Aufgeschoben ist nicht aufgehoben
EU-Verordnungsvorschlag zur grundrechtswidrigen Chatkontrolle vorerst vom Tisch
Kaum ein digitalpolitisches EU-Vorhaben ist in der deutschen Fachöffentlichkeit je auf so einhellige Kritik gestoßen wie der Verordnungsentwurf zur Festlegung von Vorschriften zur Prävention und Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern, besser bekannt unter dem Schlagwort Chatkontrolle. Der Plan der EU-Kommission, verdachtsunabhängig jegliche private Kommunikation über Messenger-Dienste zu durchleuchten und dafür sogar die Verschlüsselung durch sogenanntes Client-Side-Scanning zu umgehen, ist mit dem Recht auf Privatsphäre (Art. 7 EU-Grundrechtecharta) und dem Schutz personenbezogener Daten (Art. 8 EU-Grundrechtecharta) offensichtlich unvereinbar. Das Europaparlament hat sich schon früh auf ein Verhandlungsmandat geeinigt, das der Chatkontrolle eine Absage erteilt. Auch die Bundesregierung lehnt eine Aufweichung der Ende-zu-Ende-Verschlüsselung ab. Der Versuch der belgischen Ratspräsidentschaft, ein Verhandlungsmandat für die Umsetzung der umstrittenen Chatkontrolle-Verordnung zu erzielen, ist letzte Woche unter anderem am Widerstand Deutschlands gescheitert.
Das sind gute Nachrichten für die Grundrechte, doch trotz der Umwälzungen durch die Europawahl ist es noch zu früh für eine Entwarnung. So fällt der Protest gegen die Chatkontrolle in vielen anderen Mitgliedstaaten weitaus leiser aus. Der belgischen Ratspräsidentschaft wäre es beinahe gelungen, eine qualifizierte Mehrheit für ein Verhandlungsmandat zu erringen, das trotz einiger kosmetischer Veränderungen am Client-Side-Scanning festgehalten hätte. Ein offener Brief von europäischen und nationalen Abgeordneten, der den Rat zur Ablehnung der Chatkontrolle aufruft, enthält auffällig viele Unterschriften aus Deutschland.
Alter Wein in neuen Schläuchen
Für den 19. Juni 2024 hatte die belgische Ratspräsidentschaft eine Abstimmung über ihren Vorschlag angesetzt. Vordergründig enthielt dieser eine Zusicherung, Ende-zu-Ende-Verschlüsselung nicht zu unterminieren (Art. 1 Abs. (5)). Vorrang vor dieser Regelung hätte jedoch weiterhin die Verpflichtung von Messenger-Diensten, Technologien zum Client-Side-Scanning, also der Durchleuchtung privater Nachrichten vor deren Versendung zu betreiben (Art. 10a). Gestützt auf eine behördliche Aufdeckungsanordnung sollten Messenger von ihren Nutzer*innen die Zustimmung einholen, deren Nachrichten auf bekannte oder unbekannte Darstellungen sexueller Gewalt gegen Kinder zu durchleuchten. Von Freiwilligkeit kann dabei aber keine Rede sein, denn nach den Plänen der Belgier müssten Messenger die Möglichkeit zum Verschicken von Bildern, Videos und URLs infolge einer Aufdeckungsanordnung schlichtweg abschalten, wenn Nutzer*innen der Überwachung ihrer Nachrichten nicht zustimmten (Art. 10 (5)). Entsprechend vernichtend fiel die Kritik an dem Vorschlag aus der IT-Sicherheitsbranche aus. Die Chefin des Messenger-Dienstes Signal bezeichnete ihn als „alten Wein aus neuen Schläuchen“ und warnte davor, dass Drittstaaten solch mutwillig herbeigeführte Sicherheitslücken ausnutzen könnten.
Nachdem die Bundesregierung kurz vor der entscheidenden Sitzung angekündigt hatte, gegen den belgischen Vorschlag zu stimmen, nahm Belgien die Chatkontrolle kurzfristig von der Tagesordnung des Ausschuss der Ständigen Vertreter. Zwar hatten nicht alle Mitgliedstaaten ihre Position öffentlich gemacht, doch es ist davon auszugehen, dass Belgien keine Aussicht auf eine qualifizierte Mehrheit für das Verhandlungsmandat hatte. Damit hat die amtierende Ratspräsidentschaft ihre Chance vertan, den Weg für Trilogverhandlungen zwischen Parlament, Rat und Kommission zur Chatkontrolle frei zu machen. Für die betroffenen Grundrechte sind das durchaus gute Nachrichten.
Vorstoß vorerst gescheitert
In Brüssel werden derweil die Karten neu gemischt. Zum ersten Juli übernimmt Ungarn die Ratspräsidentschaft von Belgien. In ihrem Präsidentschaftsprogramm verspricht sie zwar, „die Arbeit für eine langfristige gesetzgeberische Lösung zur Prävention und Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern online fortzusetzen“ (S. 22), aber ob ausgerechnet die rechtsradikale Fidesz-Regierung das diplomatische Geschick beweisen wird, die entgegengesetzten Positionen im Rat hinter einem Kompromiss zu vereinen, erscheint fraglich. Bisher spricht das Motto der ungarischen Ratspräsidentschaft „Make Europe Great Again“ und die unverhohlene Kritik an europäischen Rechtsstaatlichkeitsmechanismen in ihrem Präsidentschaftsprogramm eher dafür, dass Ungarn mehr durch Provokation als durch Fleiß bei der Bearbeitung liegengebliebener Gesetzgebungsvorhaben auffallen wird.
Blick in die Zukunft
Auch Kommission und Parlament müssen sich nach der Europawahl neu aufstellen – mit ungewissen Folgen für die Chatkontrolle. Denn anders als in der Bundespolitik gilt in der EU kein Diskontinuitätsprinzip: Unvollendete Gesetzgebungsverfahren werden vom neuen Europaparlament mit dem Rat weiter verhandelt, solange die neue EU-Kommission den Vorschlag nicht zurückzieht – was in der Praxis äußerst selten vorkommt. Die glühendste Verfechterin des Kommissionsvorschlags, die schwedische EU-Innenkommissarin Ylva Johannson, wird zwar aller Wahrscheinlichkeit nach nicht mehr mit dem Thema betraut sein, denn Johannsons Sozialdemokraten stellen seit 2022 nicht mehr die schwedische Regierung und haben damit kein Vorschlagsrecht für die neue EU-Kommission. Doch klar ist aufgrund der Erfahrungen im Rat auch, dass eine (wenn auch nicht qualifizierte) Mehrheit der nationalen Regierungen grundsätzlich hinter der Chatkontrolle steht. Spanien und Irland hatten sogar noch weitergehende Maßnahmen gefordert. Wer in Zukunft an der Spitze der EU-Innendirektion DG Home stehen wird, ist noch unklar. Der Wechsel wird aber nicht unbedingt dazu führen, dass die EU-Kommission ihr Vorhaben der Chatkontrolle künftig mit weniger Engagement vorantreibt.
Die grundrechtsfreundliche Verhandlungsposition des Europaparlaments gilt auch nach der Europawahl weiter, bei der die konservativen und rechtsextremen Fraktionen an Gewicht gewonnen haben. Der Berichterstatter für das Vorhaben, Javier Zarzalejos von der EVP-Fraktion, wurde wiedergewählt, doch zahlreiche Mitglieder seines Verhandlungsteams und prominente Kritiker*innen der Chatkontrolle wie Patrick Breyer (Piratenpartei) oder Cornelia Ernst (Die Linke) werden dem neuen Europaparlament nicht mehr angehören. Sollte der Rat seine Differenzen überwinden und in Trilogverhandlungen über die Chatkontrolle einsteigen, ist also offen, wie engagiert sich das neue Parlament für die Vertraulichkeit der Kommunikation und das Recht auf Verschlüsselung einsetzen wird.
Wirksamkeit der Zivilgesellschaft
Die Erfahrungen der letzten Legislatur haben gezeigt, dass engagierte wissenschaftliche Auseinandersetzung und Kritik aus der Zivilgesellschaft durchaus in der Lage sind, geplante Grundrechtseingriffe zumindest vorerst ins Stocken zu bringen. Dass die Bundesregierung an ihrem Nein zur Chatkontrolle festgehalten hat, ist sicherlich auch dieser intensiven öffentlichen Begleitung des Verfahrens zu verdanken. Doch um die Chatkontrolle langfristig abzuwenden, muss die Kritik auch außerhalb des deutschsprachigen Raums lauter werden, um eine europäische Mehrheit gegen die Chatkontrolle zu sichern.