Auf Europablindflug in der Asyldebatte
Eine Viertelmilliarde Euro. Das war das letzte Mal am Ende der Preis, als deutsche Politiker und Verfassungsrechtsprofessoren im Brustton der Überzeugung Europarecht erklärten und alles rechtmäßig fanden. Dabei war die von der CSU durchgesetzte und von der Großen Koalition aus Union und SPD verabschiedete PKW-Maut für Ausländer – von vornherein absehbar – europarechtswidrig und kostete den deutschen Steuerzahler nach der Klarstellung durch den EuGH viele Millionen Euro Vertragsstrafen.
Der Umgang mit dem Recht in der aktuellen Flüchtlingsdebatte könnte Deutschland, also uns alle, am Ende viel mehr kosten – nicht so sehr an Euro, aber an Vertrauen in die Verlässlichkeit Deutschlands und die deutsche Europapolitik, und allgemeiner in die Verlässlichkeit des Rechts.
Vorgeschichte
Doch was ist eigentlich passiert? Am 24. August 2024 ermordete ein syrischer Staatsangehöriger auf einem Volksfest in Solingen drei Menschen mit einem Messer. Der Mann hatte in Deutschland kein Asyl erhalten und hätte bereits 2023 nach Bulgarien überstellt werden sollen, wo er in die EU eingereist war, weswegen dort nach dem sog. Dublin-System die Erstzuständigkeit für ein Asylverfahren bestand.
Der Partei- und Fraktionsvorsitzende der CDU Friedrich Merz äußerte daraufhin am 27. August 2024 nach einem Treffen mit dem Bundeskanzler vor der Bundespressekonferenz zu den Konsequenzen des Anschlags in Solingen Folgendes:
„Und wenn Europa das nicht kurzfristig in der Lage ist zu ändern, dann haben wir nach Art. 74 [sic!] des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union das Recht – und wie ich finde mittlerweile angesichts der Lage die Pflicht – eine nationale Notlage zu erklären im Hinblick auf die Flüchtlinge und dann ist das nationale Recht der Bundesrepublik Deutschland wichtiger als das europäische Recht. Das geht nach dem EU-Vertrag und muss meines Erachtens und unseres Erachtens jetzt auch tatsächlich in Anspruch genommen werden.“ (Minute 13:07)
Unter dem Eindruck des Mordanschlags von Solingen erzielten am 1. September 2024 in den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen im Osten Deutschlands Nationalpopulisten von rechts (AfD) und links (BSW) Stimmenanteile von 40 bis 50 %.
Als Nächstes erklärte Oppositionsführer Merz am 5. September 2024 öffentlich:
„Wenn die Bundesregierung nicht bereit ist, bis zum nächsten Dienstag [10. September] uns eine verbindliche Erklärung zu geben, dass der unkontrollierte Zuzug an den Grenzen gestoppt wird und diejenigen, die immer noch kommen, an den Grenzen in Deutschland zurückgewiesen werden, dann machen weitere Gespräche mit der Bundesregierung keinen Sinn“.
Noch vor den Landtagswahlen in Brandenburg am 22. September 2024 teilte die Bundesregierung der Europäischen Kommission am 9. September 2024 mit:
„Zusätzlich zu den bereits bestehenden vorübergehenden Binnengrenzkontrollen an den Landgrenzen zu Österreich, der Schweiz, Tschechien und Polen hat das Bundesinnenministerium heute die Anordnung von vorübergehenden Binnengrenzkontrollen an den Landgrenzen zu Frankreich, Luxemburg, den Niederlanden, Belgien und Dänemark für die Dauer von sechs Monaten bei der Europäischen Kommission notifiziert. Damit werden ab dem 16. September 2024 an allen deutschen Landgrenzen vorübergehende Binnengrenzkontrollen möglich sein. Außerdem besteht damit an allen deutschen Landgrenzen die Möglichkeit für Zurückweisungen von Personen nach Maßgabe des europäischen und nationalen Rechts.“
Ein voraussetzungsvolles Rechtsregime
Ohne Zweifel ist illegale Migration eine enorme Herausforderung für die westlichen demokratischen Rechtsstaaten weltweit. Es sind diese Staaten, die besonders von Flüchtlingsströmen betroffen sind, weil Putins Russland oder der Gottesstaat Iran oder China nicht sonderlich attraktive Zielländer sind. Insofern sind Migrations- und Flüchtlingsbewegungen auch eine Bestätigung dafür, dass wir das Glück haben, an den besten Orten der Welt zu leben. Wir haben in der „birthright lottery“ (Ayelet Shachar) das bessere Los gezogen. Mit verdient/unverdient oder angeblicher Überlegenheit einer „Rasse“ oder eines Volkes hat das nichts zu tun. Schon deswegen empfiehlt sich in der Diskussion dieser Fragen eine gewisse Grunddemut.
Ein Ausdruck dieser Grunddemut, aber auch Lehre aus der Geschichte ist, dass wir in Europa nach 1945 das Flüchtlingsrecht als Grund- und Menschenrecht auf allen Ebenen des Rechts verankert haben. Im Völkerrecht ist es das Refoulement-Verbot der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951, es gibt asylrechtliche Garantien der Europäischen Menschenrechtskonvention von 1950 und ein Individualgrundrecht auf Asyl im Grundgesetz von 1949 (heute Art. 16a GG).
In einer parallelen Entwicklung im Zuge der europäischen Integration ging der Ausbau des Binnenmarktes und der Personenfreizügigkeit mit dem Abbau der Binnengrenzen einher, was über kurz oder lang zu einem einheitlichen Grenzregime („Schengen“) und damit auch einem einheitlichen europäischen Flüchtlingsrecht an den Außengrenzen der EU führen musste (Art. 77 ff. AEUV, Art. 18 GRCh).
Diesem Rechtsregime wohnt etwas singulär Altruistisches, Uneigennütziges inne, wo wir Grundrechte garantieren, die wir anders als die herkömmlichen Grundrechtsgarantien mit Bestimmtheit niemals für uns selbst werden in Anspruch nehmen können. Ein derart ambitioniertes Rechtsregime ist voraussetzungsvoll. Und es ist nicht auszuschließen, dass die Annahmen von 1949/1950/1951 unter verschiedensten Aspekten heute nicht mehr tragen. Aber eine neue Verständigung über diese über viele Jahrzehnte hochgehaltenen und gewachsenen Gewährleistungen des nationalen und des internationalen Rechts lässt sich nicht einseitig dekretieren. Schon gar nicht von heute auf morgen, sicher nicht durch den Oppositionsführer im Bundestag und auch nicht durch eine deutsche Bundesregierung.
Offene Fragen
Trotz der angekündigten zusätzlichen Grenzkontrollen hält in Deutschland die Debatte an und es wird weiter die Zurückweisung von Flüchtlingen an der Grenze gefordert, wobei ein strategischer Kompass nicht recht erkennbar ist. Behauptet wird eine Vereinbarkeit mit dem Europarecht und, soweit diese nicht besteht oder unsicher ist, jedenfalls der Vorrang der deutschen Interessen.
Nicht neu ist, dass alles Mögliche mit der Frage, wie wir politisch Verfolgten Asyl gewähren, zusammengerührt wird: allgemeines Ausländerrecht, Migrationssteuerung, Gefahrenabwehr, Unionsbürgerfreizügigkeit, Schengen, Einbürgerungen, mehrfache Staatsangehörigkeit. Der Anschlag von Solingen hat zudem eine parallele waffenrechtliche Debatte ausgelöst. Am wenigsten scheint mir der für Solingen vielleicht wichtigste Aspekt thematisiert: der polizeiliche und gesellschaftliche Kampf gegen den islamistischen Terror.
Stattdessen hat sich eine Diskussion über den Stand und Zustand des Asylrechts entwickelt, die viel von Tatbestandsmerkmalen und Rechtsnormen handelt, wenig von Umsetzungsdefiziten und realen Szenarien.
Wie wenig bei der asylrechtlichen Diskussion auf empirische Realbefunde abgestellt wird, verblüfft besonders. Man hätte doch gerne aktuelle belastbare Angaben über Aufnahmezahlen und Aufnahmekapazitäten. Jedenfalls liegt doch bei nahezu 4000 km deutschen Außengrenzen auf der Hand, dass in der Wirklichkeit die geforderten Zurückweisungen an Grenzkontrollstellen nichts Entscheidendes verändern dürften – Stichwort grüne Grenze. Stattdessen verbeißen sich Politiker, zumal Nichtjuristen, in Details der Tatbestandsmerkmale asylrechtlicher Bestimmungen des Europarechts.
Erstaunlich ist dabei die Eindimensionalität der Argumente. Europäisches Asylrecht ist in seinen nationalrechtlichen, europarechtlichen und völkerrechtlichen Komponenten enorm differenziert und im Zusammenspiel hochkomplex. Da geht es beispielsweise um die Frage, ob ein Asylantrag gestellt wird und/oder anderswo gestellt wurde, ob es um Minderjährige oder Familienangehörige geht und vieles mehr. Zurückweisungen im sog. Zuständigkeitsfeststellungsverfahren sind mithin allenfalls unter hoch umstrittenen engen Ausnahmen zulässig. Die Forderung nach pauschaler und sofortiger Zurückweisung an der Grenze hat demgegenüber die Anmutung einer geistig-konzeptionellen 5-Minuten-Terrine.
Exemplarisch ist die Argumentation mit einer nationalen Notstandslage nach Art. 72 AEUV. Hiernach können die Mitgliedstaaten zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und zum Schutz der inneren Sicherheit von Unionsrecht abweichen, insbesondere es unangewendet lassen. Ob der Art. 72 AEUV überhaupt einschlägig ist, unterliegt aber gerichtlicher Kontrolle. Das hat der EuGH 2020 in Vertragsverletzungsverfahren betreffend Polen, Ungarn und Tschechien klargestellt: diese Staaten konnten sich nicht auf Art. 72 AEUV berufen. Die EU-Mitgliedstaaten können nämlich nicht einfach durch bloße Berufung auf Art. 72 AEUV vom Unionsrecht abweichen. Es gelten für Art. 72 AEUV strenge Voraussetzungen, es ist eine Vorschrift für außergewöhnliche Fälle, was auch darin deutlich wird, dass sich noch nie ein Mitgliedstaat erfolgreich darauf berufen konnte. Dass aktuell die öffentliche Ordnung und der Schutz der inneren Sicherheit in Deutschland zusammenbricht, lässt sich kaum behaupten. Aber selbst wenn die Voraussetzungen des Art. 72 AEUV gegeben wären, so müsste seine Anwendung jedenfalls aber auch verhältnismäßig sein. Deswegen müsste die Nichtanwendung des Unionsrechts zeitlich begrenzt sein, es wäre also so oder so keine dauerhafte Lösung.
Sich zur Nichtbefolgung von Europarecht im Flüchtlingskontext einfach so auf die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit berufen, würde absehbar – wie im Falle von Polen, Ungarn und Tschechien – zur Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens gegen Deutschland führen. Das ist womöglich unter dem Aspekt Zeitspiel (‚Dann lassen wir uns eben verurteilen‘) vielleicht für manche sogar Teil des politischen Handelskalküls. Die strengen Anforderungen des Art. 72 AEUV sind in der Fachdiskussion und auf der Arbeitsebene, in der Ministerialbürokratie, natürlich hinlänglich bekannt. Das ist kein verdecktes Geheimwissen. Wenn zugleich auf politischer Ebene einfache und dauerhafte Lösungsverheißungen vorgetäuscht werden, dann hat diese Art von taktischem Umgang mit dem Recht am Ende einen hohen Preis und beschädigt die europäische Idee.
Fehlendes Denken in europäischen Zusammenhängen
Mit am meisten irritiert an der politischen Diskussion, wie wenig europäisch gedacht wird.
In der politischen Auseinandersetzung mag die Vereinfachung und Zuspitzung manchmal unumgänglich erscheinen. Die Vereinfachung mündet in der aktuellen Debatte aber verbreitet in die Relativierung des Vorrangs des Europarechts. Dass hier unionsnahe ehemalige Bundesverfassungsrichter in erstaunlich apodiktischen Interviews oder Namensartikeln besonders sichtbar hervortreten, nährt den Verdacht, dass es nicht nur um ein politisches Rückspiel zu 2015 und der Flüchtlingspolitik der Merkel-Ära geht, sondern auch im europaverfassungsrechtlichen Diskurs ein Rollback versucht werden soll. Das BVerfG hat nämlich den Vorrang des Unionsrechts vor dem nationalen Recht, und – ausgerechnet 2015 – ausdrücklich auch vor dem nationalen Verfassungsrecht im Grundsatz anerkannt (BVerfG 2 BvR 2735/14 vom 15.12.2015, Randnummer 38). Verbleibende Kontrollvorbehalte des BVerfG zugunsten des Schutzes der nationalen Verfassungsidentität oder zu Ultra vires-Akten der EU geben für die aktuelle Debatte nichts Sinnvolles her.
Alles Unheil auf die EU oder die EMRK zu schieben greift ohnehin zu kurz. Das beweist der Blick in die USA, die weder supranational eingebunden noch der dortigen regionalen Menschenrechtskonvention unterworfen sind. Und doch bestehen hier wie da vielfach vergleichbare Probleme, vom Realbefund einer trotz aller Gegenmaßnahmen (Trumps Mauerbau) physisch überwindbar bleibenden Grenze bis zur Verrohung des politischen Diskurses mit der Folge einer Gefährdung der demokratisch-rechtsstaatlichen Substanz (Trumps „Remigrations“-Fantasien).
Dass Deutschland wegen der EU die Kontrolle über seine Grenzen verloren hat, ist eine weitere grobe und eben auch falsche Vereinfachung. Auch unter dem Unionsrecht sind aufenthaltsbeendende Maßnahmen sogar gegen Unionsbürger möglich und werden regelmäßig durchgesetzt. Hier wird das zunächst im Eilrechtsschutz gestoppte Einreiseverbot nach Deutschland für den österreichischen Rechtsextremisten Sellner hoffentlich dem EuGH in einem Vorlageverfahren Gelegenheit zu einer sichtbaren Klarstellung dazu geben, unter welchen Voraussetzungen von politischen Akteuren eine schwere Gefahr ausgeht, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (Art. 27 Abs. 1 und 2 Unionsbürger-Richtlinie).
Zurück zur Asyldiskussion. Da herrscht derzeit in Deutschland der verengte nationale Blick nicht nur in Rechtsfragen. Zu Recht wird beklagt, dass die Rückführung des Mörders von Solingen nach Bulgarien nicht gelungen ist. Aber wäre das die Lösung gewesen? Die Überlegung, dass dann womöglich auf einem bulgarischen Volksfest Menschen ermordet worden wären und dass es deswegen um ein gemeinsames europäisches Problem geht, sieht man kaum.
Welche Folgeeffekte in anderen Mitgliedstaaten auf Zurückweisungen auftreten könnten, wird ebenfalls nicht offen diskutiert.
Was die zusätzlichen Grenzkontrollen angeht, so legen die ersten Reaktionen aus Polen, Griechenland und Österreich nahe, dass die Bundesregierung europäische Partner nicht einmal informiert, geschweige denn konsultiert hat. Das freilich entspricht dem Muster der einseitigen unabgesprochenen Grenzöffnung 2015.
Man kann den Eindruck gewinnen, dass es manchen gerade darum geht, die lästige Rechtsbindung letztlich beiseite zu lassen, rechtliche Bindungen jedenfalls aber Nachrang haben. Das aber ist für Deutschland hochgefährlich, weil dem Beispiel dann andere Mitgliedstaaten, und dann in anderen thematischen Kontexten als der Flüchtlingsfrage folgen werden. Das Staatsziel Vereintes Europa in der Präambel, Art. 23 GG und die vom BVerfG betonte Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes geben den Staatsorganen dabei eigentlich einen klaren Kompass an die Hand.
Nun lässt sich nicht leugnen, dass das Dublin-System erhebliche Umsetzungsdefizite aufweist und etliche Mitgliedstaaten seit einiger Zeit die Regeln ihrerseits nicht einhalten. Die an sich vereinbarten Rücknahmen werden verzögert, vielleicht sogar sabotiert. Die Europäische Kommission als Hüterin der Verträge greift nicht ein.
Hier ist indessen die europäisch-reflektierte Antwort gerade nicht, dann eben auch das Recht zu ignorieren. Es ist gerade der zivilisatorische Fortschritt in der europäischen Rechtsgemeinschaft, dass fraglos zwischen den Staaten weiter bestehende Interessensgegensätze geordnet in Verfahren kanalisiert werden und nicht zu wechselseitigen Eskalations- und Reaktionskaskaden führen. Beispielsweise können auch Mitgliedstaaten Vertragsverletzungsverfahren gegen andere Mitgliedstaaten auslösen, wie es im Falle der PKW-Maut Österreich gegen Deutschland vorgemacht hat. Wenn Mitgliedstaaten das Dublin-System sabotieren, gehört das bereits unter dem Aspekt der Verletzung des Prinzips der loyalen Zusammenarbeit in Art. 4 Abs. 3 EUV vor den EuGH. Und auch für die Opposition gibt es Möglichkeiten, jeden Lippenbekenntnisverdacht in Sachen politische Probleme europäisch denkend zu entkräften, indem beispielsweise Vorstöße mit Partnern aus der Parteifamilie koordiniert und gemeinsam vorgetragen werden.
Die Kommentare aus dem EU-Ausland zur aktuellen Debatte und die zusätzlichen Grenzkontrollen in Deutschland machen stattdessen die nationalen Antagonismen offensichtlich. Da wird eine deutsche Panikreaktion wegen rechtsextremer Wahlerfolge diagnostiziert, es wird ein Verlust an Verlässlichkeit und Vertrauen in die deutsche Europapolitik beklagt. Wenn Beifall für die Bundesregierung ausgerechnet vom ungarischen Regierungschef Orbán kommt, der in Sachen Flüchtlinge nicht einmal den Anschein einer europäischen Solidarität vortäuscht, dann spricht das für sich.
Sicherlich geht es bei all dem auch um das Verhältnis von Recht und Politik. Eine ausschließlich juristische Betrachtung greift daher zu kurz. Dass auch in Deutschland bei aller Juridifizierung des politischen Prozesses das politische Kalkül für den eigenen politischen Vorteil der Frage nach der Rechtslage vorgelagert ist, ist keine Ausnahme und ist sicherlich auch gegenwärtig treibendes Motiv für die Opposition. Der besagte Vorrang des politischen Kalküls findet sich in allen politischen Lagern, da sollte es keine Illusionen geben. Rechtsfragen sind dann zuvörderst Fragen nach rechtlichen Risiken und lediglich Kostenaspekte, denen ein erhoffter politischer Nutzen gegenübersteht.
Eine derartige politische Kosten-Nutzen-Analyse ist aber vorliegend entweder gar nicht angestellt worden oder völlig misslungen. Eine ernsthafte europarechtspolitische Folgenabschätzung scheint es jedenfalls nicht gegeben zu haben. Die möglichen gravierenden Folgen für die Wahrnehmung deutscher Interessen in der EU, die Stabilität der Rechtsgemeinschaft und die Handlungsoptionen auf europäischer Ebene spielen in der deutschen Debatte bisher keine nennenswerte Rolle.
Dabei kann es bei diesen grenzüberschreitenden Fragen offenkundig nur mit einer gemeinsamen europäischen Kraftanstrengung tragfähige Antworten geben. In der ein oder anderen Form sind die europäischen Staaten darauf angewiesen, über kurz oder lang zu einem Ausgleich und zu Vereinbarungen zu kommen. Konstruktive und differenzierte Lösungsansätze bestehen. Aber diese erfordern eine differenzierte, sachliche, faktengestützte Problemanalyse und schlicht Zeit – es gibt keine einfache Zauberformel. Auch die bereits verabredete Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) wird nicht das letzte Wort sein.
Kommunikationsverantwortung statt Vereinfachung
Wer stattdessen einfache und schnelle Auswege, womöglich auch noch als einseitige nationale Maßnahme, als Lösung verspricht, wird derartige Versprechen nicht einhalten können und am Ende den nationalpopulistischen Vereinfachern in die Hände spielen. Erfahrungen anderswo, etwa in Frankreich, zeigen, dass der Versuch, mit populistischen und einfachen Lösungen extreme politische Kräfte zu schwächen nicht selten dazu führt, dass dann gleich das „Original“ gewählt wird. Der Absturz der konservativen Partei als nennenswerte politische Kraft in Frankreich sollte allseits eine Warnung sein.
Gerade in der Asyldebatte geht es darum, die unübersichtlichen und komplexen Zusammenhänge verständlich und nachvollziehbar zu kommunizieren und zu erklären. Das ist nicht zu verwechseln mit der populistischen Vereinfachung.
Von Politik – auch in der Opposition – wie von der Berichterstattung ist entsprechend ein verantwortungsvoller Umgang mit diesen Einsichten einzufordern.
Wieso wird hinsichtlich der Maut bei jedem dieser Beiträge unterschlagen, dass auch ein Generalanwalt die Regelung für europarechtskonform hielt? Die Sache war gerade nicht so eindeutig, wie sie Herr Mayer wiederholt darstellt.
F.C.M: „Schon deswegen empfiehlt sich in der Diskussion dieser Fragen eine gewisse Grunddemut.“
Ist in diesem Kontext Grunddemut jetzt eine juristische oder politische Kategorie oder gar eine theologische Kategorie?
F.C.M: „Nun lässt sich nicht leugnen, dass das Dublin-System erhebliche Umsetzungsdefizite aufweist und etliche Mitgliedstaaten seit einiger Zeit die Regeln ihrerseits nicht einhalten. Die an sich vereinbarten Rücknahmen werden verzögert, vielleicht sogar sabotiert. Die Europäische Kommission als Hüterin der Verträge greift nicht ein.“
Das „erhebliche Umsetzungsdefizite aufweisende“ Dublin-System mutet eher wie eine seit Jahren vor sich hinmodernde Leiche an, bei der sich kein Gerichtsmediziner findet, um den Totenschein auszustellen. Und weder die EU-Kommission noch die EU-Staaten leiten Vertragsverletzungsverfahren ein.
F.C.M.: „Die Kommentare aus dem EU-Ausland zur aktuellen Debatte und die zusätzlichen Grenzkontrollen in Deutschland machen stattdessen die nationalen Antagonismen offensichtlich.“
Wenn der deutschlandzentrierte Kommentar, schon ins EU-Ausland blickt, ist dieser Blick etwas kurz und einseitig geraten. Es drängt sich bei der Berichterstattung eher der Gedanke auf, dass sich Dänemark, Schweden, Frankreich, Italien, Ungarn, Polen, etc. etc. schon länger und weiter aus dem „enorm differenzierten und im Zusammenspiel hochkomplexen“ EU-Asylrecht verabschiedet haben.
F.C.M.: „Gerade in der Asyldebatte geht es darum, die unübersichtlichen und komplexen Zusammenhänge verständlich und nachvollziehbar zu kommunizieren und zu erklären. Das ist nicht zu verwechseln mit der populistischen Vereinfachung.“
Das erinnert jetzt an die Politiker in der Nachwahlberichterstattung, die meinen, dass ihre Partei nur besser „kommunizieren“ müsse (der begriffsstutzige Wähler würde es dann bei der nächsten Wahl schon richtig machen). Nach zwei Jahrzehnten des Herumdilettierens an einem gordischen Knoten dürfte einem Großteil des geneigten Publikums der Glaube abhanden gekommen sein, dass die EU (oder welche Bundesregierung auch immer) es „kann“.
Auch wenn Ihre Einwände (ganz oder teilweise) tragen, wollen wir festhalten, dass die Nichtabstimmung mit den europäischen Partnern ein Skandal ist, wie von Herrn Mayer festgestellt. Wäre bei derart weitreichenden Entscheidungen nicht zumindest eine Video-Schalte der Innenminister zumutbar gewesen?
Laut ARD-DeutschlandTREND sind 77 Prozent der Befragten aktuell der Meinung, es brauche eine grundsätzlich andere Asyl- und Flüchtlingspolitik, damit weniger Menschen zu uns kommen. Wenn sich diese Meinung dauerhaft verfestigen sollte und es in anderen EU-Staaten ähnlich aussehen sollte, dann wird es bei Wahlen nicht mehr heißen „It’s the economy, stupid!“, sondern „It’s the economy and the migration, stupid!“. Ein zivilisatorischer Fortschritt, der bestehende Interessensgegensätze zwischen den Staaten in der europäischen Rechtsgemeinschaft geordnet in Verfahren kanalisiert, ist gut und schön. Wenn die geordnete Kanalisierung aber zu Ergebnissen führt, die dauerhaft in Widerspruch zum Willen einer Mehrheit der Wähler in der EU steht, darf man auf die daraus resultierenden politischen Verhältnisse gespannt sein. Dann geht es nicht mehr darum, ob die Nichtabstimmung mit den europäischen Partnern, die sich im Übrigen auch nicht abstimmen, ein Skandal ist.