Das Problem heißt Rassismus
Zur Debatte um den Rasse-Begriff im Grundgesetz und den Vorteilen einer postkategorialen Alternative
Die Bundestagsfraktion der Grünen kündigt einen Gesetzesentwurf an, der den Begriff “Rasse” aus Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG streichen soll. SPD, Linke und FDP stimmen dem Vorhaben zu. Statt der „Rasse“ soll künftig „rassistische Diskriminierung“ oder solche wegen der „ethnische Herkunft“ verboten sein. Die CDU ist skeptisch: Wichtiger als eine Grundgesetzänderung sei „der entschlossene Kampf gegen rassistisches Verhalten”, so Thorsten Frei, Vizechef der Unionsfraktion, der noch ein paar Tage vorher das Berliner Landesantidiskriminierungsgesetz (LADG) kommentiert hatte: „Heute ist ein schwarzer Tag für jeden Polizisten und jede Polizistin in Deutschland.“ Doch auch aus antirassistischer Ecke kommt Kritik. Schon 2013, als Frankreich den Begriff race ersatzlos aus der Verfassung strich, fragten Emilia Roig und Cengiz Barskanmaz auf dem Verfassungsblog „Ist es überhaupt möglich über Weißsein und strukturelle Benachteiligungen zu sprechen, wenn Rasse (und Geschlecht) nicht berücksichtigt werden?“ Was ist dran an der Kritik und den verschiedenen Vorschlägen?
Die Ruhe vor dem Sturm
1945 setzte das alliierte Kontrollratsgesetz Nr. 1 die Nürnberger Rassengesetze außer Kraft und verfügte, es sei keine deutsche Gesetzesverfügung mehr anzuwenden, durch die „irgendjemand auf Grund seiner Rasse […] Nachteile erleiden würde.“ Doch der Rassebegriff verschwand nicht aus dem Recht. Die Alliierten schrieben ihn den Deutschen mit antirassistischer Intention ins Grundgesetz. Dort steht seit 1949 in Artikel 3 Absatz 3:
„Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden“.
71 Jahre später steht der Begriff zur Debatte. Dabei war lange Ruhe. Die Diskriminierungsverbote in Art. 3 Abs. 3 GG führten ein „merkwürdiges Schattendasein“, konstatierte 1968 das BVerfG (BVerfGE 63, 266, Rn. 81). Das galt und gilt insbesondere für die Diskriminierungskategorie Rasse, die in Rechtsprechung und Literatur nur wenig Aufmerksamkeit erfährt. Das Bundesverfassungsgericht äußerte sich nur einmal, 1968, ausführlich dazu, im Zusammenhang mit der Ausbürgerung deutscher Juden durch die nationalsozialistische Rassegesetzgebung. Was Rasse in diesem Zusammenhang meinte, war wohl unmissverständlich.
Erst in jüngster Zeit haben verwaltungsrechtliche Verfahren zum Racial Profiling durch die Bundespolizei das Diskriminierungsverbot wegen der Rasse aus dem Schatten geführt. Doch aus den Urteilen wird deutlich, dass die Verfahrensbeteiligten den Begriff meiden. Die Kläger, in der Regel Schwarze Deutsche, beschreiben ihre Erfahrung als rassistische Diskriminierung. Die Gerichte stellen allein auf die Hautfarbe der Kläger ab, setzen sich jedoch kaum mit dem rassistischen Gehalt der Kontrollen auseinander. Die Prozesse haben zu mehr kritischer Aufmerksamkeit für institutionellen Rassismus, aber auch für die Verwendung des Rassebegriffs im Recht gegen Rassismus beigetragen, denn diejenigen, die die Verfahren maßgeblich vorantreiben, sind Antidiskriminierungsbüros und Schwarze Selbstorganisationen.
Druck aus der Zivilgesellschaft
Die Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland (ISD) forderte 2015 die Ersetzung des deutschsprachigen Begriffs Rasse in Gesetzen durch rassistisch, weil Rasse mit „Versklavung, kolonialer Ausbeutung und Verfolgung in der NS-Zeit“verbunden sei und seit der Aufklärung „eine zentrale Rolle in der Legitimierung, Verbreitung und Normalisierung rassistischen Gedankenguts“ spiele. Nach den rassistischen Morden in Hanau wandte sich dann die Bundeskonferenz der Migrantenorganisationen in einem offenen Brief an die Bundeskanzlerin – mit der gleichen Forderung.
Prominent formulierte sie zuerst Hendrik Cremer in zwei Positionspapieren 2008 und 2010 für das Deutsche Institut für Menschenrechte (DIMR). Der Begriff sei historisch und bis heute „mit einem Herrschafts- oder Abhebungsanspruch verbunden“ und gehe „mit der Kategorisierung und zugleich Hierarchisierung von Menschengruppen“einher. Damit ist einer der Hauptkritikpunkte in der Debatte benannt. Die LINKEN forderten 2010 die Ersetzung von Rasse durch ethnische Herkunft. Die Grünen mahnten in einem Antrag „Hass und Hetze wirksam bekämpfen“ an den Bundestag im März 2020: „Zu der notwendigen Gesamtstrategie gehört auch, das historisch als Gegenbegriff zur NS-Rasseideologie gemeinte, aber – weil es beim Menschen keine Rassen gibt – in der Sache falsche Wort „Rasse“ bei den Diskriminierungsverboten in Artikel 3 Absatz 3 GG zu ersetzen durch den Begriff „rassistisch“ und das Grundgesetz zu ergänzen durch die ausdrückliche Pflicht des Staates, Schutz gegen alle Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit zu gewährleisten.“
Gegen den Anti-Rasse-Diskurs
Roig und Barskanmaz warnen dagegen vor einem „Anti-Rasse-Diskurs“. Wer Rasse als Biologismus verdamme und aus dem Recht streiche, könne nicht mehr gegen aktuellen Rassismus vorgehen, so ihr zentrales Argument. Schließlich sei auch nicht jeder Bezug auf Rasse rassistisch. So sei Rasse – sozialkonstruktivistisch als Rassifizierung interpretiert – wichtig für den Erlass positiver Maßnahmen. Sie beziehen sich dabei vor allem auf die US-amerikanische Diskussion zu race, post-racialism und colorblindness. Post-racialism bezeichnet die Auffassung, dass sich Rassismus mit dem Ende der rechtlich vorgeschriebenen rassistischen Segregation und dem Erlass von Antidiskriminierungsgesetzen erledigt habe. Colorblindness bedeutet, dass deshalb keine staatlichen Maßnahmen, auch keine Affirmative-Action-Maßnahmen, die an race anknüpfen, mehr zulässig sind, da sie Weiße diskriminieren würden. Roig und Barskanmaz sprechen damit ein gewichtiges Problem an, das in Deutschland bisher vor allem mit Blick auf geschlechtsspezifische Diskriminierung diskutiert wird. Doch bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass das Problem nicht ein post-rassischer oder Anti-Rasse-Diskurs ist, sondern die Leugnung der asymmetrischen Realität des Rassismus. Der Begriff Rassismus-Ignoranz beschreibt das präziser als colorblindness.
Rassismus-Ignoranz und die Illusion von Symmetrie
Rassismus geht alle Menschen an. Aber nicht alle sind von rassistischer Diskriminierung betroffen. Die herrschende Meinung im deutschen und im US-amerikanischen Verfassungsrecht verwischt diesen Unterschied. Die deutsche Literatur folgt dem Differenzierungsverbot, im US-amerikanischen Recht entspricht dem der Antiklassifikationsansatz: Verboten ist danach eine „abwertende Ungleichbehandlung wegen der Rasse“, und eine zugeschriebene Rasse haben grundsätzlich erstmal alle.
Die Rassismus-Ignoranz zeigt sich aktuell rechtspolitisch. 2019 wurde in der Polizeilichen Kriminalstatistik erstmal sogenannte Deutschenfeindlichkeit erhoben. Dies ist ein alter rechter Kampfbegriff, der Rassismus relativiert und damit salonfähig gemacht wird. Erst 2018 setzte sich die AfD im Bundestag für eine Änderung von § 130 Abs. 1 Nr. 1 StGB ein, um ausdrücklich auch „Angehörige des deutschen Volkes“ vor Volksverhetzung durch „Ausländer“ zu schützen.
Susanne Baer hat das treffend als Illusion von Symmetrie bezeichnet, die den Kern von Diskriminierung ignoriert: „die ungleiche Verteilung von Chancen, Ressourcen, Anerkennung, die eben nicht willkürlich oder gar zufällig, sondern historisch gewachsen tief in gesellschaftliche Strukturen eingeschrieben ist, die Privilegien der Normalität sichern“.
Das Bundesverfassungsgericht ist dieser Einsicht in der Entscheidung zur dritten Option bereits mit Blick auf die Geschlechtsidentität gefolgt, darin heißt es Zweck des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG sei es, „Angehörige strukturell diskriminierungsgefährdeter Gruppen vor Benachteiligung zu schützen.“
Alle neu macht Ethnizität?
Einig sind sich jedoch gerade alle Parteien, außer der AfD, dass weder der Schutzbereich von Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG verengt noch das Diskriminierungsverbot verwässert werden darf. Die deutsche „Anti-Rasse-Debatte“ ist damit keine farbenblinde bzw. Rassismus-ignorante Debatte. Niemand will Rasse ersatzlos streichen.
LINKE und FDP wollen, dass stattdessen „ethnische Herkunft“ im Grundgesetz steht. Dagegen kann eingewendet werden, dass Ethnizität, ebenso wie Rasse naturalisiert werden kann. Das geschieht zum Beispiel in Urteilen zum AGG, wo Gerichte die Kategorie Rasse meiden und zugleich essentialisierende Subsumtionen unter „ethnische Herkunft“ vornehmen. Für den Begriff der ethnischen Herkunft spricht, dass er Formen rassistischer Diskriminierung zum Beispiel von Migrant*innen umfasst, die nach weit verbreiteter Auffassung und oft auch nach Selbsteinschätzung nicht unter Rasse fallen. Insofern wäre aber eher eine Ergänzung i.S.v. „Rasse und ethnische Herkunft“ sinnvoll.
Dass auch ethnische Herkunft sozialkonstruktivistisch ausgelegt werden kann, zeigt das österreichische Gleichbehandlungsgesetz. Österreich hatte sich bei der Umsetzung der EU-Richtlinie RL 43/2000/EG bewusst gegen den Rassebegriff entschieden und statt dessen „ethnische Zugehörigkeit“ verwendet. In der Gesetzesbegründung heißt es dazu: „Adressaten der Diskriminierung sind Personen, die als fremd wahrgenommen werden, weil sie auf Grund bestimmter Unterschiede von der regionalen Mehrheit als nicht zugehörig angesehen werden. Sie knüpft überwiegend an Unterschiede an, die auf Grund von Abstammungs- oder Zugehörigkeitsmythen als natürlich angesehen werden und die die betroffenen Personen nicht ändern können.“
Der postkategoriale Weg: rassistisch statt Rasse
Eine postkategoriale Ersetzung von Rasse kann durch Formulierungen wie rassistische Diskriminierung oder rassistische Zuschreibung erfolgen. Ersteres empfehlen das DIMR und ISD. Artikel 3 Absatz 3 Satz 1 GG würden dann lauten:
„Niemand darf rassistisch oder wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden“.
Auch eine Formulierung, wie in § 2 LADG Berlin wäre denkbar:
„Kein Mensch darf im Rahmen öffentlich-rechtlichen Handelns aufgrund des Geschlechts, der ethnischen Herkunft, einer rassistischen und antisemitischen Zuschreibung, der Religion und Weltanschauung, einer Behinderung, einer chronischen Erkrankung, des Lebensalters, der Sprache, der sexuellen und geschlechtlichen Identität sowie des sozialen Status diskriminiert werden.“
Diese Formulierungen verschieben den Fokus rechtlicher Beurteilung nicht nur von Zugehörigkeit zu Zuschreibung, sondern auch von Symmetrie zu Asymmetrie. Rasse und Ethnizität sind auch sozialkonstruktivistisch ausgelegt symmetrische Eigenschaften. Von rassistischen Zuschreibungen sind dagegen nicht alle Menschen betroffen. Die Debatte um die Diskriminierung von Weißen durch positive Maßnahmen wäre damit auch vom Tisch: Wer nicht rassistisch diskriminiert wird, braucht auch keine Affirmative Action. Postkategoriale Formulierungen sind schließlich besser als getrennte Kategorien wie Rasse, ethnische Herkunft, Religion, in der Lage, mehrdimensionale Diskriminierungsrealitäten wie Antiziganismus, antimuslimischen Rassismus oder Antisemitismus zu erfassen.
Doch auch Begriffe wie rassistisch und antisemitisch müssen juristisch definiert und angewendet werden. Ihre Herausforderung besteht darin, dass Rassismus und Antisemitismus von Teilen der Jurisprudenz und Rechtswissenschaft auf den historischen Nationalsozialismus und seine neonazistischen Wiedergänger kurzgeschlossen werden und auf vorsätzliches Handeln reduziert werden. Das Grundgesetz ist ein guter Ort, um mit diesen Missverständnissen aufzuräumen. Antidiskriminierungsrecht verlangt weder Gesinnung noch Vorsatz, es interessiert sich für die Folgen rassistischer und antisemitischer Zuschreibungen.
Neues Wissen ins Recht
Der Erfolg aller rassismuskritischen Strategien – Resignifikation von Rasse als Rassialisierung oder Ersetzung durch andere Begriffe – wird davon abhängen, ob es gelingt, eine Rassismusdefinition im Recht zu etablieren, die die strukturelle Verfasstheit von Rassismus berücksichtigt. Auch das spricht für eine Grundgesetzänderung. Dazu ist ein Gesetz nötig, mitsamt einer dokumentierten Gesetzgebungsdebatte und einer Gesetzesbegründung, die alsdann Referenz für Kommentarliteratur und Gerichte wird. Das gibt allen Beteiligten die Chance, neues rassismuskritisches Wissen in den Rechtsdiskurs einzuspeisen: Wissen über die Geschichte, die vielfältigen Artikulationen und die Effekte von Rassismus und Antisemitismus.