03 November 2023

Bekenntnisdruck

Darf ich Ihnen ein kleines Rätsel aufgeben? Von wem stammt das folgende Zitat?

Die hier lebenden Muslime haben Anspruch auf Schutz vor rechtsextremer Gewalt – zurecht. Wenn sie angegriffen werden, muss dieser Anspruch eingelöst werden. Und das gleiche müssen sie jetzt einlösen, wenn Jüdinnen und Juden angegriffen werden. Sie müssen sich klipp und klar vom Antisemitismus distanzieren, um nicht ihren eigenen Anspruch auf Toleranz zu unterlaufen.

Interessantes Argument, nicht wahr? Der “Anspruch auf Schutz vor rechtsextremer Gewalt” der “hier lebenden Muslime” wird hier in einen merkwürdig zweideutigen Zusammenhang mit der Erfüllung eines Gegenanspruchs gestellt. Sie müssen etwas tun, um ihren eigenen Anspruch jedenfalls auf Toleranz, wenn nicht gar auf Schutz nicht aufs Spiel zu setzen. Sie, die “hier lebenden Muslime”, gehören der nationalen Schicksalsgemeinschaft der Holocaust-Erben nicht natürlicherweise an, bleiben immer ein bisschen verdächtig, ihre Loyalität zur bundesdeutschen Staatsräson immer ein bisschen zweifelhaft. Weshalb sie sich bekennen müssen. Nicht nur pflichtschuldig, nicht mit gekreuzten Fingern hinter dem Rücken, nicht verunklart durch irgendwelche postkolonialen Kontexte und Klügeleien, sondern ohne Wenn und Aber, “klipp und klar”. Wer diesen Anspruch nicht erfüllt, wer da noch Raum für Zweifel und Fragen lässt, “unterläuft” damit den “eigenen Anspruch auf  Toleranz”.

Um das Rätsel aufzulösen: Es war Robert Habeck, der grüne Vizekanzler, der das gesagt hat in seiner viel bejubelten Videorede zu “Israel und Antisemitismus”. Die Debatte zu entwirren hat Habeck sich vorgenommen, und in der Tat schafft seine Rede in befreiender Weise Klarheit darüber, dass jüdisches Leben in Deutschland jeden Schutz bekommen muss, den sie benötigt. Die zitierte Passage sorgt bei mir jedenfalls ehrlich gesagt aber nicht für Ent-, sondern für Verwirrung.

Dass es unter den in Deutschland lebenden Muslim*innen knallharte Antisemit*innen in großer Zahl gibt und dass sie die Sicherheit der Jüd*innen nicht nur in Deutschland in unerträglicher Weise bedrohen, ist mir völlig klar. Ebenso die vielen Fingerzeige auf Israel, die in Wahrheit als Relativierungen oder gar Legitimierungen des Terrors gemeint sind und auch so verstanden werden. Dass es unter den vielen verschiedenen Islamverbänden nicht wenige gab und gibt, die den Hamas-Terror nicht explizit verurteilen wollen, ist mir genauso bekannt wie ihr Mangel an Repräsentativität. Das weiß ich alles.

Was Habeck von den Muslimen fordert, ist nicht bloß eine Distanzierung von Hamas- und anderem Terror oder überhaupt von konkreten Taten und Vorgängen, sondern eine Distanzierung vom Antisemitismus insgesamt, und zwar, aller Unschärfe und Umstrittenheit dieses Begriffs gerade in seiner auf Israel bezogenen Dimension zum Trotz, “klipp und klar”: Bekenne dich! Werde eindeutig! Nimm uns den Zweifel, auf welcher Seite du stehst, wenn du nicht deinen Anspruch auf unsere Toleranz aufs Spiel setzen willst!

Es ist der Vizekanzler, der diese Forderung artikuliert. Es ist der Staat. Er fordert die Muslime, die Migranten, auf, sich klipp und klar zu erklären und zu bekennen zu seiner Räson. Aber so ganz können sie ihn nie zufrieden stellen. Wann ist das Bekenntnis “klipp und klar” genug? Sind da nicht noch lauter ex- oder implizite Vorbehalte? Sagen die das nicht bloß, um sich ihren Anspruch auf unsere Toleranz zu erwerben? Meinen die das wirklich? Ein Rest von Zweifel an der Loyalität dieser Migranten, die nicht zu Mitbürgern werden sollen, sondern nur „hier lebenden Muslime“ sein dürfen, bleibt immer. Das ist ja auch ganz nützlich, weil er den qua geteiltem Schicksal Zugehörigen der Mitbürgergemeinschaft ermöglicht, sich einander um so näher, homogener und ihrer Identität gewisser zu fühlen.

Wenn das so ist: Wie sicher können sich Jüdinnen und Juden in einem Land fühlen, dessen Vizekanzler unter dem jubelnden Beifall des allergrößten Teils der öffentlichen Meinung gegenüber einer vulnerablen Minderheit mit solchen Argumentationsfiguren operiert?

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Die Woche auf dem Verfassungsblog

DÁNIEL KARSAI ist ein ungarischer Menschenrechtsanwalt, der an ALS erkrankt ist, einer unheilbaren Nervenkrankheit, die zu einer kompletten Muskellähmung und am Ende zu einem Tod durch Ersticken führt. In Ungarn ist jede legale Möglichkeit im In- oder Ausland, seinem Leben selbstbestimmt ein Ende zu setzen, ausgeschlossen. Dagegen hat Karsai vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte geklagt. Sein Blogpost, in dem er seine Argumente schildert, gehört zum Eindrucksvollsten, was ich seit langem gelesen habe.

Ein frisch gewählter AfD-Abgeordneter in Bayern ist kurz vor der konstiutierenden Sitzung des Landtags verhaftet worden. Welch befremdliches Staatsverständnis die AfD in ihrem Versuch, hiergegen gerichtlich vorzugehen, an den Tag gelegt hat, untersucht KYRILL-ALEXANDER SCHWARZ.

Der Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) bekommt nach der Schlesinger-Affäre seinen Staatsvertrag novelliert. TOBIAS MAST und WOLFGANG SCHULZ melden ernste verfassungsrechtliche Bedenken gegen den Entwurf an.

Verstößt die Beschlagnahme vertraulich geführter Interviews mit inhaftierten Islamisten durch die Staatsanwaltschaft gegen das Grundrecht auf Forschungsfreiheit? Das OLG München konnte 2020 keinen Verstoß erkennen. Das Bundesverfassungsgericht hat jetzt die Beschwerde des betroffenen Professors zwar als unzulässig abgelehnt, aber trotzdem deutliche Worte zu dem Vorgang gefunden. KIRA KOETHE sieht das Gewicht der Forschungsfreiheit im Strafprozess gestärkt.

Vor 30 Jahren wurde das Asylbewerberleistungsgesetz aus dem allgemeinen Sozialrecht ausgegliedert. Gleichheitswidriges Sonderrecht? FREDERIC VON HARBOU sieht auch und gerade nach 30 Jahren gute Gründe, warum es das ist.

Dass es im Aufenthaltsrecht angesichts der hohen Zahl ausreisepflichtiger Ausländer*innen ein “Vollzugsdefizit” gibt, wird viel beklagt. Wenn das einseitig-hoheitliche Durchsetzen des Aufenthaltsrechts nicht funktioniert, warum es dann nicht mit kooperativeren Mitteln versuchen? JONAS WIESCHOLLEK macht einen Vorschlag, wie das Defizit durch individuelle Integrationsvereinbarungen mit den Migrant*innen behoben werden könnte.

Ein Teil der Unterstützung der EU für die Ukraine ist auch der Stärkung der rechtsstaatlichen Strukturen gewidmet, und welche das sind, beleuchtet RAPHAEL OIDTMANN.

Die laufende EU-Gesetzgebung zur Regulierung von politischer Werbung und Wahlkampffinanzierung kommentiert MALGORZATA KOZAK vor dem Hintergrund der Wahlen in Polen.

Wenn der Machtwechsel in Polen vollzogen ist, wird auch der Grund für das Artikel-7-Verfahren wegen der Demontage des Rechtsstaats über kurz oder lang wegfallen. Wie kommt man aus diesem Verfahren wieder heraus? Das haben sich CHRISTIAN BREITLER und LORIN-JOHANNES WAGNER genauer angeschaut.

In der Türkei wurden in den letzten Jahren mehr als 100.000 Menschen strafrechtlich verfolgt, weil sie eine App auf ihrem Handy hatten, mit der die angeblich für den Putsch 2016 verantwortliche Gülen-Bewegung kommunizierte. Jetzt hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte dies für konventionswidrig erklärt. ALI YILDIZ ist froh über das Urteil, aber nicht recht zufrieden mit der Begründung.

Das einst so hoch angesehene Verfassungsgericht von Indonesien muss um seine Glaubwürdigkeit fürchten, seit sein Präsident die Tochter des Staatspräsidenten geheiratet hat. Jetzt nährt ein Urteil, wonach das Mindestalter für das Präsidentenamt von 40 verfassungswidrig ist und damit der 36-jährige Präsidentensohn für das Amt des Vizepräsidenten kandidieren kann, neue Zweifel an der Unabhängigkeit des Gerichts. MOHAMMAD IBRAHIM analysiert die Entscheidung.

Zuletzt: das Blogsymposium zur Regulierung von Sexarbeit in Deutschland geht weiter mit Beiträgen von RONJA WESTERMEYER, MARGARETE VON GALEN, SHARI GAFFRON, TERESA KATHARINA HARRER und NIKOLAUS EISENTRAUT.

Das ist alles für heute. Ihnen alles Gute, Kopf hoch und bis nächste Woche!

Ihr

Max Steinbeis


SUGGESTED CITATION  Steinbeis, Maximilian: Bekenntnisdruck, VerfBlog, 2023/11/03, https://verfassungsblog.de/bekenntnisdruck/, DOI: 10.59704/e88aca2eb618dd4c.

36 Comments

  1. Said Kirmani Sat 4 Nov 2023 at 10:56 - Reply

    Das Habeck Zitat muss man vor dem Hintergrund der in Deutschland vorherrschenden Antisemitismus Definition lesen. Letztere schließt auch israelkritische Positionen ein, womit Muslimen bzw. Palästinensern ihre Rechte nicht nur unter dem Vorbehalt eines selbstverständlichen Anti-Antisemitismus gewährt werden, sondern effektiv unter dem Vorbehalt eines politischen Mäßigungsgebots bei Kritik an Israel.

    Dass Deutsche und Europäer angesichts der Verbrechen an den Juden in Europa eine gewisse Mäßigung an den Tag legen wollen und gegenüber ihrer eigenen Israelkritik den Verdacht eines verdeckten Antisemitismus hegen, mag wegen ihrem historischen Täterstatus zumindest psychologisch nachvollziehbar sein. Dass sie diese Logik auf Muslime und Palästinenser übertragen, die mit diesem Täterstatus nichts zu tun haben und Israel aufgrund ihrer ganz eigenen Geschichte kritisieren, ist jedoch nichts anderes als Palästinenser für die europäischen Taten bluten zu lassen. Andere büßen zu lassen spricht allerdings nicht für ein großes Schuldbewusstsein, was sich auch in Habecks Zitat spiegelt, wenn er gerade den Schutz vor Rechtsextremen und Intoleranz seitens Rechter und Rechtsextremer unter Vorbehalt stellt, d.h. den Schutz vor den eigentlichen ideologischen Nachfahren der Täter der Judenverfolgung.

    • Frank Mon 6 Nov 2023 at 08:27 - Reply

      Public-Relation-Menschen sagen gerne, das Unausgesprochene sei der entscheidende Bestandteil eine Botschaft. Klasse, wie präzise Sie die Prämissen in Habecks Rede (und damit den Grund ihrer begeisterten Rezeption) auf den Punkt bringen. Sollte man in Stein meißeln.

      • Kaffeesatzleser Mon 6 Nov 2023 at 09:07 - Reply

        Es geht nicht eine Sekunde lang um Kritik an der israelischen Regierung. Es geht hier um den knallharten Antisemitismus, wie er sich in vielen Worten und Taten in Europa und anderswo wieder auslebt. Die Existenz dieses Antisemitismus wird ja auch von M. Steinbeis anerkannt. Für diesen Antisemitismus gibt es keinerlei Rechtfertigung und der hier gemachte Versuch, ihn durch Verweis auf eine angebliche besondere Sensibilität in Deutschland oder Europa zu legitimieren geht gar nicht.

        • Said Kirmani Tue 7 Nov 2023 at 15:12 - Reply

          Die Existenz dieses Antisemitismus und eine klare Kante dagegen, habe ich als selbstverständlich bezeichnet.

          Nicht mal Habeck-Kritik ist mit einem pro-palästinenschen Touch ohne Backlash möglich.

          Vielleicht sprechen Sie mal mit pro-palästinenschen Aktivisten, Leuten die Demos anmelden oder in der Presse fertig gemacht werden, weil sie es wagen Israel Rechtsbrüche im Gazastreifen vorzuwerfen. Letzteres ist eine völlig legitime Position und beispielsweise in unserer Lokalpresse gerade der Grund nach Forderungen, die Demo für den Gaza-Streifen nächste Woche zu verbieten. Und genau in diesen Kontext setze ich Habecks Äußerungen.

    • Philipp Mützel Mon 6 Nov 2023 at 15:19 - Reply

      Ihre Argumentation erfasst die Problemlage m.E. nicht vollständig.

      1. In dem Moment, in dem aus Palästina und anderen muslimisch geprägten Staaten stammende Menschen die deutsche Staatsbürgerschaft erlangen (um die sie sich im Regelfall wohl selbst bemüht haben), teilen sie das historische Gesamtschicksal Deutschlands, dessen Verantwortung und damit auch dessen besondere Beziehung zu Israel.
      2. Es geht um Versammlungen in Deutschland. Es ist klar, dass sich die Diskussion um derartige Versammlungen nach dem historischen, sozialen und sonstigen Umfeld in Deutschland ausrichten und dass die gleichen Maßstäbe angelegt werden, wie an alle anderen Demonstrationen gleichen Inhalts – wer auch immer ihre Teilnehmer sind.

      • Said Kirmani Tue 7 Nov 2023 at 15:22 - Reply

        Dem stimme ich in gewissen Grenzen tatsächlich zu. Das können Sie und ich so sehen aber es ist kein Skandal, wenn jemand nicht so empfindet. Es betrifft nämlich zumindest nicht die Palästinenser im Gaza-Streifen, weshalb man für diese Eintreten kann und ihre Perspektive auch als Deutscher teilen darf.

  2. Bayrischer Schwabe Sat 4 Nov 2023 at 11:11 - Reply

    Ich finde, Ihre Argumentation greift hier zu kurz und würdigt das Zitat aus der Rede von Herrn Habeck nicht in seinem Gesamtkontext. Es geht ihm doch nicht darum, muslimischen Menschen den Anspruch auf Schutz vor rechtsextremer Gewalt abzusprechen. An keiner Stelle spricht er davon, dass man diesen Anspruch – durch welche Handlung auch immer – verlieren könnte. Ich verstehe ihn so, dass er davon spricht, dass dieser berechtigte Anspruch moralisch unterlaufen wird, wenn der Anspruch jüdischer Menschen auf Schutz vor antisemitischer Gewalt nicht ebenso anerkannt wird. Daran kann ich nichts falsches erkennen und auch keine Bloßstellung muslimischer Menschen, wie Sie es im letzten Absatz insinuieren. Habeck stellt zudem – anders als viele andere Politiker in den letzten Wochen – keine Forderungen nach Strafrechtsverschärfungen, er verdeutlicht lediglich die Rechtslage und zeigt auf, welche Folgen die Begehung antisemitischer Straftaten hat. Auch hier sehe ich keine Prangerwirkung und keinen Versuch, abzulenken oder blame-shifting zu betreiben.

    Habecks Rede finde ich in allen Abstufungen klar und differenziert. Bei Ihnen hingegen wird mir nicht klar, welchen Anstoß Sie an der Forderung nehmen, sich von jeder Art von Antisemitismus zu differenzieren. Das fordern wir gesellschaftlich doch von allen Mitgliedern dieser Gesellschaft ein: Zeitungen, die antisemitische Karikaturen drucken, werden deswegen ebenso zurecht kritisiert wie Germanisten, die in Podcasts antisemitische Stereotype bedienen. Wir erwarten von Menschen, die sich öffentlich äußern, dass sie dies nicht in antisemitischer – und auch nicht in antimuslimischer – Weise tun. Das halte ich für eine vollkommen klare, berechtigte und auch notwendige moralische (und so verstehe ich auch Robert Habeck) Forderung, die, ganz einfach, gegenüber allen Menschen besteht, und die Habeck auch universal formuliert.

    Ihre Kritik daran finde ich hingegen weniger klar.

    • Johannes K. Mon 6 Nov 2023 at 13:49 - Reply

      “Bei Ihnen hingegen wird mir nicht klar, welchen Anstoß Sie an der Forderung nehmen, sich von jeder Art von Antisemitismus zu differenzieren. Das fordern wir gesellschaftlich doch von allen Mitgliedern dieser Gesellschaft ein”

      Habecks Rede deutet darauf hin, dass diese Forderung nicht an alle Mitglieder der Gesellschaft in der gleichen Qualität gestellt wird. Für “die hier lebenden Muslime” gilt die Pflicht, sich aktiv vom Antisemitismus zu distanzieren. Aber diese Forderung spricht er nicht im selben Maße für alle aus. Es scheint, dass es für Nicht-Muslime ausreicht, schlicht nicht anti-semitisch zu sein. Aber es besteht ein Unterschied zwischen der Forderung nach einer aktiven Distanzierung und der Forderung nach einem passiven Unterlassen. Sie schreiben richtig in Ihrem Kommentar: “Wir erwarten von Menschen, die sich öffentlich äußern, dass sie dies nicht in antisemitischer – und auch nicht in antimuslimischer – Weise tun.” Aber Habeck erwartet von den hier lebenden Muslimen mehr als bloß das.

      • Christian Fri 10 Nov 2023 at 13:59 - Reply

        “Habecks Rede deutet darauf hin, dass diese Forderung nicht an alle Mitglieder der Gesellschaft in der gleichen Qualität gestellt wird. Für „die hier lebenden Muslime“ gilt die Pflicht, sich aktiv vom Antisemitismus zu distanzieren. Aber diese Forderung spricht er nicht im selben Maße für alle aus. Es scheint, dass es für Nicht-Muslime ausreicht, schlicht nicht anti-semitisch zu sein.”

        Das lässt sich der Rede von Habeck durchaus so entnehmen und wäre dann auch richtig so. Die beiden größten Feindgruppen jüdischen Lebens, Deutsche und Muslime, müssen sich aktiv vom Antisemitismus distanzieren, während es für alle anderen genügt, nicht antisemitisch zu sein.

        Wir Deutschen bzw. unsere Vorfahren haben das größte Verbrechen der jüdischen Geschichte an Jüdinnen und Juden verübt und müssen deshalb – zu Recht – jederzeit gegen Antisemitismus eintreten (uns also aktiv vom Antisemitismus distanzieren). Daher ist die Existenz Israels die vielbeschworene (aber viel zu selten ausgelebte) Staatsräson der Bundesrepublik. Aus den Taten der Vergangenheit folgt hier eine präsente Handlungspflicht.

        Muslimen sind momentan die größte Gefahr jüdischen Lebens, nicht nur im Nahen Osten, sondern auch hier in Deutschland. Daher folgt hier nicht primär aus der Vergangenheit, sondern aus der Gegenwart eine Handlungspflicht.

        Für alle anderen, die keine momentane Bedrohung oder verbrecherische Vergangenheit, an und für Jüdinnen und Juden existiert, besteht daher keine Handlungspflicht, sondern nur die Verpflichtung nicht antisemitisch zu sein.

        Im Kern handelt es sich hierbei um einen Gedanken der Ingerenz.

  3. Kaffeesatzleser Sat 4 Nov 2023 at 12:17 - Reply

    Die Rede Habecks ist vor allem der Versuch, ein bisschen besser dazustehen, nachdem das Kind in den Brunnen gefallen ist und sich das vollständige Versagen der Migrationspolitik der letzten Jahre herausgestellt hat.
    Spätestens seit 2015 haben die deutschen Eliten eine Migrationspolitik betrieben, die völlig blind war für die realen Konsequenzen ihres eigenen Handelns. Wesentlicher Movens war ein Gefühl moralischer Überlegenheit der Eliten in Politik, Medien und Hochschulen, verbunden mit einer kaum verhüllten Verachtung für die, die irgendwelche Skepsis zeigten.
    Keine Partei hat das so sehr vertreten wie die Grünen. Man erinnere sich an die leuchtenden Augen von Frau Göring Eckardt, die sich darauf freute, dass sich das Land verändern würde. Man erinnere sich an den törichten Satz, dem Land würden Menschen „geschenkt“.
    Auch Juristen haben ordentlich mitgewirkt. Gerade hier auf dem Verfassungsblog kann man diese Debatten gut nachvollziehen. Erinnert sei an die Beiträge von Daniel Thym, dessen differenzierte Auffassungen (weit entfernt von wirklich konservativen Positionen) nicht wenigen schon viel zu weit gingen.
    Ein Beispiel: zur Einführung eines Tatbestandsmerkmals „Einordnung in die Deutschen Lebensverhältnisse“ wurde eine Erklärung veröffentlicht, die hier vom „völkischen Nationalismus“ sprach (siehe hier: https://neuedeutsche.org/de/aufruf/staatsangehoerigkeit/). Mit anderen Worten: alleine der Gedanke, dass der Eintritt in die deutsche Staatsangehörigkeit möglicherweise damit verbunden sein könnte, sich hier einfügen zu können, ist ein nationalsozialistischer Gedanke. Man soll ruhig noch mal nachlesen, wer das alles unterschrieben hat.
    Und nun? Nun – die Skeptiker hatten recht. Es gibt (!) kulturelle, soziale, politische Grenzen und Bedingungen der Zuwanderung. Maximilian Steinbeißer schreibt oben wie folgt (natürlich vorbildlich gegendert!):
    „ Dass es unter den in Deutschland lebenden Muslim*innen knallharte Antisemit*innen in großer Zahl gibt und dass sie die Sicherheit der Jüd*innen nicht nur in Deutschland in unerträglicher Weise bedrohen, ist mir völlig klar. Ebenso die vielen Fingerzeige auf Israel, die in Wahrheit als Relativierungen oder gar Legitimierungen des Terrors gemeint sind und auch so verstanden werden. Dass es unter den vielen verschiedenen Islamverbänden nicht wenige gab und gibt, die den Hamas-Terror nicht explizit verurteilen wollen, ist mir genauso bekannt wie ihr Mangel an Repräsentativität. Das weiß ich alles.“
    „Knallharte Antisemiten in großer Zahl“? Die Sicherheit von Juden in Deutschland und anderswo unerträglich gefährdet? Wie konnte das nur kommen? Kann irgend jemand wirklich überrascht sein? Und was folgt denn aus dieser Feststellung – außer Beckmesserei an Harbeck, der 10 nach 12 etwas zu ändern versucht, um nicht moralisch völlig nackt da zu stehen?
    Wie geht es weiter? Nun – ein Blick nach Frankreich zeigt es uns.
    Die deutsche Politik ist in den letzten Jahren von einer Haltung geprägt gewesen, die vor allem nach der eigentlichen Befindlichkeit fragt: Ich will etwas gutes, also wird es gut. Kluge Politik aber fragt sich nach den Folgen des eigenen Handelns, nicht nach der eigenen schönen Seele.

    • Maria Anna Dewes Tue 7 Nov 2023 at 21:35 - Reply

      Ihr Kommentar ist nicht gerade hilfreich im Kontext des Editorials. Weiter halte Ihre Sichtweise für absolut kurzsichtig.
      1. Deal: “Wir” und ganz Europa nehmen ab sofort keinen einzigen Migranten mehr auf. Im Gegenzug verzichten wir auch auf alle Rohstoffe, die aus dem globalen Süden kommen, auf die gesamte Arbeitskraft in prekären Verhältnissen, die im globalen Süden dafür sorgt, dass deutsche, europäische und multilaterale Unternehmen uns hier ihre Produkte preiswert verkaufen können und “wir” unsere Definition von Wohlstand verwirklichen können. Dann gibt es eben keine Blumen zu Weihnachten, keine billige – oder überhaupt keine- Schokolade, keine Früchte und Gemüse – exotisch oder nicht- wahrscheinlich keine Autos und keine Computer, keinen Modeschmuck, oder Sie basteln selbst. Die Liste ist endlos. Informieren Sie sich!

      Entweder verbessert sich die Lebenssituation der Menschen im globalen Süden mit westlicher Hilfe oder sie werden immer dahin gehen, wo es ihnen besser geht und das ist u.a. Europa und daran wird kein Gesetz und keine Grenze etwas ändern können.

      2. Wo immer autokratische, extrem rechte, menschen- und besonders frauenfeindliche Regierungen agieren, gibt es Krieg. Also passen wir auf, dass in Europa die Rechte und extreme Rechte nicht zu stark wird, sonst ist es hier mit dem Frieden auch vorbei.

      3. Ich habe Habecks Rede so verstanden, dass jede/r in der BRD ein Recht auf ein 100% sicheres Leben hat. Das ist absolut richtig so.

  4. Weichtier Sat 4 Nov 2023 at 12:34 - Reply

    Zu den Ausführungen hinsichtlich des zitierten Absatzes aus der Rede von Robert Habeck habe ich an vielen Stellen genickt. Mit dem letzten Absatz fremdel ich allerdings:
    „Wenn das so ist: Wie sicher können sich Jüdinnen und Juden in einem Land fühlen, dessen Vizekanzler unter dem jubelnden Beifall des allergrößten Teils der öffentlichen Meinung gegenüber einer vulnerablen Minderheit mit solchen Argumentationsfiguren operiert?“

    Auf der Webseite des BVerfG habe ich Entscheidungen überflogen, die bei dem Suchwort „vulnerab*“ angezeigt werden. Die Entscheidungen betrafen im wesentlichen vulnerable Personengruppen in Zusammenhang mit COVID-19. Gibt es eigentlich Entscheidungen des BVerfG, in denen es in den Entscheidungsbegründungen darauf ankam, dass der Grundrechtsträger einer Minderheit angehörte, die „vulnerabel“ ist, und die anders ausgefallen wäre, wenn er zwar auch vulnerabel gewesen wäre, aber nicht einer Minderheit angehört hätte. Oder ist „Vulnerabilität“ aus verfassungsrechtlicher Sicht ein Merkmal, dass originär nur Gruppen zukommt, aber nicht einzelnen Grundrechtsträgern? Mein Eindruck ist, dass das BVerfG in seinen Entscheidungsbegründungen eher einen Bogen um „vulnerable Minderheiten“ macht.

  5. Hubert Beyerle Sat 4 Nov 2023 at 13:37 - Reply

    Wie wohltuend: Etwas Wasser in den Wein der allgemeinen Begeisterung. Da müssen doch manche wirklich gleich Churchill, Martin Luther King und Kennedy bemühen, um diese Videobotschaft des Vizekanzlers einzuordnen.

    Nun gibt es noch einen weiteren Absatz in der Rede, der nicht gerade überzeugt: “Unsere Verfassung schützt und gibt Rechte, sie legt Pflichten auf, die von jedem und jeder erfüllt werden müssen. Beides kann man nicht voneinander trennen.”
    Rechte und Pflichten nicht zu trennen? Rechte also nur, wenn Pflichten? Explizit spricht das Grundgesetz bewusst nicht von Pflichten der Bürger – von kleinen Ausnahmen abgesehen. Das Grundgesetz bindet vielmehr nur den Staat und seine Gewalten an die Grundrechte, zum Schutz des Bürgers. Anders als die Weimarer Verfassung, die die Grundrechte den “Grundpflichten” gleichstellte. Dass man nach 1945 die Pflichten skeptischer sah, war ja nicht ohne Grund. Grundrechte mit Pflichten “untrennbar” zu verknüpfen, wie Habeck das nun tut, konstruiert eine Bedingtheit, die sich nicht aus der Verfassung ergibt, sondern reine politische Rhetorik ist. Es ist natürlich legitim, mit Signalbegriffen politischen Anschlusswillen zu signalisieren. Aber die Verfassung sollte man dann doch lieber raushalten, oder sich zumindest korrekt auf sie berufen. Sonst verwirrt man tatsächlich mehr, als dass man klärt.

    • Raimund Vollmer Tue 7 Nov 2023 at 00:00 - Reply

      Genau. Das ist der Sinn einer Verfassung. Sie soll den Bürger vor dem Staat schützen – und nicht umgekehrt.

    • cornelia gliem Wed 8 Nov 2023 at 16:13 - Reply

      da haben Sie recht. ich vermute, Habeck meinte hier, dass man sich nicht nur die Rosinen rauspicken kann, etwa für sich die Meinungsfreiheit pachten ohne die Freiheit der anderen zu achten etc. Aber ja, in diesem zitierten Satz ist es missverständlich gar falsch formuliert. allerdings spiegeln alle GG-REcht auch entsprechende Pflichten, ohne diese explizit zu nennen (=abgesehen mal von Art. 2 mit “soweit er nicht die Rechte anderer verletzt”): etwa gehört zur GleichbeRechtigung die implizierte Pflicht, andere gleich/berechtigt zu behandeln.

  6. Raimund Vollmer Sat 4 Nov 2023 at 16:38 - Reply

    Lieber Herr Steinbeis, wir sind verwirrt – bis in die Spitzen unserer Politik hinein. Wir wollen das Richtige sagen – und doch kann es völlig falsch verstanden werden. Wir wollen es so sagen, dass es keine Missverständnisse gibt – und denken dann prompt die Gedanken der anderen, die uns nicht missverstehen sollen. Schon der Begriff des Antisemitismus ist ja verwirrend, weil z.B. Araber auch Semiten sind.

  7. Markus Rutsche Sun 5 Nov 2023 at 15:21 - Reply

    Zur Ehrlichkeit gehört es wohl in der Tat, sich einzugestehen, dass hier sozusagen mit regierungsamtlicher Autorität ein öffentliches Misstrauensvotum gegenüber bestimmten Bevölkerungsgruppen ausgesprochen wird. D.h. es werden von staatlicher Seite in selektiver Weise Loyalitätsbekundungen gegenüber der sog. “Staatsräson” eingefordert, weil der in die betreffenden Gruppen gesetzte Vertrauensvorschuss, dessen Berechtigung der liberale Rechtsstaat natürlich als den operativen Normalfall zu unterstellen hat, offenbar nachhaltige Brüche erlitten hat. Mit Rawls gesprochen: Je „wohlgeordneter“ unsere Gesellschaft, desto höher auch das auf Erfahrung und Wohlwollen gegründete wechselseitige Vertrauen der Bürger in ihren gemeinsamen Gerechtigkeitssinn, und desto geringer umgekehrt auch die Notwendigkeit, solche expliziten Bekenntnisse überhaupt verlangen zu müssen. Mir gefällt es schon allein deshalb nicht im Entferntesten, dass es soweit kommen musste, sprich dass eine solche Rede allererst notwendig geworden ist. Andererseits gilt aber auch: Ich kann nichts prinzipiell Illiberales daran erkennen, wenn in einer Situation, in der begründete Zweifel an der Loyalität dieser Gruppen zu unserem gesellschaftlichen Wertekonsens nun einmal eingetreten sind (mit anderen Worten das Kind bereits teilweise im Brunnen liegt), zur Beschwichtigung dieser Zweifel auch ein Appell an das Senden von hierfür geeigneten Signalen ergeht. Mit Sippenhaft hat das – unter diesen spezifischen Umständen – aus meiner Sicht recht wenig zu tun, zumal hier hier ja nicht zuletzt auch ein Repräsentant des Volkes in seiner Gesamtheit spricht und nicht etwa „bloß“ ein Regierender. Bei alledem sind wir Übrigen aber natürlich auch in der Bürgerpflicht, die entsprechend qualifizierbaren Äußerungen unserer Mitbürger überhaupt als solche wahrzunehmen und sie somit, wo immer möglich, großzügig im Sinne eines solchen Bekenntnisses zu interpretieren; hier besteht sicherlich auch auf Seiten der Mehrheitsgesellschaft noch einiges an Nachholbedarf.

    • cornelia gliem Wed 8 Nov 2023 at 16:18 - Reply

      ja. klar gibt es leider immer die Tendenz, von Muslimen o.ä. Gruppen (=z.B. POCs) quasi permanent Rechtfertigungen zu erwarten. Aber in diesem Fall zeigt/e ja nun bedauerlicherweise der Kontext, dass viele Muslime tatsächlich sich extrem antisemitisch und Verfassungsfeindlich gezeigt haben! von einer Gruppe, die gerade aktiv ein Kalifat fordert, Israels Existenzrecht abspricht und von der Vernichtung der Juden schreit, kann man schon ausdrückliche Bekenntisse erwarten. Das ist unfair gegenüber allen anderen, lässt sich aber wohl derzeit nicht ändern.

  8. Molch Sun 5 Nov 2023 at 22:39 - Reply

    Es ist genau diese Art des Journalismus, die es so unerquicklich macht, in Deutschland Politiker zu sein. Man muss auf Habeck sein rhetorisches Geschick schon sehr neiden oder einen Hang zur böswilligen Interpretation haben, wenn man die hier herausgegriffene Passage derart kritisiert.

    • cornelia gliem Wed 8 Nov 2023 at 16:20 - Reply

      das möchte ich ausdrücklich nicht unterstellen; ich denke eher, dass der Autor wie viele von uns an anderer Stelle eben gerade denjenigen gegenüber, die sich besondere Mühe geben, sensible zu formulieren, besonders … aufmerksam und empfindlich sind : – ) .

  9. Johannes Mon 6 Nov 2023 at 08:45 - Reply

    Mich überzeugt dieser Artikel überhaupt nicht – er arbeitet mit (bösartigen oder nur fahrlässigen?) Unterstellungen und insinuiert Dinge, die Habeck schlicht nicht gesagt hat. Jürgen Kaube hat ebenso Recht wie der Vorkommentator Bayerischer Schwabe: https://m.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/maximilian-steinbeis-verdreht-habecks-rede-19292199.html?xtor=EREC-7-%5BFruehdenker%5D-20231106&campID=MAIL_REDNL_AUDI_OWN_na_na_na_na_na_na_na_Fruehdenker-Abo_PEM21597

    • Maximilian Steinbeis Mon 6 Nov 2023 at 08:56 - Reply

      Dass Jürgen Kaube lauter Dinge insinuiert, die ich schlicht nicht gesagt habe, ist Ihnen nicht aufgefallen?

      • Raimund Vollmer Mon 6 Nov 2023 at 23:41 - Reply

        Lieber Herr Steinbeis, so ist es mir heute morgen auch gegangen, als ich den Beitrag (Bericht, Kommentar????) von Herrn Kaube in der FAZ las. Was haben Sie ihm getan? Das war Kritik um der Kritik willen. Ich glaube, dass wir alle von der momentanen Situation so überrascht sind, weil wir das Phänomen des Antisemitismus verdrängt haben. Dabei ist schon seit Jahrzehnten bekannt, dass 20 Prozent der Bevölkerung einen latenten Antisemitismus “pflegen”. Im Grunde genommen ist die ganze Situation in der Bundesrepublik durch eine intellektuelle Hilflosigkeit gekennzeichnet. Wir müssen da verdammt viel aufarbeiten. Das machen mir auch die Kommentierungen Ihres Beitrages deutlich.

        • Maximilian Steinbeis Tue 7 Nov 2023 at 08:10 - Reply

          “Was haben Sie ihm getan?”

          Vielleicht das hier? https://verfassungsblog.de/die-fakten-wissen-wollen/

          • Bali Saygili Tue 7 Nov 2023 at 13:06

            Sehr geehrter Herr Steinbeis,
            vielleicht sollten wir alle zusammen sich von neuem an einigen Begrifflichkeit miteinander als Gesellschaft und Meinungsbilder diskutieren sowie klare Definition finden.
            Ich finde diese ganze Debatte wird immer wieder verkürzt dargestellt und auch kommuniziert – ob schriftlich oder auch mündlich.
            Mir kann seit Jahren keiner Mensch tatsächlich erklären was mit „Staatsräson“ definiert wird und das gleiche gilt auch bei dem ganzen ausgeweitete „Antisemitismus“ Debatte .
            Ich bin es echt leid wie ausgerechnet Politiker über bestimmte Debatten innerhalb der gesellschaftlichen Gruppen neue Themen wie „Migration Politik „ ausgearbeitet wissen wollen.
            Machen Sie doch mal genau darüber einen Disput sempozium..
            Ich finde das Sie genau die richtigen Fragen stellen und Menschen die in Feuilleton anders darstellen (übrigens habe ich es auch gelesen FAZ); nun das kenne ich seit Jahren in den Debatten wo Islam und Muslime vorkommen – haben wir seit Jahrzehnten die unveränderte Diskussionen.

        • cornelia gliem Wed 8 Nov 2023 at 16:22 - Reply

          intellektuelle Hilflosigkeit – ja, die sehe ich auch, gerade bei den sog. und pauschalisiert dargestellten linken Interlektuellen… es scheint wirklich schwer zu sein, die ambiguität auszuhalten, dass auch David böse Taten gegen Goliath vollbringen kann.

  10. Kaffeesatzleser Mon 6 Nov 2023 at 14:59 - Reply

    Mit seinem Urteil v. 15.6.2022 hat das BVerfG bekanntlich einen Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung der politischen Parteien darin erblickt, dass Bundeskanzlerin Merkel sich zur Wahl des Ministerpräsident in Thüringen “als Bundeskanzlerin” äußerte. Im Zusammenhang mit der Rede Habecks (die nun auf der Webseite des BMWK steht) wird nun ernsthaft diskutiert, ob diese Rede vor dem Hintergrund dieser Rechtsprechung zulässig war oder nicht.
    Wenn es noch irgend eines Beweises für die Unsinnigkeit dieser Rechtsprechung bedurft hätte – hier wird er geliefert.
    Zwar mag selbst das BVerfG die Hamas und ihre Freunde nicht ohne weiteres als schützenswerte politische Gruppe ansehen.
    Aber man sollte sich noch mal die folgenden zwei Sätze aus dem vorgenannten Urteil auf der Zunge zergehen lassen:
    “Eine Beeinträchtigung der Chancengleichheit im politischen Wettbewerb liegt daher vor, wenn Regierungsmitglieder sich am politischen Meinungskampf beteiligen und dabei auf durch das Regierungsamt eröffnete Möglichkeiten und Mittel zurückgreifen, über welche die politischen Wettbewerber nicht verfügen.” (Rn. 78). “Dem Bundeskanzler sind mit Blick auf seine besondere Stellung innerhalb der Bundesregierung und insbesondere die ihm nach Art. 65 Satz 1 GG zustehende Richtlinienkompetenz gegenständlich weitergehende Äußerungsrechte zuzugestehen als den Bundesministern, die vorrangig auf ihren jeweiligen Ressortbereich beschränkt sind” (Rn. 89).
    So wird nun ernsthaft diskutiert, ob die Äußerungen Habecks sich auf sein Ressort bezogen waren (Wirtschaft? Klima?) oder ob sich aus seiner Stellung als “Vizekanzler” etwas anderes ergibt.
    Die Rechtsprechung des BVerfG steht nicht im Einklang mit der Demokratievorstellung des GG, die es doch zu schützen vorgibt. Bundeskanzler und Bundesminister sind nach dem GG nicht politische Eunuchen, die als eine Arte Chefbeamte oder oberste Sachbearbeiter sich nicht mit Politik zu beschäftigen haben. Nein – ihre Teilnahme an der politischen Diskussion ist notwendig und richtig. Erst dadurch, dass diese Frauen und Männer möglichst frei ihre Meinung sagen (gerade auch zu politisch “strittigen” Themen) ermöglichen sie uns, den Bürgern, unsere Wahlentscheidung frei zu treffen.
    Die Rechtsprechung des BVerfG ist wirklich eine Katastrophe. Hoffentlich finden sich bald 4 (oder besser: 5) Richter in Karlsruhe, die diese Rechtsprechung beerdigen.

    • hohfeld Mon 6 Nov 2023 at 22:19 - Reply

      Unabhängig von der Überzeugungskraft der Rechtsprechungslinie, konfligieren Habecks Äußerungen offensichtlich nicht mit dem Neutralitätsgebot. Die Herabsetzung welcher Partei soll den unter Ausnutzung seiner Amtsautorität erfolgt sein? Dass das ihrem Beitrag nach aber dennoch versucht wird, zeugt davon – wie Steinbeis eindrucksvoll unter Beweis stellt – das einige den aufziehenden Islamofaschismus noch immer leugnen und/oder sogar goutieren. So war Steinbeis schnell, Würde für Palästinenser einzufordern, auf eine dezidierte Verurteilung der Anschläge wartet man weiterhin aber vergeblich. Viel mehr ergeht sich Steinbeis in Polemiken über vermeintliche Freiheitsverluste von Antisemiten und verliert dabei die Freiheit der jüdischen Bevölkerung völlig aus dem Blick. Dazu passt die völlige Verklärung der Pro-Palästina Märsche auf diesem Blog zur simplen Protestkundgabe. Auf den letzten Aufmärschen – etwa in Essen – wurden Flaggen von Terrororganisationen in großer Zahl geführt. Wie man in Anbetracht dessen sowie Rufen nach einem Genozid an der jüdischen Bevölkerung (“from the river to the sea”), noch immer zur Beurteilung als friedlich kommen kann, lässt sich wohl nur mit ausgeprägter kognitiver Dissonanz erklären.

      • Maximilian Steinbeis Mon 6 Nov 2023 at 22:37 - Reply
        • hohfeld Mon 6 Nov 2023 at 22:51 - Reply

          Schön, dass Sie meinen Beitrag noch mit Nachweisen unterlegen. Ich nehme mir heraus Sie wörtlich zu zitieren:

          “In eine Debatte über die rechtliche Bewertung der Folgen und Auswirkungen dieses Massakers einzusteigen, ohne zu allererst dieses Massaker selbst zu adressieren, erscheint inadäquat. Betrachtungen über die Rechtswidrig- bzw. Rechtfertigbarkeit (sic!) dieses Massakers anzustellen, erscheint seinerseits inadäquat: Diese Tat war ein Angriff auf die Menschenwürde. Das und nur das gibt es dazu zu sagen.”

          Alleine schon, dass eine mögliche Rechtfertigbarkeit für erwähnenswert gehalten wird, ist verabscheuenswürdig und verdeutlicht eindringlich Ihre wahre Haltung. Darüber vermag der anschließende Hinweis auf die Würde der Opfer auch nicht mehr hinwegzutäuschen, der sich in Anbetracht der Erwähnung einer Rechtfertigbarkeit wie blanker Hohn liest.

          • cornelia gliem Wed 8 Nov 2023 at 16:26

            na hier sehe ich aber bei Ihnen eine recht einseitige Interpretation des Satzes von der Rechtfertigenbarkeit der Gräueltaten… übrigens kann man Gräueltaten niemals rechtfertigen, das liegt in der Natur des Begriffs. Man kann allerdings leugnen, dass etwas Gräueltat ist (und nicht etwa Kriegshandlung, Selbstverteidigung, Notwehrexzess was auch immer)….

          • hohfeld Mon 27 Nov 2023 at 21:54

            Sie müssen sich schon entscheiden, entweder meine Deutung überzeugt nicht oder Steinbeis Aussage ist widersprüchlich.

            Wie dem auch sei, dem unbefangenen Betrachter, der den Satz nicht durch die Brille einer Hamasapologie liest, erschließt sich der abstoßende Gehalt ohne weiteres.

  11. Maximilian Steinbeis Mon 6 Nov 2023 at 22:39 - Reply
    • Markus Rutsche Tue 7 Nov 2023 at 07:38 - Reply

      Der Beitrag von Fischer zeigt doch viel eher eine für einen Juristen vielleicht nicht untypische, aber gleichwohl frappierende Unfähigkeit oder jedenfalls den Unwillen, die Rede von „Ansprüchen“, die man „unterlaufen“ (=verwirken) könne oder auch nicht, anders als lediglich in einem einklagbaren, d.h. gegebenenfalls auf dem Rechtsweg durchzusetzenden Sinne zu verstehen.

      Das ist aber – für einen ehemaligen Bundesrichter in erstaunlicher Betriebsblindheit – viel zu eng gedacht und verkennt, dass Normativität, d.h. die Möglichkeit des Gebunden- und Ermächtigtseins überhaupt, zwar im Recht durchaus seinen paradigmatischen bzw. idealtypischen Anwendungsfall* findet, aber von diesem eben keineswegs exklusiv gepachtet ist und vielmehr auch jenseits dieser Domäne schlechthin _überall _ da wirksam ist, wo sich diskursive, auf Gründe ansprechbare Wesen in Wort und Tat auf eine Welt überhaupt beziehen (d.h. im Übrigen auch jenseits bzw. noch vor aller Moral).

      Mit anderen Worten: die Rede Habecks war ihrem Modus nach sicherlich ambivalent; aber es wäre m.E. etwas engherzig, sie in einer Weise am Maßstab unserer Verfassung zu beurteilen (oder in Ihren Worten, Herr Steinbeis, „durchzusubsumieren“), als ob sie gleichsam gesprochene, performative Rechtsetzung mit der Befugnis zur Gehorsamserzwingung usw. zu sein behaupte.

      Gerecht wird der Rede m.E. nur, wer sie als im engeren Sinne _politisch_ oder meinetwegen als moralischen Appell (s.o.) begreift und entsprechend einordnet. Für einen verständigen Hörer liegt es doch, zugespitzt gesagt, auf der Hand, dass Habeck etwa mit „müssen“ (sich klipp und klar distanzieren usw.) nur „sollen“ gemeint haben kann; der erweiterte Kontext lässt doch eigentlich gar keine andere Schlussfolgerung zu. Es bediente sich letztlich ein Bundesminister seiner Freiheit zur (gewiss privilegierten) Intervention im öffentlichen Diskurs – nicht mehr, und auch nicht weniger.

      Noch einmal anders: Habeck gab keine Rechtslage wieder und behauptete auch nicht, das zu tun oder eine solche schaffen zu wollen. Vielmehr adressierte er den Bereich unseres Zusammenlebens, in dem sich Wohlverhalten eben gerade nicht erzwingen, sondern nur anempfehlen lässt und aus eigener Einsicht motiviert sein muss. Er artikulierte insofern (um an Kants Unterscheidung zu erinnern) ein bestimmtes Verständnis von bürgerlichen _Tugenden_ – sein eigenes – sowie ein Verständnis der mit diesen einhergehenden Tugendpflichten, in der Hoffnung, für beides Gehör zu finden. Mehr nicht.

      Aber wie Papst Benedikt einmal sagte: Es ist nicht prinzipiell verwunderlich, dass der Theologe überall Gott, die Physikerin überall Physik, der Mathematiker überall Mathematik am Werke sieht. Wie es scheint, verhält es sich mit der Juristerei nicht grundsätzlich anders.

      (* Siehe z.B. hier: https://sites.pitt.edu/~rbrandom/Texts/A_Hegelian_Model_of_Legal_Concept_Determ.pdf

  12. Maria Anna Dewes Tue 7 Nov 2023 at 22:10 - Reply

    “Sie müssen sich klipp und klar vom Antisemitismus distanzieren, um nicht ihren eigenen Anspruch auf Toleranz zu unterlaufen.” (Habeck)
    Habeck sagt ja nicht, dass irgendjemand in der BRD , eben auch Muslim*innen mit anti-semitischen Äusserungen ihren Anspruch auf Toleranz verwirken, sondern das sie die Idee der gegenseitigen Toleranz als gesetzliche, gesellschaftliche und politische Errungenschaft “unterlaufen” im Sinne von “in Frage stellen”. Eigentlich nicht misszuverstehen.

    “Sagen die das nicht bloß, um sich ihren Anspruch auf unsere Toleranz zu erwerben?” (Steinbeis)
    Den Anspruch auf Toleranz muss man sich in der BRD nicht erwerben, sondern den hat man – verankert im Grundgesetz. Deshalb ist dieser Satz nicht nachvollziehbar.

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