20 April 2022

Deutschland, Russland und „Dazwischen“

Eine neue nationale Sicherheitsstrategie, wie sie Außenministerin Annalena Baerbock fordert und wie sie im Zentrum dieses Symposiums steht, muss auch die Grundzüge der deutschen Ostpolitik auf den Kopf stellen. Ein Kniefall in Butscha reicht dafür nicht aus – wäre aber ein Anfang.

Der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine ist nach der Schlacht um Kyiv und den Massakern in Butscha, Irpin und Hostomel in eine neue Phase eingetreten. Dabei hat sich in den letzten 50 Tagen auch der Diskurs in Deutschland stark gewandelt. Wo der erste Kriegsmonat von beseelten Worten der Solidarität und Anteilnahme mit den Ukrainer*innen geprägt war, scheint hingegen die Umsetzung in Taten nur holprig von statten zu gehen. Dies liegt nicht nur an strategisch-politischen Überlegungen, welche Art von Unterstützung Deutschland gegenüber der Ukraine leisten möchte, sondern auch darin, dass die grundlegenden Risse einer Außenpolitik hervortreten, welche zu lange Russland als einzigen Referenzpunkt der deutschen Ostpolitik gesehen hat. Die medial hochgekochten Debatten um die Rolle von Bundespräsident Steinmeier, aber auch das Verhalten des ukrainischen Botschafters Melnyk entlarven dabei einen Diskurs, welcher die politischen Positionen, historischen Erfahrungen und Zukunftsperspektiven der Länder und Gesellschaften im „Dazwischen“ bisher nur unzureichend miteinbezogen hat.

Dieser Beitrag skizziert die möglichen Fixpunkte, Baustellen und Potentiale einer regionalen Perspektive im Kontext der Ukrainekrise. Für die deutsche Außenpolitik bedeutet diese insbesondere einen Perspektivwechsel: Ostpolitik ist mehr als Russland-Politik. Eine neue deutsche Ostpolitik 2.0 ist dabei eine Chance für die Bundesrepublik, sich nicht nur defensiv gegenüber akuten Problemen wie Waffenlieferungen oder russischen Energieimporten zu positionieren, imperiale Ost-West-Großraumlogiken zu vermeiden und eine nachhaltige europäische Sicherheitsarchitektur zu entwickeln. Sie kann als erste Feuerprobe des von Stefan Mair geforderten Strukturwandels der deutschen Außenpolitik angesehen werden.

Osteuropa: der blinde Fleck?

„Wir erleben eine Zeitenwende. Und das bedeutet: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor.“ Diese Feststellung von Bundeskanzler Scholz ist wichtig, irritiert jedoch die meisten Menschen mit osteuropäischem Hintergrund. Wessen Weltsicht hat sich aktuell grundlegend geändert? Der Bezugspunkt kann nur der deutsche sein. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine zerstört das friedliche Leben von Millionen von Menschen in der Ukraine, aber die Ukraine hat schon seit der Annexion der Krim 2014 vor einem solchen Verbrechen gewarnt. Auch der Georgienkrieg 2008 scheint im deutschen Verständnis bisher wenig Beachtung zu finden. Die Interessen, historischen Erfahrungen und Ängste der osteuropäischen Staaten wurden dabei gewöhnlich ignoriert (für historische Beispiele, siehe auch den viralen Twitter-Thread zu #RussianColonialism von Maksym Eristavi). Das offensive Festhalten an Nord Stream 2 trotz heftiger Kritik osteuropäischer Staaten ist dabei als trauriger Höhepunkt geopolitischer Kurzsichtigkeit zu markieren.

Im außenpolitischen Diskurs sind es vor allem drei Diskurstypen, die besonders problematisch gegenüber den osteuropäischen Staaten auftreten. Zum einen die apologetischen „Russlandversteher*innen“ aller parteipolitischen Couleur, welche das Selbstbestimmungsrecht der Ukraine negieren. Dabei wird vor allem die historische Schuld Deutschlands gegenüber Russland aufgrund der massiven Verbrechen der Nationalsozialisten im Gebiet der ehemaligen Sowjetunion betont. Zum anderen eine neue Welle von Expert*innen, welche „Westsplaining“ betreiben. Dieser Begriff bezeichnet das Verhalten westlicher Expert*innen, ihre analytischen Schemata und politischen Voraussagen auf den Krieg in der Ukraine zu projizieren und dabei die Interessen und die Expertise von Ukrainer*innen, (und anderen) Osteuropäer*innen und Betroffenen zu missachten (siehe auch den Beitrag von Cindy Wittke). Der dritte Diskurstyp ist von anti-slawischem Rassismus geprägt, welcher sich in Deutschland nicht nur in „Polenwitzen“ oder Anfeindungen russischsprachiger Menschen zeigt, sondern auch in der aktuellen Debatte, wenn beispielsweise in Talkshows davon gesprochen wird, dass „auch wenn Russen europäisch aussehen, [sie] keine Europäer sind – im kulturellen Sinne“ und daher auch ein anderes Verständnis von Gewalt und Tod hätten.

Diese drei Diskurse prägen die Konzeption von Osteuropa in der Debatte maßgeblich. Osteuropa wird dabei vor allem im Gegensatz zum abendländisch-aufgeklärten Europa verstanden, ein Prozess des sogenannten „othering“. Die Region wird als unitäres, homogenes Gebilde begriffen, welches sich durch die klare Dominanz Russlands oder vor allem als „post-sowjetisch“ auszeichnet. Dies negiert nicht nur die linguistische und kulturelle Diversität osteuropäischer Bevölkerungen. Dass Kyiv geografisch näher an Berlin liegt als Rom und nur unmerklich weiter als Paris wird den meisten Menschen in Deutschland erst seit der Ankunft von Abertausenden Geflüchteten in den letzten Wochen bewusst.

Eine neue deutsche Ostpolitik sollte allen drei Diskurstypen entschieden entgegentreten. Die Konzeption von Russland als regionalem Hegemon einer post-sowjetischen Einflusszone kann nicht mehr der Fixpunkt für die zukünftige deutsche Position sein. Stattdessen argumentiere ich, sollte die deutsche Sicherheit regional verstanden werden – in und mit Osteuropa.

Regionale Sicherheit in und mit Osteuropa

Häufig wurden in den letzten Wochen die „russischen Sicherheitsinteressen“ bemüht, beispielweise im Beitrag von Ulrich K. Preuß in diesem Symposium. Doch worin bestehen eigentlich die deutschen Sicherheitsinteressen? Der Aktionismus des außen- und sicherheitspolitischen Paukenschlags vom 27. Februar, welcher zuerst primär militärisch verstanden wurde, zeigt in der deutschen Abhängigkeit von russischen Energieimporten seine Grenzen. Sicherheitswende bedeutet auch Energiewende, wie es Sebastian Lutz-Bachmann beschreibt. Nicole Deitelhoff führt aus, dass eine nachhaltige Friedensordnung militärische Abschreckung, wirtschaftliche Verflechtung und politische Kooperation zusammenbringen muss.

Die Umsetzung der neuen Friedensordnung ist eine Mammutaufgabe. Ein deutscher Alleingang wird dies sicherlich nicht, aber auch die bisherigen traditionellen Partner der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik sind nur wenig vielversprechend. Die USA und Frankreich sind nur wenige Prozentpunkte von einer Präsidentschaft Trump II oder Le Pen entfernt; die Rolle der NATO in Nord- und Osteuropa ist äußerst komplex (siehe auch den Beitrag von Reut Yael Paz zu Finnland) und sowieso rein verteidigungspolitisch orientiert. Des Weiteren ist auch kaum vorstellbar, wie Russland ohne eine völkerstrafrechtliche Aufarbeitung der Kriegsverbrechen in der Ukraine weiter in eine europäische Sicherheitsstruktur miteinbezogen werden kann.

Die aktuelle geopolitische Lage unterstreicht daher die Bedeutung regionaler Sicherheitskomplexe für Frieden und Sicherheit in Europa. Der Theorie der regionalen Sicherheitskomplexe wurde im Rahmen der sogenannten Kopenhagener Schule von Barry Buzan und Ole Wæver entwickelt. Einem breiteren Publikum wurden sie vor allem durch den Begriff der Securitization, der Versicherheitlichung, bekannt. Dieser beschreibt, wie bestimmte Themen in politischen Debatten zu Sicherheitsproblemen gemacht werden, so dass beispielweise Geflüchtete primär als potentielle Sicherheitsgefahr wahrgenommen werden. Regionale Sicherheitskomplexe können auf diese ganz unterschiedlichen Gefahren reagieren, da sie eng geographisch verbunden sind und ihre Sicherheitsbedürfnisse strukturell vernetzt sind.

Sicherheit wird dabei bewusst weit verstanden und beinhaltet politische, militärische, ökonomische, gesellschaftliche und ökologische Bedürfnisse. Dies zeigt sich aktuell besonders eindrücklich in der deutschen Debatte. So werden Änderungen der russischen Energieimporte nach Deutschland unter ganz verschiedenen Aspekten diskutiert: als Finanzierung der russischen Aggression, Stolperstein für wirtschaftliche Abhängigkeit, Potential für gesellschaftliche Verteilungskonflikte und potentieller Beschleuniger der Energiewende. Regionale Sicherheitskomplexe zeigen, dass diese Bedürfnisse zusammenhängen: innerhalb von Nationalstaaten, aber vor allem auch innerhalb einer Region. Im Zeitalter der Multipolarität ist internationale Sicherheit daher vor allem auf regionaler Ebene zu konstituieren.

Die Stärkung regionaler Sicherheitskomplexe in und mit osteuropäischen Nachbarstaaten ist somit eine mögliche Vision für eine deutsche Ostpolitik, welche verteidigungspolitische, aber auch wirtschaftliche und ökologische Perspektiven integriert. Sicherlich, das macht Lösungen nicht einfacher, aber unterkomplexe Lösungen sind oft wenig nachhaltig für komplexe Probleme.

Lehren für den wertebasierten Multilateralismus

Welche Lehren ergeben sich daraus für die deutsche Politik, insbesondere in multilateralen Institutionen außerhalb der klassischen Verteidigungspolitik? Das Weißbuch Multilateralismus der Bundesregierung von 2021 sieht den Schutz der normativen Ordnung des Völkerrechts im Rahmen eines wertebasierten Multilateralismus als elementare Aufgabe (dazu auch Malcolm Jorgensen). Die Konturen dieses wertebasierten Multilateralismus bleiben jedoch vage. Man möchte menschenrechtliche Standards ausbauen und durch Stärkung multilateraler Institutionen bewaffnete Konflikte verhindern. Auch die Ukraine wird maßgeblich erwähnt:

Deutschland stellt sich Versuchen zur Schwächung des Völkerrechts und der internationalen Gerichtsbarkeit entschieden entgegen. Besorgniserregend ist in besonderem Maße die offene Missachtung völkerrechtlicher Grundsätze einschließlich des allgemeinen Gewaltverbots sowie des Annexionsverbots. Die Verletzung der territorialen Integrität der Ukraine durch Russland hat Deutschland deshalb immer wieder entschieden verurteilt. Die Annexion der Krim durch Russland stellt eine völkerrechtswidrige Handlung dar, die weder durch inszenierte Volksabstimmungen noch durch das Aufrechterhalten dieser gewaltsam geschaffenen Tatsachen geheilt werden kann. (Seite 36)

In der Praxis zeigte die wertebasierte Zusammenarbeit Deutschland in internationalen Institutionen jedoch oft ihre Grenzen, beispielsweise in der Menschenrechtspolitik. So war Deutschland der bedeutendste Gegner einer fortgesetzten Sanktionierung oder einer Suspension Russlands im Europarat, welche von der Ukraine und anderen osteuropäischen Staaten gefordert wurde. In den multilateralen Institutionen, in welchen sich die Bundesregierung insbesondere engagieren möchte, dem UN-Sicherheitsrat, der NATO und den G7, sind osteuropäische Staaten entweder gar nicht oder nur partiell vertreten.

Eine neue deutsche Ostpolitik, welche den wertebasierten Multilateralismus in regionale Strukturen tragen möchte, sollte sich daher vor allem drei Institutionen zuwenden: der OSZE, dem Europarat und der EU. Diese drei Organisationen zeichnen sich nicht nur dadurch aus, dass sie Sicherheitsbedürfnisse integriert betrachten (siehe auch Anna von Gall), sie sind in ihrer mitgliedsstaatlichen Zusammensetzung auch inklusiv und repräsentativ im Blick auf osteuropäische Staaten.

Die OSZE ist vor allem seit der Krimannexion 2014 als wichtiges Forum zur Konfliktbearbeitung in den Blick der Öffentlichkeit geraten. Die großen Hoffnungen, welche in die OSZE gelegt wurden, haben sich jedoch nicht in notwendigen institutionellen Reformen niedergeschlagen (siehe dazu auch Steinbrück Platise/Moser/Peters 2019). Die harten Konsensregelungen der OSZE haben es daher ermöglicht, dass die Verlängerung des Mandats der Special Monitoring Mission to Ukraine durch die Russische Föderation am 31. März 2022 verweigert wurde.

Der Europarat, welcher Russland im März 2022 ausgeschlossen hat, steht vor einer akuten Finanzkrise, da Russland als einer der fünf stärksten Geldgeber nun wegfällt und somit eine große Finanzlücke von 33 Millionen Euro entsteht. Um die Flut von Fällen gegen Russland in den nächsten Jahren effektiv zu bearbeiten, darunter auch zwischenstaatliche Klagen der Ukraine sowie potentiell tausende Individualklagen ukrainischer Opfer in von Russland okkupierten Gebieten, benötigt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zusätzliche Finanzmittel. Experten argumentieren weiterhin, dass der Europarat auch ein mögliches Tribunal für das Verbrechen der russischen Aggression gegen die Ukraine installieren könnte. All dies benötigt jedoch Geld. Ministerin Baerbock hat dem Internationalen Strafgerichtshof eine zusätzliche Finanzspritze von einer Million Euro zugesichert; ob und inwieweit Deutschland den Europarat ähnlich zusätzlich unterstützen wird, ist jedoch noch unklar.

Die EU mit ihrer Beistandsklausel in Art. 42 (7) EUV steht im Zentrum der ukrainischen Forderungen. Wie von Jelena von Achenbach erläutert, hat die EU sich unter dem Radar der Öffentlichkeit rapide militärpolitisch integriert. Gerade diejenigen osteuropäischen Staaten, welche besonders von russischer Aggression bedroht sind (wie die Ukraine, Moldawien und Georgien), fallen jedoch nicht darunter, weil sie (noch) keine EU-Mitgliedstaaten sind. Der außergewöhnliche „fast-track membership“ Prozess, welchen die Präsidentin der Europäischen Kommission von der Leyen Präsident Selenskyi versprochen hat, wird daher nicht nur in der Ukraine mit Spannung beobachtet. Eine neue deutsche Ostpolitik in der EU muss jedoch auch über einen möglichen Beitritt der Ukraine hinausgehen.

Die wertebasierte Zusammenarbeit beweist sich an zwei offenen Fragen: Zum einen stellt sich die Frage, wie mit anderen osteuropäischen Beitrittskandidaten umzugehen ist, beispielsweise mit den Staaten des Westlichen Balkans – darunter auch Serbien, welches ein zwiespältiges Verhältnis zu Russland hat und nicht an den EU-Sanktionen teilnimmt. Zum anderen muss sich wertebasierte Zusammenarbeit auch nach dem Beitritt und in Zusammenarbeit mit osteuropäischen EU-Mitgliedsstaaten niederschlagen. So führt die EU gegen Rumänien und Bulgarien auch 15 Jahre nach deren EU-Beitritt von 2007 weiterhin das jährliche Kooperations- und Kontrollverfahren durch. Ursprünglich als Übergangsmaßnahme vor dem Beitritt geplant, wird es nun von der EU als Teil eines „Zuckerbrot und Peitsche“-Modells für einen möglichen Schengenbeitritt Rumäniens und Bulgariens genutzt. Obwohl die Probleme in Bezug auf Rechtsstaatlichkeit und Korruption in beiden Staaten nicht von der Hand zu weisen sind, ist dennoch fraglich, inwieweit die Maßnahmen des Kooperations- und Kontrollverfahrens dafür überhaupt noch hilfreich sind und ob sie nicht ein Zwei-Klassen-Europa zementieren. Auch die europäische Rechtsstaatlichkeits-Krise gegenüber Ungarn und Polen kann nicht unerwähnt bleiben. Unerwarteterweise zeigt sich jedoch durch die Ukraine-Krise eine potentielle Chance für Deutschland und andere EU-Mitgliedsstaaten die autoritäre Allianz zwischen Polen und Ungarn zu spalten, wie Jakub Ja