Burkaverbot: Grundrechtsschutz auf Proportionalitäts-Fläschchen gezogen
Wussten sie schon, dass Sie ein Recht gegenüber dem Staat haben, in einem “das Zusammenleben erleichternden Raum der Begegnung” zu leben? Und dass dieser, um Ihnen diesen Anspruch zu erfüllen, anderen Dinge strafrechtlich verbieten darf? Selbst wenn es sich dabei um Dinge handelt, die in Freiheit tun zu dürfen Teil des klassischen, in unserer Verfassungstradition tief verankerten Grundrechtebestands ist?
Doch, doch. Das haben Sie. So jedenfalls die Logik, nach der der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg heute sein Urteil über das französische Burkaverbot gefällt hat.
In Frankreich ist seit 2011 verboten, in der Öffentlichkeit sein Gesicht zu verhüllen (in Belgien ebenfalls). Wer es doch tut, macht sich strafbar. Nominell gilt das Verbot für jeden, ob Mann oder Frau, ob Schal, Sturmhaube oder Chirurgenmaske. Aber man macht sicher keinen Fehler, wenn man vermutet, dass es faktisch hier nur um eine ganz konkrete Bevölkerungsgruppe geht: islamische Frauen, die Burka bzw. Niqab tragen.
Was ich politisch davon halte, ist hier und hier zu finden.
Verletzt das Verbot das Recht auf Privatleben (Art. 8) und das Recht auf Religionsfreiheit (Art. 9 EMRK)? Das tut es nicht, finden 15 der 17 Mitglieder der Großen Kammer. Anderer Meinung sind zwei Frauen, nämlich die schwedische Richterin Helena Jäderblom und die deutsche Richterin Angelika Nußberger.
Wobei auch die Richtermehrheit von den meisten Gründen, mit denen der französische Gesetzgeber seinen strafbewehrten Dress Code für den öffentlichen Raum rechtfertigt, nicht viel übrig lässt. Das gilt insbesondere für das Argument, es sei nötig, die betroffenen Frauen in ihrer Religionsfreiheit einzuschränken, um Frauen vor Diskriminierung zu schützen. Das würde darauf hinauslaufen, Grundrechtsträger davor zu schützen, dass sie von ihren Grundrechten Gebrauch machen.
Auch die “Menschenwürde” leuchtet dem Gerichtshof als Rechtfertigung für das Verbot nicht ein. Diese Passage ist es wert wörtlich zitiert zu werden:
The Court is aware that the clothing in question is perceived as strange by many of those who observe it. It would point out, however, that it is the expression of a cultural identity which contributes to the pluralism that is inherent in democracy. It notes in this connection the variability of the notions of virtuousness and decency that are applied to the uncovering of the human body. Moreover, it does not have any evidence capable of leading it to consider that women who wear the full-face veil seek to express a form of contempt against those they encounter or otherwise to offend against the dignity of others.
Die “öffentliche Sicherheit” – schließlich sind wir ja alles potenzielle Verbrecher und müssen daher immer und überall unser Gesicht zur technischen Face Recognition bereit halten – ist für den Gerichtshof im Prinzip schon ein Argument, aber nicht ohne Bezug auf ein greifbares Risiko; als “blanket ban” findet der Gerichtshof das Verbot unverhältnismäßig.
Somit bleibt eigentlich nur noch ein einziger Faden übrig, an dem das Gesetz hängt, und diesen Faden weigert sich die Richtermehrheit in der Tat abzuschneiden: Gerechtfertigt ist der Eingriff in die Religionsfreiheit der betroffenen Frauen durch das eingangs erwähnte Recht anderer, in einem “das Zusammenleben erleichternden Raum der Begegnung” zu leben (to live in a space of socialisation which makes living together easier).
Was ist das denn für ein Recht, und wo kommt das plötzlich her? Mir scheint, das erklärt sich erst durch das französische Konzept des vivre ensemble – eigentlich ein republikanisches Konzept und kein liberales, was erklärt, warum mir dieses angebliche “Recht” hier so deplaziert vorkommt. Nach diesem Konzept ist es das Individuum der Gesellschaft schuldig, sein Gesicht zu zeigen – das Gesicht als den Teil des Körpers, mit dem man sich identifiziert, mit dem man miteinander kommuniziert, über das wir alle miteinander zusammenhängen und ein gemeinsames Ganzes bilden. Das dürfen wir einander nicht entziehen.
Das ist es gerade, was die Burka und den Niqab so gruselig macht, und zwar gerade für laizistische Republikaner in Frankreich und anderswo: die Wahrnehmung dieser verhüllten Frauen als radikal verschlossen, als Gestalten, die mit allen um sie herum, die nicht zu ihrer Familie gehören, nichts zu tun haben, nicht mit ihnen kommunizieren, nicht mit ihnen zusammenleben wollen.
Schön und gut. Aber erstens ist dieses Unbehagen noch lange kein Grund, diesen Frauen die Polizei auf den Hals zu hetzen. Und selbst wenn es einer wäre – die Art, wie die Richtermehrheit ihr Ergebnis konstruiert, finde ich mehr als schräg.
Zum ersten Punkt sagen die beiden Minderheitsrichterinnen in ihrer Dissenting Opinion alles, was dazu gesagt werden muss:
It can hardly be argued that an individual has a right to enter into contact with other people, in public places, against their will. Otherwise such a right would have to be accompanied by a corresponding obligation. This would be incompatible with the spirit of the Convention. While communication is admittedly essential for life in society, the right to respect for private life also comprises the right not to communicate and not to enter into contact with others in public places – the right to be an outsider.
Zum zweiten Punkt: Selbst wenn man diese vivre-ensemble-Ideologie so super findet, wie das die Richtermehrheit offenbar tut, muss man daraus noch lange kein kollidierendes Grundrecht (“rights and freedoms of others”) machen, das sich gegen das Recht auf Privatsphäre und auf Religionsfreiheit der betroffenen Frauen in Stellung bringen lässt.
Die Straßburger Richter haben vom Bundesverfassungsgericht gelernt, den Schutzbereich der Grundrechte bis auf Atomstärke auszuwalzen und staatliche Freiheitseingriffe stattdessen über die Verhältnismäßigkeitsprüfung zu regulieren. Diese Lektion treiben sie hier ins totale Extrem. Ein solchermaßen verflüssigter und in Proportionalitätsfläschchen gezogener Grundrechtsschutz kann – wie dieses Urteil zeigt – zu jedem beliebigen Ergebnis zusammengeschüttet werden, das der Kammermehrheit gerade einleuchtend erscheint. Irgendein Fraternité-Schnullerkram, den Sarkozys Minions sich 2009 zurechtgeflunkert haben, reicht jetzt schon aus, um meine Privatsphäre und meine Religionsfreiheit wegzuproportionalisieren? Na, das stärkt jedenfalls mein Vertrauen, wenn es wirklich hart auf hart kommt, Zuflucht in Straßburg finden zu können, nicht gerade.
Apropos Frankreich und die Religionsfreiheit: Letzte Woche hat der Cour de Cassation einem privaten Kindergarten Recht gegeben, der unter Berufung auf das Prinzip der laïcité eine Angestellte gefeuert hatte, weil diese mit einem islamischen Kopftuch aus dem Schwangerschaftsurlaub wiederkam. Dem Fall werden wir sicher auch noch in Straßburg wiederbegegnen.
Und noch eine weitere Entscheidung aus der letzten Woche gehört in diesem Zusammenhang hier erwähnt: Nach einem Urteil des englischen Court of Appeal ist das französische Burkaverbot kein Hinderungsgrund, islamische Asylbewerberinnen nach Frankreich abzuschieben.
Nur als Ergänzung: Der hier zu Recht angeprangerte Gedanke einer bürgerschaftlichen Pflicht zur kommunikativen Offenheit, die Grundrechtseingriffe legitimieren soll, findet sich – eingekleidet in einen anderen Ableitungszusammenhang – auch im Sondervotum zum Kopftuchurteil des BVerfG. Dort heißt es:
“Die Beschwerdeführerin bewegt sich mit dem von ihr geltend gemachten Anspruch, Schuldienst mit dem Kopftuch ableisten zu dürfen, in einem kulturell und rechtlich schwierigen und spannungsgeladenen Grenzraum. Schon ein weiterer Schritt hin zur gänzlichen Verhüllung des Gesichts, der ebenfalls in der islamischen Glaubensgemeinschaft praktiziert wird, könnte aus deutschem Verfassungsverständnis heraus als unvereinbar mit der Würde des Menschen angesehen werden: Der freie Mensch zeigt dem anderen sein Antlitz.” (BVerfGE 108, 282, 334)
Der Vergleich beider Ansätze zeigt aus meiner Sicht sehr schön, wie sich derselbe freiheitsfeindliche Impuls in unterschiedliche, aber jeweils vorgeschobene Verfassungstraditionen einkleiden lässt.
Ich hatte es ja kommen sehen: https://verfassungsblog.de/burka-verbot-strassburger-gerichtshof/#.U7Lc3BZH2eZ
Als ich heute von der Entscheidung gehört hab, hätten mir all die Gründe noch eher eingeleuchtet, die die Richter scheinbar als nicht ausreichend erachtet haben das Verbot zu rechtfertigen. Aber mit der Begründung! Da muss man sich ja Sorgen machen, dass man bald in der Tram nicht mehr Musik hören darf: wer weiß, vielleicht möchte ja jemand mit einem reden? Und so Kopfhörer machen das socializen ja auch nicht unbedingt leichter…!
@Max: Aber Lob für Deinen Text, die “Atomstärke” der Grundrechtsdogmatik aus Karlsruhe werde ich mir merken. Nur das Wort “auszuwalzen” scheint mir nicht zu passen, denn Auswalzung macht die Dinge doch eher größer als kleiner. Wie wäre es mit “Karlsruher Rastersondenmikroskopie” instead?
das Rechtsgut Gesicht ist also auch nicht mehr disponibel…
Nein, Wutanfall spricht aus dem Artikel nicht. Eher die List, Kontroversen hervorrufen zu wollen.
Vom Physiker (zum Beispiel) zu Verflüssigung der Atomstärke als totales Extrem, was (ein-) leuchtend erscheine.
Oder von Max Steinbeis selbst: „Verletzt das Verbot das Recht auf Privatleben (Art. 8) und das Recht auf Religionsfreiheit (Art. 9 EMRK), fragt er. Und beantwortet die Frage gleich selbst. Er könne nicht das finden, was 15 der 17 Mitglieder der Großen Kammer finden, dass es nämlich das nicht tue.
Er fände auch den Ort nicht, woher das Recht und vor allem so plötzlich herkäme, to live in a space of socialisation which makes living together easier.
Das könne nur angebliches Recht sein, weil eigentlich ein Konzept.
Aber dieses Konzept erkläre ihm wenigstens, warum dieses angebliche Recht ihm hier (nicht woanders) so „deplaziert“ vorkomme.
Deplatziert vor allem das deshalb, weil er die Art, wie die Richtermehrheit ihr Ergebnis konstruiert, zwar mehr als schräg, aber sie wenigstens gefunden habe.
In der Großen Kammer, im Ergebnis deren Richtermehrheit sollte gesucht werden. Vielleicht ist dort die gleiche List zu finden: Kontroversen hervorrufen zu wollen!
Ich finde es ja gut, wie man sich hier für die klassischen Grundrechte einsetzt und ihrer Verwässerung durch hinzuerfinden neuer Grundrechte entgegenstellt. Ich stimme daher dem Autor im Hauptteil seines Artikels zu.
Es scheint mir allerdings, als würde das hier auch wieder einseitig gesehen, als hätte der Staat die Pflicht einem privaten Kindergarten das Recht auf negative Religionsfreiheit zu nehmen und ihn im Namen der positiven Religionsfreiheit zum weiterführen eines Arbeitsvertrages zu zwingen und die ordentliche Kündigung zu verbieten. Dies ist auch kein willkürlicher Einwand von mir: Kein staatlicher Zwang wäre es, dem privaten Kindergarten die Kündigung des Arbeitsvetrages zu erlauben – für eine freiwillige Zusammenarbeit braucht es halt immer Zwei. Das ein anderer nicht von sich aus einwilligt ist kein Zwang gegen einen selber.
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