Denkfabrik, das European Union Institute for Security Studies, mit politischen Vorschlägen und Empfehlungen (zuletzt hier). Im November 2021 hat der Außenbeauftragte den Mitgliedstaaten nicht-öffentlich einen Entwurf präsentiert, der nun noch weiter politisch abgestimmt wird (inhaltliche Übersichten finden sich immerhin: hier und hier). Im März 2022 soll der Strategic Compass fertiggestellt werden – wobei der Ukraine-Krieg sicherlich einen neuen Aspekt der Bedrohungsanalyse darstellt, der erst noch verarbeitet werden muss. Die generelle Idee, mit der der Strategic Compass die Global Strategy fortführt, ist aber ohnehin bereits klar: nämlich, dass die Union sich weiter und deutlicher als „Sicherheitsprovider“ profilieren will. In den Worten des Hohen Vertreters für Außenpolitik, Josep Borrell:

Europe is in danger: we need to operate in an increasingly competitive strategic environment. The purpose of the Strategic Compass is to draw an assessment of the threats and challenges we face and propose operational guidelines to enable the European Union to become a security provider for its citizens, protecting its values and interests.

Der Strategic Compass umfasst eine globale und regionale sicherheits- und militärpolitische Bedrohungsanalyse und soll wiederum die Fortentwicklung der unionalen Sicherheits- und Verteidigungspolitik anleiten – insbesondere in der Form von Rüstung, gemeinsamer Fähigkeitenentwicklung und der Verbesserung von Entscheidungsprozessen. Kurz gesagt: Der Sicherheitskompass soll die weitere Stärkung der militärischen Handlungsfähigkeit der Union programmieren.

Fundamentale Bedeutung der verteidigungspolitischen Integration in der EU für das europäische Projekt

Die Fähigkeit zu militärischem Handeln wird gemeinhin zu den Kernaspekten souveräner Staatlichkeit gezählt. Dies spiegeln auch die Souveränitäts- und Verfassungsvorbehalte und die intergouvernementalen Organisations- und Entscheidungsprinzipien wider, die in der EU-Verteidigungspolitik die staatliche Entscheidungs- und Handlungsautonomie sichern sollen. Gleichwohl ist die Militärpolitik der Mitgliedstaaten in den vergangenen Jahren verstärkt zum Gegenstand europäischer Rechtsetzung und Politik geworden. Die EU wirkt deutlich intensiver regulatorisch darauf ein, wie die Mitgliedstaaten rüsten und ihre Militärfähigkeiten entwickeln, als es das übliche Verständnis der EU-Verteidigungspolitik als nicht-supranationalisierter, intergouvernementaler Politikbereich erwarten lässt (das habe ich – einschließlich der normativen Fragen – in meiner Habilitationsschrift untersucht).

Der politische Prozess, in dem die EU daran arbeitet, eigenständig militärisch handlungsfähig zu werden, verläuft aber überwiegend, ohne dass sich die Bürgerinnen und Bürgern hierzu eine Meinung und einen Willen bilden. Die politischen Akteure, allen voran die mitgliedstaatlichen Regierungen, aber auch der Hohe Vertreter für Außenpolitik, tragen die verteidigungspolitischen Programme der Union nicht proaktiv in die Öffentlichkeit. Mediale Begleitung und öffentliche Aufmerksamkeit fehlen weitgehend; lediglich ein Fachpublikum verfolgt das Geschehen näher (etwa hier). Die politischen Spitzen der Mitgliedstaaten haben sich das Projekt bislang nur vereinzelt öffentlich zu eigen und zum Gegenstand ihrer Profilierung gemacht. Es blieb bislang bei einer weitgehend geräuschlosen Arbeit auf der Ebene der EU-Diplomatie, des administrativen EU-Apparats und der mitgliedstaatlichen Ministerien.

Indes ist die militärische Ermächtigung, auf die die Union zielt, für das Projekt der europäischen Integration alles andere als eine nebensächliche, rein technische Angelegenheit. Die EU selbst behandelt diese als existentielles Vorhaben, von dem die Rechtfertigung der europäischen Integration gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern ebenso abhängt wie die Stellung Europas in der Welt. Zudem stellen sich ganz grundlegende Fragen über die politische Ausrichtung der EU-Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik: Welchen Zwecken sollen die Militärfähigkeiten wesentlich dienen, an deren Ausbau die Union arbeitet? Wie soll sich die militärische „hard power“ der Union zu ihrer diplomatischen „soft power“ verhalten? Wie gestaltet die Union ihr Verhältnis zur NATO? Wie positioniert sie sich in der internationalen Ordnung und insbesondere in der wiedererwachenden Ost-West-Konfrontation?

Potential und Probleme der demokratischen Politisierung

Wie der Ukraine-Krieg die Verteidigung Europas als Zweck der Militärpolitik auf erschütternde Weise wiederbelebt – das hat nun das Potential, diese Fragen und damit die EU-Verteidigungspolitik zu politisieren. Schon der – selbst einer breiten, offenen Debatte würdige – Vorstoß für eine Neuausrichtung der deutschen Verteidigungspolitik, den Bundeskanzler Olaf Scholz mit seiner Regierungserklärung unternommen hat, trägt zur Sichtbarkeit der Verteidigungspolitik bei, auch auf europäischer Ebene. Freilich steht deutlich vor Augen, dass andere Krisen, die Europa in den letzten Jahren erlebt hat, wie insbesondere die Finanz- und Wirtschaftskrise, den Modus des „alternativlosen“ Handelns der mitgliedstaatlichen Regierungen in Gipfeln und technokratischen Abstimmungsprozessen eher noch verstärkt haben.

Zwar haben Kriege und Aufrüstung die Öffentlichkeit in der Vergangenheit stark bewegt. Aber zum einen hält die unionsvertragliche Verfassung der EU-Verteidigungspolitik das Europäische Parlament und sein Potential für Opposition und Alternativvorschläge allenfalls an der Seitenlinie des politischen Spielfelds (die anlaufende Zukunftsdebatte über die Unionsverfassung müsste das unbedingt thematisieren! – Sie wird aber selbst bislang kaum öffentlich geführt.). Zum anderen ist die Militärpolitik traditionell tief geprägt als Feld des Exekutivhandeln, das von militärischer „Eigenlogik“ durchdrungen ist und in dem Sicherheitsbelange weitreichend Geheimhaltung erfordern. Das kommt auch auf der europäischen Ebene zum Tragen und trägt dazu bei, dass der laufende Integrationsprozess in der EU-Verteidigungspolitik vor der Öffentlichkeit regelrecht abgeschirmt verläuft. So bleiben etwa Informationsfreiheitanfragen („Ask the EU“) zu laufenden verteidigungspolitischen Projekten nach meiner eigenen Erfahrung grundsätzlich erfolglos (siehe nur hier und hier). Überdies ist die intergouvernementale Willensbildung, die wesentlich im Arbeitsapparat des Rates abläuft (der ja das Ruder der Verteidigungspolitik allein in der Hand hält), seit jeher intransparent. Politik, die in diesem Modus gemacht und durchgeführt wird, ist auch von den nationalen Parlamenten nur schwer zu kontrollieren und zu politisieren. Hinzu kommt in der gegenwärtigen Situation eine mit dem Krieg in der Ukraine sehr sichtbar zugespitzte Bedrohungslage, die das Argumentieren mit vermeintlichen Geboten der Notwendigkeit in Bezug auf die Aufrüstung und Militarisierung der Außenpolitik leicht macht.

Parlamentarisierung und Öffentlichkeit als Gebot

Dass das militärpolitische Integrationsgeschehen außerhalb der öffentlichen Wahrnehmung und Debatte stattfindet, bedeutet letztlich für die politischen Akteure geringe Rechtfertigungslasten und größere Handlungsspielräume. Es ist also alles andere als ein Selbstläufer, dass über die Fortentwicklung der EU-Verteidigungspolitik jetzt die breite, allgemeine Meinungs- und Willensbildung stattfindet, die bislang fehlt. Dies ist jedoch dringend angezeigt, um die „hard power“, die die Union in der Außen- und Sicherheitspolitik entwickelt und entfalten will, demokratisch und rechtsstaatlich einzubinden – und das ganze Unterfangen der militärischen Ermächtigung der Union überhaupt seiner Bedeutung entsprechend politisch zu behandeln. Der intergouvernementale Politikmodus der EU-Verteidigungspolitik ist dem Integrationsniveau dieses Politikfeldes, dessen Entwicklung das europäische Projekt in den kommenden Jahren maßgeblich mitprägen wird, längst nicht mehr angemessen. Notwendig ist insbesondere, das Europäische Parlament und die nationalen Parlamente mit anstehenden politischen Entscheidungen tragfähig informiert und rechtzeitig, also solange der politische Prozess noch inhaltlich offen ist, zu befassen und ihre Willensbildung zur Handlungsgrundlage zu machen (weitere konkrete institutionelle Vorschläge habe ich in meiner Habilitationsschrift entwickelt). Außerdem müssen die Regierungen, der Außenbeauftragte und die Kommission die fundamentalen, integrations-, sicherheits- und außenpolitischen Fragen, die die Fortentwicklung der Verteidigungspolitik aufwirft, proaktiv, frühzeitig und mit substantiellen Informationen in die Öffentlichkeit tragen und dazu beitragen, eine substantielle Debatte der Bürgerinnen und Bürger anzuschieben.


SUGGESTED CITATION  von Achenbach, Jelena: “An Ever Stronger Union” unter dem Radar der europäischen Öffentlichkeiten: Die EU als militärischer Sicherheitsprovider, VerfBlog, 2022/3/21, https://verfassungsblog.de/an-ever-stronger-union-unter-dem-radar-der-europaischen-offentlichkeiten/, DOI: 10.17176/20220321-121142-0.

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