01 November 2022

Das vorletzte Kapitel im Fall Assange

Das Szenario vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte

Nach bald vier Jahren unter unveränderten Haftbedingungen im Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh sieht sich Julian Assange einer weiteren Herausforderung gegenüber. Mit der anstehenden Entscheidung des High Court of England and Wales wird von Seiten der britischen Justiz möglicherweise abschließend darüber entschieden, ob Julian Assange an die USA ausgeliefert werden kann. Dort drohen ihm im Falle einer Verurteilung in allen 18 Anklagepunkten bis zu 175 Jahre Haft.

Sollte der High Court zu dem Ergebnis kommen, dass das erstinstanzliche Verfahren nicht wiederaufzunehmen ist, wäre der Rechtsweg in Großbritannien ausgeschöpft. Dem Auslieferungsersuchen der USA, dem durch die ehemalige Innenministerin Priti Patel am 11.06.2022 entsprochen wurde, stünde dann kein Rechtsmittel auf nationaler Ebene mehr entgegen.

Viele Stimmen setzen daher ihre Hoffnungen in den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Nachdem innerstaatliche Rechtsmittel in einem Mitgliedsstaat des Europarates – dem Großbritannien auch nach dem Austritt der Europäischen Union weiterhin angehört – vollständig ausgeschöpft wurden, kann der EGMR als letztes Mittel angerufen werden. So wird es aller Voraussicht nach im Fall Assange geschehen. Die menschenrechtliche Tragweite des Falles, insbesondere die Auswirkungen auf den investigativen Journalismus in Europa in seiner Funktion als Wächter und Informationsgarant demokratischer Gesellschaften, machte Dunja Mijatović, Menschenrechtskommissarin des Europarates, in einem offenen Brief an Innenministerin Patel deutlich. Der Brief blieb unbeantwortet, ebenso eine Petition mit über 90.000 Unterschriften, die einen entsprechenden Appell an die Ministerin richtete.

I. Die Ambivalenz zwischen Großbritannien und dem EGMR

Die bisherige Linie der Regierung im Fall Assange und das ohnehin angestrengte Verhältnis zwischen Großbritanniens Souveränitätsverständnis und der Rechtsprechung des EGMR lassen einige Beobachter daran zweifeln, dass eine Entscheidung des Gerichtshofes von der britischen Regierung respektiert würde. Zuletzt hatte die Kritik am EGMR im Fall K.N. v. United Kingdom eine unverblümte Schärfe angenommen, nachdem der Gerichtshof in der Nacht vom 14.06.2022 einen Abschiebungsflug aus Großbritannien nach Ruanda stoppte. Hintergrund war die Prüfung des Asylpartnerschaftsabkommen zwischen Großbritannien und Ruanda – einem umstrittenen Projekt, mit welchem Großbritannien einen Teil seiner Asyl- und Migrationsprozesse nach Ruanda auszulagern versucht. Priti Patel warf dem Gerichtshof vor, politisch motiviert entschieden zu haben und Justizminister Dominic Raab legte kurz darauf einen Gesetzesentwurf vor, der darauf zielt, das britische Menschenrechtssystem weitgehend vom Straßburger System zu entkoppeln – ein lang verfolgtes Projekt der Tories. Britische Gerichte sollen damit ermächtigt werden, von der Rechtsprechung des EGMR künftig abweichen zu können. Das mediale Echo und die Kritik der Öffentlichkeit, welche durch die Entscheidung des Gerichtshofes hervorgerufen wurden, haben die Position der britischen Regierung offenbar weiter verhärtet. Dies spiegelt sich auch in den Personalentscheidungen des neuen Premierministers. Rishi Sunak berief nicht nur Raab erneut zum Justizminister, sondern auch Suella Bravermann, die sich für den Austritt Großbritanniens aus der EMRK engagiert, als Innenministerin.

Über die Schlagzeilen sollte eine Tatsache allerdings nicht aus den Augen verloren werden: Das Innenministerium erteilte aufgrund der Eilentscheidung ein Flugverbot und setzte die Abschiebung nach Ruanda vorläufig aus. Der Entscheidung aus Straßburg ist – aller Kritik zum Trotz – entsprochen worden. Angesichts der vergleichsweise positiven Statistik Großbritanniens in Bezug auf die Achtung der Entscheidungen des EGMR, ist dies gewöhnlicher als es die Vorwürfe aus den Ministerien vermuten lassen. Die Ambivalenz zwischen offener Ablehnung und (weitestgehend) formeller Achtung des EGMR prägt das Verhalten Großbritanniens schon länger. David Cameron machte es „physisch krank“, dass das pauschale Wahlverbot für Gefängnisinsassen in Großbritannien dem EGMR zufolge1) ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK darstelle und Theresa May empfand Art. 8 EMRK – das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens – durch die Auslegung des EGMR „pervertiert“. Insoweit reihen sich die jüngsten Empörungen des Innen- und Außenministeriums in eine britische Tradition ein, die sich auf die vergleichsweise wenigen Entscheidungen des EGMR beschränkt, die politische Agenden von großer symbolischer Wirkung für die Wählerschaft in Frage stellen.

II. Notwendigkeit von und Anspruch auf vorläufigen Rechtsschutz

Im Ergebnis scheinen im Fall Assange sowohl Zuversicht als auch Zweifel begründet. Über derartige Spekulationen droht allerdings eine entscheidende juristische Tatsache aus dem Blick zu geraten: Die Individualbeschwerde, die zum EGMR erhoben werden kann, entfaltet keine aufschiebende Wirkung. Sie hemmt weder den Vollzug des letztinstanzlichen Urteils noch der eigentlichen Auslieferungsverfügung. Etwas unbedarft, wie sich zeigen wird, heißt es demnach in den allgemeinen Informationen, welche der Gerichtshof Beschwerdeführern als Hilfestellung an die Hand gibt: „Sie müssen sich in jedem Fall an die letztinstanzliche Entscheidung des nationalen Gerichts halten […]“.

Das Problem liegt auf der Hand: Der EGMR würde dadurch vor vollendete Tatsachen gestellt. Eine verwaltungsgerichtliche Entscheidung ist hinfällig, wenn die durch sie angegriffene Abrissverfügung nach zwei Jahren zugunsten des Klägers aufgehoben würde, dessen Haus durch den ungehemmten Vollzug der behördlichen Abrissverfügung aber zwischenzeitlich in Schutt und Asche gelegt worden ist. Der Fall Assange wäre nicht weniger absurd. Bis zu einem Urteil des EGMR wäre Assange im Wege des Auslieferungsvollzugs an die USA übergeben worden. Sollte eine Entscheidung zu seinen Gunsten ergehen, würden sich die USA bestenfalls darauf berufen, dass sie an eine Entscheidung eines europäischen Gerichts nicht gebunden seien. Im schlimmsten Fall wäre eine Rückführung schon aus tatsächlichen Gründen nicht mehr möglich.

Die britische Regierung könnte es sich in diesem Szenario relativ bequem machen. Durch das letztinstanzliche Urteil des High Court erhielte die Auslieferung das Signum der Rechtsstaatlichkeit. Bedenken und Einwände, die selbstverständlich auch nach einem Urteil des High Court erhoben würden, könnte die britische Regierung unter Verweis auf die eigenständige Prüfung und Unabhängigkeit der Justiz von sich weisen. Formalistisch könnte man sich darauf berufen, dass ein Urteil des EGMR respektiert würde, sobald es ausgeurteilt sei. Bis dahin sei es allerdings nur konsequent und rechtmäßig, die Abschiebung zu vollziehen und im Übrigen auf die Rechtstaatlichkeit der USA zu vertrauen. Diese dogmatische Argumentation würde die britische Entscheidung zwar nicht vor Kritik bewahren. Teile der Staatengemeinschaft würden sich aber wohl zurückhaltend zeigen. Es wäre schlichtweg kein offener Bruch des Völkerrechts, kein unmittelbares Hinwegsetzen über die Entscheidung eines der bedeutensten Organe des Menschenrechtsschutzes, sondern ein Zeichen politischer Geringschätzung – und damit ein nicht zu unterschätzender narrativer Unterschied.

Das einzige Rechtsschutzmittel, das eine Alternative zu diesem Szenario böte, ist ein erfolgreicher Antrag auf den Erlass vorläufiger Maßnahmen vor dem EGMR (Art. 39 EGMR-VerfO). Ein solches Verfahren würde dem Gerichtshof erlauben, die Auslieferung an die USA vorläufig auszusetzen, um effektiven Rechtschutz durch das eigentliche Hauptsacheverfahrens sicherzustellen. Erfolgreiche Anträge sind mit Blick auf die Relation von Antrags- und Erfolgsrate des Verfahrens allerdings die Ausnahme. 2021 gab der EGMR von 1.920 gestellten Anträgen auf vorläufigen Rechtsschutz 227 Anträgen statt, etwas unter zwölf Prozent der Fälle. Dadurch, dass im Falle des Erlasses vorläufiger Maßnahmen durch den EGMR vom Regelvollzug eines nationalen Urteils abgewichen werden muss, sind die Voraussetzungen eines erfolgreichen Antrag anspruchsvoll. Der Fall Assange bewegt sich aber immerhin im Anwendungsbereich von Art. 3 EMRK – dem absoluten Verbot, Menschen zu foltern oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung auszusetzen –, dem Artikel der EMRK, von dem mit Abstand die meisten Anordnungen im einstweiligen Rechtsschutz getragen werden, insbesondere im Bereich der Auslieferung.

In der Vergangenheit sah sich der EGMR mehrfach dazu veranlasst, Auslieferungen in die USA aufgrund des gesundheitlichen Zustands der betroffenen Personen vorläufig auszusetzen.2) Darunter fielen nicht nur gesundheitlich eklatante Fälle, in denen die auszuliefernde Person massiv suizidgefährdet war, sondern auch Antragsteller mit milderen Krankheitsbildern, sofern die drohenden Haftbedingungen eine drastische Verschlechterung ihres gesundheitlichen Zustands erwarten ließen. Dies betraf in erster Linie Fälle, in denen Antragstellern Haftaufenthalte unter sogenannten Supermax-Standards oder „Special Administrative Measures (SAMs)” drohten. Supermax-Standards bezeichnen eine besonders schwerwiegende Form der Isolationshaft. Insassen sind 22 ½ Stunden am Tag in 3,5 x 2 m großen Zellen inhaftiert und jeder Möglichkeit der Orientierung – seitwärtige Fenster, Uhren, Wecker usw. – benommen.3) Viele Insassen erleiden infolge der extremen Isolation und dem Mangel an natürlichen Umweltreizen pathologische Traumata.4) SAMs sind dagegen Maßnahmen, die einer Isolationshaft in der Regel angefügt werden, um Insassen audiovisuell zu überwachen und soziale Kontakte weiter, auf ein knapp kontingentiertes Minimum, zu reduzieren.

III. Primat diplomatischer Zusicherungen – ein Ausblick im Fall Assange

Im Fall Assange wird die Herausforderung nicht darin bestehen, die stetige Verschlechterung seines Gesundheitszustands darzulegen. Bereits die Feststellungen des Sachverständigen Prof. Dr. Micheal Kopelman im Verfahren vor dem Magistratsgericht waren insoweit eindeutig. Assange leide nicht nur an klinischer Depression, die sich durch extremen Schlaf- und Gewichtsverlust, durch akustische Halluzinationen und ein starkes Gefühl der Hilflosigkeit ausdrücke, an einer Autismus-Spektrum-Störung und dem Asperger-Syndrom, sondern schwebe im Falle der Auslieferung auch in konkreter Suizidgefahr. Seitdem erlitt Assange einen schwachen Schlaganfall, der die fortschreitende Zerrüttung seines gesundheitlichen Zustandes bestätigt.

Entscheidend wird vielmehr der Stellenwert sein, den der EGMR den diplomatischen Zusicherungen der USA beimisst. Diese Zusicherungen, die bereits vor den britischen Gerichten Erfolg gezeigt haben, zielen darauf, eine menschenrechtliche Garantie zu bieten. Sie versprechen, Szenarien völliger Isolation, drakonischer Haftbedingungen und unzureichender medizinischer Versorgung zu vermeiden.

Die Rechtsprechung des EGMR erkennt diplomatische Zusicherungen grundsätzlich an. In vielen Auslieferungsfällen, auch solchen, welche die Haft unter Supermax-Standards betrafen, hat der Gerichtshof Schutzmaßnahmen nach umfassenden Zusicherungen der USA aufgehoben.5) Um die Glaubhaftigkeit von Zusicherungen zu beurteilen, hat der EGMR eine Reihe von Kriterien entwickelt.6) Diese werden allerdings seit der Entscheidung Othman ./. United Kingdom kontrovers diskutiert.7) In der Entscheidung stellte der Gerichtshof fest, dass sich aus verschiedenen Quellen eine systematische Folterpraxis in Jordanien belegen ließe, die insbesondere durch den Geheimdienst gegen inhaftierte Islamisten angewandt werde. Dennoch ließen die Richter eine Zusicherung, dass jede Art der Folter gegenüber dem Auszuliefernden unterlassen werde, für die Rechtmäßigkeit der Auslieferung ausreichen und stützen sich dabei vor allem auf die Unterstützung des Königs, der die Fähigkeit besitze, die Absichtserklärung durchzusetzen.

Die entscheidende Rolle, die diplomatische Zusicherungen spielen, ist damit unverkennbar. Mit Blick auf das Interesse der Staaten an einer effizienten Strafverfolgung und der Pflege zwischenstaatlicher Rechtshilfe ist dies auch grundsätzlich nachvollziehbar. Dabei wird dem Erklärungsgehalt von Zusicherungen aber regelmäßig ein praktisches Gewicht beigemessen, dass sich in Ansehung der vorsichtigen theoretischen Ausführungen der Gerichte hierzu sowie der Wirklichkeit in den Zielstaaten nicht ohne Weiteres nachvollziehen lässt. Es scheint, als könne ein umfangreiches Paket diplomatischer Zusicherungen, unabhängig von der Schwere der Beeinträchtigung des Gesundheitszustands und der zu erwartenden Haftbedingungen, beinahe jedes Menschenrechtsbedenken früher oder später ausräumen. Dadurch mag die zwischenstaatliche Kooperation, aber eben auch der Vorwurf – wie ihn beispielsweise der ehemalige UN-Sonderberichterstatter für Folter Manfred Nowak erhob –, dass Zusicherungen häufig einen Versuch darstellen, völkerrechtliche Pflichten zu umgehen, bekräftigt werden.8)

Am Ende darf sich ein Gericht durch eine Zusicherung des Zielstaates – um das Bundesverfassungsgericht zu paraphrasieren – nicht von der Pflicht entbunden fühlen, eine eigene Gefahrenprognose in der Zielregion anzustellen.9) Das auch der EGMR diesen Grundsatz beherzigt, ist zu hoffen. Allein die schiere Dauer der zu erwartenden Haftstrafe ohne Aussicht auf eine signifikante Verkürzung, durch die Julian Assange von vornherein zum Versterben in Haft verurteilt sein dürfte, erfordern einen kritischen Blick auf den amerikanischen Strafprozess10) – der dem Gerichtshof im Übrigen nicht fremd ist.11) Zusätzlich wird er berücksichtigen müssen, dass die Zusicherungen der USA, anders als in der diplomatischen Praxis üblich, unter starken Vorbehalten erklärt wurden. So stehen etwa Verzichterklärungen von Supermax-Standards oder SAMs unter der Bedingung, dass Assanges Verhalten derartige Maßnahmen nicht doch erforderlich machen sollte. Eine derart interpretationsoffene Klausel erscheint mit dem absoluten Schutzcharakter von Art. 3 EMRK, den es bei der Prüfung der Auslieferung zu beachten gilt, kaum vereinbar.

Damit tragen die Besonderheiten des Falles Assange die Hoffnungen, die in den Gerichtshof gesetzt werden, einigermaßen mit. Gleichzeitig zeigt die bi- und multilaterale Praxis und das offenkundig große Vertrauen in diplomatische Zusicherungen seitens der Gerichte, dass ein Verfahren vor dem EGMR von politischen Faktoren abhängen wird, auf welche eine Einzelperson, aber auch die Öffentlichkeit, nur sehr begrenzt Einfluss nehmen können.

References

References
1 zuletzt: EGMR, McHugh and Others v. United Kingdom, Urteil v. 10.02.2015, Nr. 51987/08.
2 Vorläufiger Rechtsschutz erging beispielsweise in: EGMR, Dragan v. Deutschland, Urteil v. 07.10.2004, Nr. 33743/03; EGMR, D. v. Vereintes Königreich, Urteil v. 02.05.1997, Nr. 30240/96; EGMR, Einhorn v. Frankreich, Urteil v. 16.10.2001, Nr. 71555/01; EGMR, Paladi v. Republik Moldau, Urteil v. 13.03.2009, Nr. 39806/05; EGMR, Aswat v. Vereintes Königreich, Urteil v. 16.04.2013, Nr. 62176/14.
3 U.S. District Court for the Western District of Wisconsin, Jones El v. Berge, Urteil v. 10.10.2001, Nr. 164 F. Supp. 2d 1096, 1125.
4 US District Court for the Southern District of Texas, Ruiz v. Johnson, Urteil v. 01.03.1999, Nr. 37 F. Supp. 2d 855.
5 EGMR, Babar Ahmad and Others v. United Kingdom, Urteil v. 10.04.2013, Nr. 24027/07, 11949/08, 36742/08, 66911/09 und 67354/09; EGMR, Nivette v. Frankreich, Urteil v. 03.07.2001, Nr. 44190/98; EGMR, Aswat v. Vereintes Königreich, Urteil v. 16.04.2013, Nr. 62176/14.
6 EGMR, Hirsi Jamaa v. Italien, Urteil v. 23.02.2012, Nr. 27765/09; EGMR, Soldatenko v. Vereintes Königreich, Urteil v. 23.10.2008, Nr. 2440/07; EGMR, Abdulkhakov v. Russland, Urteil v. 02.10.2012, Nr. 14743/11.
7 Mariagiulia Giuffré, ‘An Appraisal of Diplomatic Assurances one year after Othman (Abu Qatada) v. United Kingdom’, in: International Human Rights Law Review Vol. 2 Issue 2 (2013), S. 266-293.
8 Manfred Nowak, ‘Challenges to the Absolute Nature of the Prohibition of Torture and Ill-treatment’, in: Netherlands Quarterly of Human Rights, Vol. 23, Issue 4 (2005), S. 674-688 (687).
9 BVerfG, Beschluss v. 22.10.2016 – 2 BvR 517/19, Rn. 37.
10 So etwa: OLG Hamm, Beschluss v. 22.10.2020 – 2 Ausl 104/20.
11 EGMR, Trabelski v. Belgien, Urteil v. 04.09.2014, Nr. 140/10.

SUGGESTED CITATION  Goeke, Henning: Das vorletzte Kapitel im Fall Assange: Das Szenario vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, VerfBlog, 2022/11/01, https://verfassungsblog.de/das-vorletzte-kapitel-im-fall-assange/, DOI: 10.17176/20221101-215951-0.

One Comment

  1. Philipp Schönberger Wed 2 Nov 2022 at 10:55 - Reply

    Danke für die hilfreiche Einordnung. Dass die Anwält:innen von Assange den Rule 39 – Antrag an den EGMR schon fertig in der Schublade haben, davon kann ausgegangen werden. Entscheidend wird ganz praktisch auch das Timing sein: Der Gerichtshof bearbeitet Anträge grds. nur während der Geschäftszeiten des Gerichts. Kommt die Entscheidung des High Courts an einem Freitag Abend, bestünde ggf. ein Zeitfenster bis zum nächsten Montag um die Auslieferung durchzuführen. Im Fall K.N. v. UK aus dem Sommer diesen Jahres konnte die Abschiebung nach Ruanda nur aufgehalten werden, weil Personal und Duty Judge noch bis nachts erreichbar waren und schnell reagierten.

    Angesichts der drohenden Haftstrafe von 175 Jahren für Assange wird in einem Hauptsachverfahren vor dem EGMR m.E. auch das Ergebnis der beiden anhängigen Verfahren vor der großen Kammer zu Sanchez-Sanchez v. UK (22854/20) und McCallum v. Italy (20863/21) ausschlaggebend sein. Beide Verfahren betreffen die Auslieferung in die USA wegen Strafverfahren, bei denen eine de-facto lebenslange Freiheitsstrafe droht. In dem im Beitrag angesprochenen Urteil (Trabelsi v. Belgium) hatte die fünfte Kammer 2014 entschieden, dass die Rechtsprechung der Großen Kammer (Vinter et al v. UK, 66069/09) zu Art. 3 EMRK und dem Erfordernis der Reduzierbarkeit einer lebenslangen Freiheitsstrafen nicht nur in den nationalen Strafverfahren, sondern eben auch in Auslieferungskontexten beachtet werden müsse. Demnach sind Auslieferungen in Staaten, in denen eine lebenslange Freiheitsstrafe droht und deren Strafsystem keine Möglichkeit einer vorzeitigen Entlassung kennt, konventionswidrig. Im Trabelsi-Urteil wurde das für das US-Strafsystem auf Bundesebene angenommen, weil dort nur eine Begnadigung zu einer vorzeitigen Entlassung führen kann. Gegen dieses Urteil haben sich vor allem die britischen Gerichte offen aufgelehnt. In den Entscheidungen der nationalen Gerichte zu Sanchez-Sanchez verwarfen die Richter_innen die Trabelsi-Entscheidung des EGMR als inhaltlich falsch und stellten sich damit offen gegen das Straßbourger Gericht. Der EGMR steht in dieser Frage, nicht zuletzt wegen eines bereits absehbaren Assange-Verfahrens, sicher mächtig unter Druck. Bleibt er bei seiner Rechtsprechung, dann dürfte eine Auslieferung in die USA schon wegen der Straferwartung ausscheiden.
    Allerdings kämen auch dann entsprechende Garantien seitens der USA in Frage, sodass es letztlich wieder auf deren Bewertung durch das Gericht ankommen wird.

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