Das ukrainische Wunder
Es gibt Dinge, die sind so selbstverständlich, dass wir nicht darüber reden. Wir setzen sie voraus. Sie sind so etwas wie die Geschäftsgrundlage unseres Alltags. In Deutschland kann ich beispielsweise relativ sicher davon ausgehen, dass nach vier Jahren ein neuer Bundestag gewählt wird. Wenn ich das meinen Freunden gegenüber in Zweifel ziehen würde, gäbe es Nachfragen. In den letzten drei Tagen habe ich ein weiteres Beispiel für jene Art Selbstverständlichkeit gelernt: Die Ukraine wird den Krieg gegen Russland gewinnen. Russland mag „teilweise mobilisieren“, Truppen „umgruppieren“ oder „Referenden“ durchführen – all dies ändert nichts daran, dass das Ende der Geschichte schon jetzt feststeht: Die Ukraine wird den Krieg gegen Russland gewinnen. Ich bin seit Dienstag mit Democracy Reporting International (DRI) in Kiew – und niemand (wirklich: niemand) hier zieht das in Zweifel. Ich auch nicht. Denn noch nie haben mich eine Stadt und ihre Menschen so beeindruckt; noch nie habe ich so deutlich gespürt, in einer europäischen Stadt zu sein, dessen ganzer Stolz sich daraus speist, der Gegenentwurf zu Russlands autoritärer Vision zu sein.
Vom Trost der Verfahrensvorschriften
Dass die Ukraine im Krieg ist, sieht man in Kiew erst auf den zweiten Blick. Auf fast schon dezente Weise hat sich über die gewöhnliche Infrastruktur der Stadt eine Infrastruktur des Krieges gelegt: ausgehobene Gräben an den Rändern, befüllte Sandsäcke und übersprühte Stadtpläne im Inneren. Die Stadt ist auf alles vorbereitet, aber weiß zugleich, dass Russlands Truppen kein zweites Mal in ihre Nähe kommen werden. Worauf sich diese Gewissheit stützt, ist schon nach wenigen Gesprächen vor Ort klar: Die Welt hat Russland überschätzt und die Ukraine unterschätzt. Ein rostender, brutalisierter, durch und durch vorgestriger Staat auf der einen Seite; eine agile, intelligente, und vor allem hoch motivierte Demokratie auf der anderen Seite. Jene Gegenüberstellung durchzog sämtliche unserer Gespräche; allerdings ohne direkt ausgesprochen worden zu sein. Denn unsere Gesprächspartner, sei es aus Politik, internationalen Organisationen oder Think Tanks, waren gedanklich schon viel weiter: Es ging um Wiederaufbau und Nachkriegsordnung, um innerukrainische Versöhnung und Verfassungsreformen, um einen EU-Beitritt und das Völkerrecht der Zukunft. Dass die Ukraine den Krieg gewinnt, wird dabei als selbstverständlich vorausgesetzt – und weil wir genug andere Themen zur Hand haben, hielten wir uns mit dieser Selbstverständlichkeit nicht lange auf.
Kiew am Abend
Die Themen, die unsere Gesprächspartnerinnen bewegten, muteten fasst schon technisch an: Komitees, die Subkomitees einsetzen, die Working Groups einsetzen. EU-Benchmarks, die erfüllt werden sollen, Gesetzgebungskunst, die verfeinert werden will, und parlamentarische Geschäftsordnungen, die es zu reformieren gilt. Aber ich glaube, dass genau hierin das eigentliche Wunder dieses furchtbaren Krieges besteht. Die Ukraine besteht als demokratischer Staat mit all seinen mühseligen Verfahren nicht nur fort, sondern geht als demokratischer Staat gestärkt aus dem Krieg hervor. Dieser Staat ist mitten in einem großflächigen Abwehrkampf – und unsere Gesprächspartner reden über: Geschäftsordnungen, Verfahrensvorschriften und Verfassungsreformen. Und mehr noch: Eine groß angelegte Umfrage im August 2022 hat ergeben, dass die Unterstützung der Demokratie als Staatsform knapp sechs Monate nach Kriegsbeginn sogar gestiegen ist. Nichts da von Schmittschen Ausnahmezuständen, in denen das Parlament als Schwatzbude vollständig hinter der Exekutive zurücktritt. Stattdessen Diskussion, Deliberation und demokratische Transformation. Aus Perspektive der politischen Theorie und der Verfassungsvergleichung ist all dies ungemein spannend – denn hier lässt sich eine Art demokratischer Kriegskonstitutionalismus beobachten, den viele wohl für unmöglich gehalten haben. An Kompetenz-, Verfahrens- und Formvorschriften festzuhalten, das ist mir hier schnell klar geworden, ist nicht nur ein rechtliches Gebot; es ist auch ein Akt der Selbstvergewisserung, eine gemeinsame Übung, die von Russland abgrenzt und auf eigentümliche Art und Weise tröstend ist.
All dies heißt natürlich nicht, dass es in der Ukraine aus demokratischer und rechtsstaatlicher Perspektive keine Probleme gibt. Die gibt es (wie auch anderswo in Europa) an allen Ecken, etwa bei der Unabhängigkeit der Justiz, der Transparenz parlamentarischer Arbeit oder dem Pluralismus im Mediensektor. Es gibt Verflechtungen zwischen Oligarchen und Politik; und auch bei Verfahrensfragen (etwa der Besetzung von Richterposten) gab und gibt es Verstöße und Durchbrechungen. Zugleich – und hierauf kommt es an – werden jene Probleme öffentlich benannt, diskutiert, und bisweilen sogar so gelöst, dass sie Modellcharakter entfalten und anderen Staaten der Region als rechtsstaatliches Vorbild dienen.
Himars statt Hurghada
Wer in diesen Tagen in Kiew ist, der lernt jedoch nicht nur viel über die Ukraine, sondern auch über ihre Nachbarn. Da ist zum einen Russland, dessen Diktator während unseres Besuchs eine „teilweise“ Mobilisierung verkündet hat. 300.000 Männer sollen eingezogen werden – und plötzlich sind Moskaus Straßen wieder voll mit Demonstrierenden. Früher habe ich mich über jede Demonstration gegen das Regime gefreut und habe auch selbst in Moskau an welchen teilgenommen. Am Mittwoch aber habe ich mit Wut reagiert. Wo wart ihr, als die Bilder von hunderten exekutierten Zivilisten in Butscha um die Welt gingen? Wo wart ihr, als die Folterkammern und Massengräber in Charkiw und Isjum entdeckt worden? Ja, es ist gut, dass die Menschen auf der Straße sind, es ist mutig und verdient Respekt. Aber warum braucht es erst geschlossene Grenzen und die Aussicht auf Himars-Raketenwerfer statt Urlaub in Hurghada, damit es Menschen wieder auf die Straßen treibt?
Wie tief das Problem in Russlands Gesellschaft sitzt, das konnten wir direkt in unserem ersten Gespräch erleben. Darin erzählte uns eine Frau von ihrer Familie in Russland, mit der sie in den ersten Wochen nach dem Überfall in Kontakt stand. Russlands Truppen wurden nicht weit von ihrem Haus aufgehalten. „Es war knapp“. Sie konnte das Donnern hören und die Menschen fliehen sehen. Ihre Familie in Russland aber glaubte ihr kein Wort. Das sei kein Krieg, sondern eine Befreiung. So ist es in den russischen Nachrichten zu hören – und so werde es sein. Eine so radikale Form von Desinteresse und Zynismus macht natürlich Angst, genauso wie die Aussicht auf eine weitere Militarisierung Russlands. Zugleich aber ist jedem hier in Kiew klar, dass Putins „Mobilisierung“ nichts anders als ein letztes Aufbäumen ist. Russland rostet und bröckelt an allen Ecken. Es ist ein Staat, der nie im 21. Jahrhundert angekommen ist; und auch seine Nachbarn davon abzuhalten versucht. Während hier von Demokratisierung, Digitalisierung und Dezentralisierung die Rede ist, wird das Russland in seiner jetzigen Form schon bald im Orkus der Geschichte verschwinden. Das ist nicht nur gut, sondern auch gerecht.
Klammheimliche Bewunderung
Die Ukraine hält jedoch nicht nur Russland der Spiegel vor, sondern auch uns. Auf die Frage, was sich in der Ukraine nach dem Krieg ändern könnte, schaute uns die Frau mit den zynischen Verwandten in Russland verblüfft an und sagte, viel wichtiger sei doch eine andere Frage: Was müssen wir tun, damit sich der 24. Februar nicht wiederholt? Wie lässt sich die Losung „Nie wieder“ in die Praxis umsetzen? Die kurzfristige Antwort kommt hier von allen buchstäblich aus der Pistole geschossen: Die Ukraine braucht mehr Waffen. Nur so lassen sich der Krieg verkürzen und weitere Massaker der russischen Truppen verhindern. Das stimmt – und muss vor allem von der deutschen Bundesregierung noch besser verstanden werden. Daneben aber ist es Zeit, Ukraines demokratische Transformation als unsere eigene zu begreifen. Während sich in und um die Europäische Union autokratische Regime konsolidieren, haben viele noch tief und fest geschlafen. In der Europäischen Union sitzt Russland schon lange mit am Tisch. In Deutschland hat Gazprom über Jahre hinweg ein ebenso feines wie dichtes Netz gespannt, das sich durch Politik, Wirtschaft und Anwaltskanzleien spannt.
Russischer Rost, Michaelsplatz
Doch das Problem sitzt tiefer. In der Ukraine und anderen osteuropäischen Staaten ist die Sprache gegenüber Russland glasklar. Da ist für Verständnis gegenüber der von vielen Deutschen offen oder klammheimlich bewunderten „russischen Seele“ kein Millimeter Platz. Da werden nationale Kränkungen oder „berechtigte Sicherheitsinteressen“ als das benannt, was sie sind: Expansionsversuche eines brandgefährlichen Regimes. Deutschlands Sprache gegenüber autoritären Systemen wird dagegen auch sieben Monate nach Kriegsbeginn vom Lärm seiner Containerschiffe und Güterzüge übertüncht. Substantielle Teile des deutschen Wirtschaftsmodells zehren nicht nur von autoritären Systemen, sondern nähren sie auch, sei es China, Ungarn oder bis vor Kurzem: Russland. Demokratische Transformation, das bedeutet auch, Außenwirtschaft nicht mehr entlang von Handelsbilanzüberschüssen und Exportweltmeisterschaft zu denken, sondern entlang von demokratischen Allianzen und Sicherheitsinteressen.
Im Herzen Europas
Russlands Angriffskrieg hat nicht nur die Welt erschüttert, sondern auch die Koordinaten Europas verschoben. Osteuropa, das war lange eine Projektionsfläche und ein Experimentierfeld für schnelle Reformen. Irgendwie Teil Europas, aber irgendwie auch ein unbestimmter Raum im Dazwischen. Vielleicht ist es Zeit, sich in Europa vom Begriff des Ostens zu verabschieden. Ganz sicher aber ist es Zeit, die Ukraine so schnell wie möglich in die Europäische Union aufzunehmen. Ich habe noch nie eine so leidenschaftliche Verteidigung der Grundwerte des Art. 2 EUV erlebt, wie dieser Tage in Kiew. Wer in Zeiten von Krieg und Besatzung demokratisch bleibt und die Werte des Art. 2 EUV hervorhebt, der ist im Vergleich zu manch anderem EU-Mitgliedstaat für eine Mitgliedschaft geradezu überqualifiziert.
Kiew, 23.09.2022
Die Woche auf dem Verfassungsblog
… zusammengefasst von PAULINE SPATZ:
Der Europäische Gerichtshof hat die deutsche Vorratsdatenspeicherung für unionsrechtswidrig erklärt. MAXIMILIAN GERHOLD kommentiert die Entscheidung.
GLEB BOGUSH erklärt, was die jüngste russische Eskalation im Krieg gegen die Ukraine aus völkerrechtlicher Sicht bedeutet.
BALÁZS MAJTÉNYI schlägt eine Formel für die Ungültigkeit amoralischen Rechts vor, die er auf das derzeitige ungarische Rechtssystem anwendet, um dessen Ungültigkeit zu beweisen.
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GABRIELLE APPLEBY schaut nach dem Tod der Queen auf die aktuelle Stimmung in Australien, was den Wandel in Richtung Republik betrifft, und beschreibt, wie der Prozess für einen solchen Wechsel aussehen könnte.
Der Oberste Gerichtshof Mexikos debattiert über seine Befugnis, die Verfassungsmäßigkeit von Verfassungsnormen zu prüfen. JAIME OLAIZ-GONZALEZ, DANIEL TORRES-CHECA & SEBASTIÁN INCHÁUSTEGUI glauben, dass ein Verfassungswandel in der Luft liegt.
Bei den bevorstehenden Wahlen in Brasilien haben die Wähler*innen nicht nur die Qual der Wahl zwischen zwei Kandidaten, sondern sie stimmen auch über die eigentümliche Art der illiberalen Regierung ab, die als Bolsonarismus bekannt ist. In unserer neuen Blog-Debatte beschäftigen sich PHILIPP DANN, CONRADO HÜBNER MENDES & MICHAEL RIEGNER, CLARA IGLESIAS KELLER & DIEGO WERNECK ARGUELHES, DANIELLE HANNA RACHED & M CECILIA OLIVEIRA, FLORIAN HOFFMANN, EVANDRO PROENÇA SÜSSEKIND, RAFAEL MAFEI und GERALDO MINIUCI mit Bolsonarismus an der Wahlurne aus der Perspektive des vergleichenden Verfassungsrechts und verschiedener Varianten von Konstitutionalismus.
Soviel für diese Woche. Nächste Woche an dieser Stelle wieder wie gewohnt Max Steinbeis.
Ihr
Maxim Bönnemann
„Ich habe noch nie eine so leidenschaftliche Verteidigung der Grundwerte des Art. 2 EUV erlebt, wie dieser Tage in Kiew. Wer in Zeiten von Krieg und Besatzung demokratisch bleibt und die Werte des Art. 2 EUV hervorhebt, der ist im Vergleich zu manch anderem EU-Mitgliedstaat für eine Mitgliedschaft geradezu überqualifiziert.“
Der Korruptionswahrnehmungsindex (Corruption Perceptions Index, CPI) von Transparency International aggregiert Daten aus 13 Einzelindizes von 12 unabhängigen Institutionen, die auf der Befragung von Expertinnen und Experten, Umfragen sowie weiteren Untersuchungen zur Wahrnehmung des Korruptionsniveaus im öffentlichen Sektor beruhen:
Rang Land / Gebiet CPI-Wert
2021
1 Dänemark 88
1 Neuseeland 88
1 Finnland 88
10 Deutschland 80
73 Ungarn 43
78 Bulgarien42
122 Eswatini 32
122 Ukraine 32
136 Russland 29
Die EU leitet Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit ein Verfahren gegen Ungarn ein (aber nicht gegen Bulgarien). Die Ukraine liegt auf Platz 122 mit 32 Punkten (nur 14 Plätze und drei Punkte vor Russland): Ich bin neugierig wie sich der Beitritt der Ukraine zur EU gestaltet. Manche Wunder dauern etwas länger (auch ukrainische Wunder).