07 June 2024

Das EU-Projekt auf der langen Bank?

Eine selbstverschuldete Situation durch mangelnden politischen Integrationswillen

Während die Bürgerinnen und Bürger in 27 Mitgliedstaaten ihre Stimme abgeben, um ihre Vertreter im EU-Parlament zu wählen, zeichnet sich auf dem Kontinent politische Unsicherheit ab. Denn trotz des viel beschworenen Zeitenwende-Gefühls dieser EU-Wahlen wurde den Wählerinnen und Wählern keine überzeugende Erklärung angeboten, warum und wie unsere Teilnahme an diesen Wahlen die Zukunft der Union beeinflussen könnte. Die Frage, wie sich unsere individuellen Präferenzen auf die künftige Ausrichtung der Union auswirken, bleibt also für viele ein Rätsel.

Vorneweg: es ist wenig bis gar nichts Europäisches an den Wahlen zum Europäischen Parlament.

Erstens stimmen die EU-Wählerinnen und Wähler zu unterschiedlichen Terminen ab – die Niederländer am 6. Juni, die Iren am 7., die Slowaken und Malteser am 8. und alle anderen am 9. Juni.

Zweitens gelten dabei unterschiedliche Wahlgesetze in den verschiedenen Mitgliedstaaten. In einigen Ländern wie Österreich, Belgien und Deutschland dürfen 16-Jährige wählen, in Griechenland muss man 17 Jahre alt sein, in anderen Ländern 18.

Drittens, es gibt in der EU kein EU-weites politisches Parteiensystem. Die Wählerinnen und Wähler sind aufgefordert, ihre Stimme für Kandidaten abzugeben, die von nationalen – nicht europäischen – Parteien aufgestellt wurden. Obwohl die meisten nationalen Parteien, die bei den EU-Wahlen antreten, zu europäischen politischen Parteien wie der Europäischen Volkspartei (EVP), der Progressiven Allianz der Sozialdemokraten (S&D) oder der Identität und Demokratie (ID) gehören, bleiben letztere für den Durchschnittswähler und die Durchschnittswählerin unsichtbar – und ihre Kandidatinnen und Kandidaten unbekannt.

Viertens, es besteht keine Verpflichtung für nationale Parteien, sich einer der bestehenden europäischen Parteien anzuschließen. Wenn sie es dann aber tun, dann geben sie ihre EU-Zugehörigkeit nur selten auf den Logos an, die auf den nationalen Stimmzetteln erscheinen. Wie viele deutsche Wählerinnen und Wähler wissen, dass sie mit ihrer Stimme für die CDU auch die italienische Forza Italia, die polnische Bürgerplattform von Donald Tusk oder die französischen Les Republicains unterstützen? Wie viele Italiener wissen, dass sie mit ihrer Stimme für Giorgia Melonis Brüder Italiens auch die polnische Partei Recht und Gerechtigkeit, besser bekannt als PiS, die spanische rechtsextreme Vox und vielleicht bald auf EU-Ebene die ungarische Fidesz unter der Führung des unbelehrbaren Viktor Orbán bestärken?

Letztendlich bestehen die Europarteien aus schwachen, außerparlamentarischen und weitgehend unsichtbaren Zusammenschlüssen von Parteien aus mehreren EU-Mitgliedstaaten, die eine dünne politische Affinität verbindet.

Unter diesen Umständen sind die EU-Parlamentswahlen kaum mehr als 27 parallele nationale Wahlen. Diese Schlussfolgerung wird durch ein zusätzliches strukturelles Merkmal der EU-Demokratie noch verstärkt.

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Stiftungsprofessur für Recht der Nachhaltigkeit und Mobilität

Am Institut für Theorie und Zukunft des Rechts der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Innsbruck ist eine Universitätsprofessur für das Recht der Nachhaltigkeit und Mobilität – Euregio Stiftungsprofessur des Landes Tirol gemäß § 99 Abs. 1 UG 2002 zu besetzen (4 Jahre, 100 %).

Bewerbungsfrist: 3.7.2024  

Hier finden Sie die Ausschreibung. Wir freuen uns darauf, von Ihnen zu hören! 

Bei Rückfragen wenden Sie sich gerne an Prof. Kettemann (matthias.kettemann@uibk.ac.at).

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Nach wie vor gibt es in der EU keine gesamteuropäische Medienlandschaft. Im Ergebnis erschwert das die Herausbildung einer genuinen europäischen öffentlichen Meinung. Trotz der Interdependenz der Staaten in Fragen, die das tägliche Leben ihrer Bürgerinnen und Bürger betreffen – von der Wirtschafts- über die Klima- bis hin zur Verteidigungspolitik – erhalten die Europäerinnen und Europäer ausschließlich nationalen Darstellungen der Entwicklungen in der EU. Diese Darstellungen sind zwangsläufig parteiisch, oft schlecht informiert und in der Regel irreführend, was zum Teil darauf zurückzuführen ist, dass nationale Politiker die Verantwortung abschieben und die EU zum Sündenbock machen. Daher ist es nicht weiter verwunderlich, dass die meisten Kandidaten für das Europäische Parlament ihren Wahlkampf mit nationalen – nicht-EU-Themen – führen.

Infolgedessen mangelt es der EU an einem europäischen politischen Raum, der in der Lage ist, einen echten transnationalen Raum der Debatte und des Dialogs – sowohl innerhalb als auch außerhalb der Institutionen – zu schaffen, in dem die Bürgerinnen und Bürger die Entscheidungen, die ihre gemeinsamen Interessen als Europäer und Europäerinnen betreffen, verstehen, beeinflussen und sich daran beteiligen können. In Ermangelung eines echten politischen Europas ist es nicht an den Bürgerinnen und Bürgern, sondern an ehemaligen Staats- und Regierungschefs der EU wie Enrico Letta, Sauli Niinistö und Mario Draghi, durch technokratische Berichte die zukünftige Richtung der EU zu gestalten – sei es in Bezug auf die Zukunft des Binnenmarktes, die zivile und militärische Bereitschaft Europas oder die Wettbewerbsfähigkeit der EU.

Jeder Versuch, den Wahlwettbewerb zu europäisieren, wie es der Vertrag von Lissabon 2009 vorsah, als er zaghaft eine Form der Parlamentarisierung der Union einführte, ist weitgehend gescheitert. Und das, obwohl Ursula von der Leyen nach ihrer abenteuerlichen Wahl zur Kommissionspräsidentin 2019 versprochen hatte, die „Spielregeln der EU-Demokratie“ mit Hilfe zufällig ausgewählter Bürgerinnen und Bürger, mit nationalen und EU-Vertretern in einer transnationalen Beratungskonferenz über die Zukunft Europas ganz neu zu schreiben.

Der Vorschlag des EU-Parlaments für ein neues EU-Wahlgesetz hätte jeder Wählerin und jedem Wähler zwei Stimmen gegeben: eine für die Wahl der Mitglieder des Europäischen Parlaments in den nationalen Wahlkreisen und eine in einem EU-weiten Wahlkreis (bestehend aus 28 zusätzlichen Gruppen). Der Vorschlag hat es aufgrund der Ablehnung der Mitgliedstaaten nicht einmal auf den Tisch des Rates der Europäischen Union geschafft. Trotz der geringen Anzahl der transnational zugewiesenen Sitze wäre diese Reform ein game-changer hin zu einem EU-weiten Wahlwettbewerb. Indem zum ersten Mal jede einzelne nationale Partei, die an den EU-Wahlen teilnimmt, verpflichtet wird, ihre politische Zugehörigkeit zur EU gegenüber ihren Wählerinnen und Wählern in der gesamten Union offenzulegen, hätte sie dazu beigetragen, eine Verbindung zwischen dem Votum der Bürger und der politischen Färbung der nächsten EU-Kommission herzustellen. Im Zuge der Entwicklung eines verständlicheren Wahlverfahrens hätte dies wiederum der Verpflichtung des Europäischen Rates, die Ergebnisse der EU-Wahlen bei der Auswahl der Kandidatinnen und Kandidaten für den Kommissionspräsidenten zu „berücksichtigen“, mehr ins Licht gerückt einen echten Sinn verliehen. Erinnert sei daran, dass der Vertrag von Lissabon die Bezeichnung der Abgeordneten des Europäischen Parlaments als die „Vertreter der Völker der in der Gemeinschaft zusammengeschlossenen Staaten“ in die „Vertreter der Unionsbürgerinnen und Unionsbürger“ geändert hat.

Stattdessen sind die EU-Wahlen 2024 nach einem Jahrzehnt der zaghaften Europäisierung des politischen Diskurses – wie sie von den europäischen Grünen und anderen wirklich transnationalen politischen Parteien wie Diem und Volt vorangetrieben wurde – in erster Linie eine nationale Angelegenheit.

Dieser Rückzug der EU-Politik innerhalb des Nationalstaates erscheint nicht nur paradox, sondern auch ahistorisch, wenn man den transnationalen Charakter der meisten wichtigen Ereignisse der letzten Zeit bedenkt, mit denen die Union konfrontiert war, von Covid-19 über die russische Invasion in der Ukraine bis hin zum aktuellen Gaza-Krieg.

Aus einer solchen Perspektive erscheint der lang vorhergesagte Aufschwung rechtsextremer politischer Parteien, die einen exklusiven nationalistischen Essentialismus praktizieren, als ein selbstverschuldeter Schaden der etablierten Parteien.

Indem sie jede Form der Europäisierung des politischen Raums der EU verhindern, berauben sich die politischen Führungen Europas nicht nur selbst der Möglichkeit, die EU-Integration zu einem Zeitpunkt voranzutreiben, an dem sie am dringendsten nötig ist, sondern spielen auch nationalistischen Parteien in die Hände. Zum ersten Mal könnten rechtsextreme, gegen das System gerichtete Parteien etwa 25 % der Sitze im nächsten EU-Parlament erringen.

Zwar regieren genau diese Parteien – direkt oder indirekt – in mehr als ein Dutzend EU-Mitgliedstaaten, darunter auch EU-Mitgliedstaaten der ersten Stunde wie Italien und die Niederlande, wo sie im Laufe der Zeit ein beispielloses Ansehen erlangt haben. Der gleiche Normalisierungsprozess hat jedoch auf EU-Ebene noch nicht stattgefunden.

Im Gegensatz zu den alarmistischen, oft dystopischen Schlagzeilen der Mainstream-Medien werden diese EU-Wahlen die EU nicht an den Rechtsextremen ausliefern. Doch während sie das EU-Projekt für ein breiteres Spektrum von Stimmen öffnen, bieten sie diesen Parteien die Möglichkeit, alle weiteren Integrationsbemühungen zu vereiteln.

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An der Fachhochschule Potsdam ist am Fachbereich Informationswissenschaften ab sofort folgende Position zu besetzen:

Akademische*r Mitarbeiter*in
für das Projekt “Kulturwandel in den Rechtswissenschaften” (KidRewi)
(w/m/d)
Umfang: 50 %; mit informationswissenschaftlichen Kenntnissen bis zu 100 %
Vergütung bis Entgeltgruppe 13 TV-L

Den ausführlichen Ausschreibungstext finden Sie auf unserer Homepage unter:

https://www.fh-potsdam.de/hochschule-karriere/karriere/stellenangebote-fh-potsdam

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Einen Vorgeschmack auf das, was als Nächstes kommen wird, geben die Ereignisse der letzten Monate, als die scheidende Kommissionspräsidentin unter dem Druck der rechtsextremen Parteien in der EU und den Protesten der Landwirte und Landwirtinnen von ihrem Vermächtnis – dem Green New Deal – abrückte. Sie tat dies, um das Vertrauen ihrer eigenen Partei, der EVP, zurückzugewinnen, aber auch das vieler Liberaler, wie der deutschen FDP, oder des französischen Präsidenten Macron, der eine „Klimaregulierungspause” forderte. Zuvor hatte sie auch die EU-Migrationspolitik von einer humanitären Herausforderung zu einem Sicherheitsproblem gemacht, indem sie die von den Rechtsextremen vorgegebene Blaupause weitgehend übernahm.

So gesehen werden diese Wahlen einen Rechtsruck beschleunigen, der innerhalb der EU bereits großflächig stattgefunden hat, und ihn auf ein neues Niveau heben.

Wenn die EU-Klimaambitionen ein Kollateralschaden dieses Prozesses sein werden, so steht auch die breitere, traditionell integrationsorientierte Agenda der EU mit auf dem Spiel. Die Erweiterung der Union, die eng mit der institutionellen Reform verknüpft ist, wird unter dem Einfluss der Rechtsextremen wahrscheinlich verlangsamt oder sogar gestoppt werden. Der nächste langfristige EU-Haushalt, über den das Europäische Parlament 2026 verhandeln wird, wird voraussichtlich schrumpfen. Dies kann zu einer gefährlichen Kluft zwischen den wachsenden Erwartungen der Bürger an die EU bei der Bewältigung der großen Herausforderungen und den Mitteln, die ihr dafür zur Verfügung stehen werden, führen. Dies kann der Glaubwürdigkeit der EU nur schaden, was der neuen rechtsextremen politischen Klasse gegenüber ihrer nationalistischen, europafeindlichen und fremdenfeindlichen Wählerschaft unmittelbar zugute kommt.

Ein starkes Abschneiden der Rechtsextremen könnte ihnen daher – zum ersten Mal überhaupt – die Chance geben, die integrationsfreundliche Agenda des Mainstreams durch Verlangsamung oder Unterbrechung zu vereiteln.

Das ist es, was bei diesen Wahlen auf dem Spiel steht. Eine beispiellose und regressive Transformation dessen, was realistischerweise vom EU-Projekt erwartet werden kann.

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Die Woche auf dem Verfassungsblog

Wir begannen die Woche mit einem Thema, das im weiteren Verlauf der Woche auch die New York Times beschäftigte: Die zunehmende Verbreitung von nicht konsensualen intimen Deepfakes. Dabei handelt es sich um AI-generierte Bilder, die eine real existierende Person nackt oder anderweitig intim darstellen. Sie sind teils nicht von echten Fotos zu unterscheiden und können erhebliche psychosoziale Probleme bei den Betroffenen – meistens Frauen und Kinder – hervorrufen. BEATRIZ KIRA deckt hier eine Leerstelle momentaner Debatten zu Fehlinformation und content moderation auf.

Die Proteste Studierender gegen den Gaza-Krieg waren bereits mehrfach Thema auf unserem Blog. In Berlin spitzten sich die Studierendenproteste nun zu, als die Polizei am 23. Mai 2023, dem Tag des Grundgesetzes, die Humboldt-Universität räumte. Für besonders viel Aufsehen sorgte dabei, dass die Universitätspräsidentin davon sprach, sie sei von der Wissenschaftssenatorin und dem Regierenden Bürgermeister angewiesen worden, die Besetzung zu beenden. BENJAMIN RUSTEBERG und MICHAEL PLÖSE nehmen die Vorkommnisse zum Anlass, um die Voraussetzungen und Grenzen der Aufsicht des Berliner Senats gegenüber der Hochschule nachzudenken.

Der DSA – Europas ‘Verfassung des Internets’ – überträgt erhebliche Regelungskompetenzen auf private Akteure. Mittels Codes of Conducts und anderer öffentlich-rechtlich sanktionierter Soft Laws werden so Regeln außerhalb des Gesetzgebungsverfahrens festgezurrt, die noch dazu der öffentlichen Kontrolle weitgehend entzogen sind. TAHIREH PANAHI und ANDRESSA DE BITTENVOURT SIQUEIRA finden – und zwar auf Deutsch und Englisch –  dies gefährdet Demokratie und Rechtsstaat.

Der Skandal um einen polnischen Regierungsfonds enthüllt einen schockierenden Machtmissbrauch und dessen weitreichende bürokratische Duldung. Tomasz Mraz, der ehemalige Direktor des Justizfonds – ein großes staatliches Programm zur Unterstützung von Opfern von Verbrechen – beschloss zu reden. Der Fonds war das bevorzugte Instrument der PiS, um ihre schlimmsten Exzesse zu finanzieren: Vom Kauf der israelischen Pegasus-Software, die später im Wahlkampf 2019 gegen Oppositionsführer eingesetzt wurde, bis hin zur schamlosen Unterstützung von regierungsnahen Kumpanen. MACIEJ KISILOWSKI fordert eine demokratische und wehrhafte öffentliche Verwaltung – und hat die Vision eines öffentlichen Dienstes, der besser darauf vorbereitet ist, autoritäre Übergriffe von gewählten Politiker:innen abzuwehren.

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