01 December 2022

Demokratie in der Supra-EU

Heute soll CETA, das Umfassende Wirtschafts- und Handelsabkommen der EU mit Kanada (CETA), durch den Bundestag gebracht werden. Schließlich hat das Bundesverfassungsgericht die dazu seit 2016 anhängigen Klagen in seinem am 15. März veröffentlichten CETA-Urteil vom 9. Februar (BVerfG 2022) zurückgewiesen. Zudem meinen viele, man müsse nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine nun die westlichen Reihen schließen.

Dieser Wunsch ist nachvollziehbar. Doch ist das Mittel das richtige? CETA und die übrigen EU-Freihandelsabkommen „der neuen Generation“ entstammen gerade jenem neoliberalen Globalisierungsparadigma, das durch Russlands Krieg endgültig fragwürdig geworden ist. Eine eng verstandene betriebswirtschaftliche Effizienz darf offenbar nicht das alleinige Kriterium sein. Mit Blick auf Klima und Menschenrechte war diese Einsicht in den letzten Jahren durchaus bereits wieder gewachsen (vgl. etwa Lange/Peter 2019; Lange 2020; EK 2021). Es wurden Lieferkettengesetze debattiert und beschlossen und eine CO2-Grenzabgabe ins Auge gefasst, nichts anderes als ein Klima-Zoll.

Die absehbare Zustimmung von Bundestag und Bundesrat zu CETA darf nicht dazu führen, die verfassungsrechtliche und demokratietheoretische Problematik der „Ausschüsse“ einfach ad acta zu legen. Die EU ist dabei, das Regieren mittels transnationaler Ausschüsse oberhalb der EU systematisch auszubauen, insbesondere im Rahmen umfassender Freihandelsverträge. Dies bedarf dringend klarer Leitplanken und Stoppschilder seitens des Bundesverfassungsgerichts.

Eingeschränkter demokratischer Handlungsspielraum durch CETA

Verträge wie CETA schränken den demokratischen Handlungsspielraum deutlich ein: durch umfassende und sanktionsbewehrte Liberalisierungsverpflichtungen, Sondergerichte für Investierende der jeweils anderen Seite sowie schließlich „Ausschüsse“, welche verbindliche Beschlüsse fassen können – Beschlüsse, die auch die EU und ihre Mitgliedstaaten binden und von ihnen umzusetzen sind (vgl. neben Art. 26.3 II Satz 1 CETA in den entsprechenden Verträgen mit Japan, Singapur, Vietnam und dem Vereinigten Königreich: Art. 22.2 I JEEPA; Art. 16.4 I EUSFTA; Art. 17.4 I EUVFTA; Art. 10 I EUTCA).

Mag sein, dass teilweise die Vorstellung besteht, gerade durch ein Regieren mittels jener Ausschüsse politische Handlungsfähigkeit auf einer höheren, transnationalen Ebene gegen die ökonomische Globalisierung zu behaupten. Doch ist es wirklich der richtige Weg, das demokratisch seinerseits schon nicht perfekte EU-Mehrebenensystem, um eine weitere Ebene nach oben aufzustocken? Eine Ebene, die noch viel weniger demokratisch legitimiert und kontrolliert ist und deren „Verfassung“ in Form des jeweiligen Handelsvertrags noch viel einseitiger auf Liberalisierung verpflichten als die EU-Verträge?

Jedenfalls hat sich die EU offenbar entschieden, das „Regieren mittels transnationaler Ausschüsse“ oberhalb ihrer selbst stark auszubauen. Das ist umso beunruhigender, als die Sache selbst prinzipiell gar nicht neu und es spätestens seit 1996 ständige Rechtsprechung des EuGH ist, dass die Ausschussbeschlüsse nicht nur völkerrechtlich, sondern auch EU-rechtlich verbindlich sind (vgl. insgesamt Appel 2016; Weiß 2018).1)

Transnationales Regieren durch Freihandelsvertrags-Ausschüsse

Was also auf dem Spiel steht, mögen folgende Überlegungen deutlich machen: Im bundesdeutschen Föderalismus mit seiner Mitwirkung der Länder an der Bundesgesetzgebung, aber auch durch die gesamte damit zusammenhängende bzw. daraus im Laufe der Zeit erwachsene „vertikale Politikverflechtung“ sind die Entscheidungskompetenzen der Landesregierungen deutlich größer, als sie es rein auf Landesebene, als vom jeweiligen Landtag gewählte Regierung im Rahmen der jeweiligen Landesverfassung wären – wohingegen die Landtage fortlaufend Kompetenzen an den Bund abgeben.

Analog verhält es sich auf EU-Ebene – was auch heißt: Nicht nur wandern die Gesetzgebungskompetenzen weiter auf die EU-Ebene. Auch ist die so mächtige „zweite Kammer“ nicht mehr der Bundesrat, sondern der Rat der EU (Europäischer Rat oder Ministerrat). Die aus der Mehrebenenstruktur resultierenden exekutiven „Extra-Kompetenzen“ kommen nicht mehr den Landesregierungen zugute (sie verlieren wegen der Abwanderung der Gesetzgebungskompetenz sogar), sondern den Regierungen der EU-Mitgliedstaaten.

Die erste Frage, die sich mit Blick auf die in Verträgen wie CETA oder dem EUTCA vereinbarten Ausschüsse nun stellt, ist also: Erleidet hier – auf dieser, der EU-Ebene wiederum übergeordneten transnationalen Ebene – der Rat (der EU) einen ähnlichen Bedeutungsverlust wie der Bundesrat beim Schritt vom bundesdeutschen Föderalismus auf die EU-Ebene? Das heißt: Reicht der Rat den Stab an die „Ausschüsse“ weiter, und bestimmt dort mit der Zeit eher die Kommission als der Rat bzw. die Regierungen der EU-Mitgliedstaaten?

Rein formal nicht, da Art. 218 IX 2. Alt. AEUV, der das Verfahren der Beteiligung der EU an Ausschussbeschlüssen regelt, die vorherige Zustimmung des Rates vorschreibt, ohne die also die Kommission die EU im Ausschuss nicht binden darf. Andererseits ist es damit eben auch die Kommission, die in den Ausschüssen verhandelt und ständig zwischen Vertragspartnerin und dem Rat hin- und herpendelt. Zudem nimmt sie die unzähligen „weichen“ Ausschusskompetenzen zur „Zusammenarbeit“ der Vertragsparteien für die EU wahr, die ohne verbindlichen Ausschussbeschluss nicht von Art. 218 IX AEUV erfasst werden.

Wird es dem Rat bei immer zahlreicheren Verträgen und Ausschüssen noch gelingen, den Überblick zu behalten und nur abzusegnen, wozu er sich entschieden hat? EU-intern jedenfalls macht er (gemeinsam mit dem EU-Parlament) fleißig Gebrauch von Art. 290 und 291 AEUV, ohne dass irgendjemand sagen könnte, inwiefern damit wirklich nur „technische“ statt „politischer“ Fragen und nur „Durchführungsmaßnahmen“ statt der Gesetzgebung selbst an die Kommission delegiert werden (vgl. Weiß 2019). Ist es wirklich ausgeschlossen, dass er in einem Beschluss nach Art. 218 IX AEUV festlegt, dass die Kommission die „Einzelheiten“ oder die „Durchführungsmaßnahmen“ doch bitte eigenständig in den Ausschüssen aushandeln solle? In seinen Beschlüssen zum Abschluss eines Freihandelsvertrags tut er das übrigens jetzt schon (gemäß Art. 218 VII AEUV).

Dennoch scheint der Rat bisher sehr wohl darauf zu achten, sich von der Kommission nicht die Butter vom Brot nehmen zu lassen. Deshalb wenden wir uns zunächst einem weiteren Komplex zu: Wären die Ausschussbeschlüsse ohne jede Mitwirkung eines Parlaments (des EU-Parlaments oder eines neuen Parlaments auf der transnationalen Ebene des jeweiligen Vertrags oder der Parlamente der EU-Mitgliedstaaten) wirklich ausreichend demokratisch zustande gekommen und legitimiert? Schließlich ist ohnehin jeder Schritt auf die nächsthöhere Ebene mit einer Vergrößerung des Gewichts der exekutiv besetzten „zweiten Kammer“ gegenüber dem (auf der Trans-EU-Ebene noch nicht einmal existenten) Parlament (der „erster Kammer“) verbunden. Nur die Landtage können, aber eben beschränkt auf ihre geschrumpften Kompetenzbereiche, völlig ohne zweite Kammer entscheiden.

Zugleich entsteht spätestens mit dem Schritt auf die EU-Ebene tatsächlich ein – jedoch noch halbwegs bearbeitbares – Demokratieproblem: Zwar lässt sich die im Vergleich zum Bundesrat noch größere Stärke des Rates zunächst mit der mangelnden Gleichheit der Wahl zum EU-Parlament begründen (BVerfG 2009, Rn. 276–297), doch hat sie ihrerseits auch eine Kehrseite: Durch die mangelnde Transparenz der Ratsarbeit wird ein wichtiger demokratischer Mechanismus hintertrieben, nämlich dass man seiner Wahlentscheidung auch die Leistung der Regierung in der vergangenen Periode zugrunde legt.

Mit dem Schritt zu den Ausschüssen und damit auf die Trans-EU-Ebene verstärkt sich dieses Problem, und da nur die Kommission in all den Ausschüssen mit all den Vertragspartnerinnen verhandelt, weitet es sich auch aus: auf das Verhältnis von Rat und Kommission, aber auch von Parlament(en) und Kommission, sollte doch noch eine parlamentarische Beteiligung eingeführt werden (auch etwa durch eine entsprechende Selbstermächtigung des Bundestages, vgl. Holterhus 2016).

Drittens: Auch aus anderen Gründen wäre es naiv davon auszugehen, dass die neue(n) transnationale(n) Ebenen kein Eigenleben entwickelten und die Vetoposition der EU in den Ausschüssen verlässlich Schutz böte. Nicht nur schaffen die Ausschüsse eine permanente Verhandlungssituation, in der etwa Kanada immer wieder das Vorsorgeprinzip attackieren kann (vgl. Foodwatch/Council of Canadians 2020). CETA und Co. richten auch Spruchkörper ein, die empfindliche Sanktionen verhängen können, und zwar unter Absehung von jeder demokratischen, der Menschenwürde verpflichteten Verfassung rein aufgrund des jeweiligen, stark liberalisierungsorientierten Handelsvertrags (wie aktuell auch der irische Supreme Court moniert hat, vgl. Doyle 2022).

Und schließlich: Der EuGH hat am 6. Oktober 2020 in Rechtssache C-66/18 entschieden (vgl. insbesondere Rn. 75–84), dass selbst dann, wenn ein EU-Übereinkommen (wie CETA, vgl. Art. 30.6, aber auch JEEPA, EUSFTA, EUVFTA und EUTCA) nicht „direkt anwendbar“ ist, die Kommission dessen Verpflichtungen dennoch per Vertragsverletzungsverfahren gegenüber den Mitgliedstaaten durchsetzen kann – sofern nur die andere Vertragspartei vor ein (im jeweiligen Vertrag vereinbartes, zwischenstaatliches) Schiedsgericht ziehen und dort Strafzölle erwirken könnte.

Damit erhalten EuGH und Kommission nicht nur ein scharfes Schwert in die Hand, insbesondere Liberalisierungsverpflichtungen – Nachhaltigkeitsverpflichtungen sind in Verträgen wie CETA rarer und nicht sanktionsbewehrt – beliebig streng auszulegen und diese strengen Auslegungen am demokratischen Prozess der EU vorbei durchzusetzen.

Die Kommission kann auch genau dies wiederum als Drohung einsetzen, um den Rat zur Zustimmung zu einem Ausschussbeschluss zu bewegen, der eigentlich mehr Liberalisierungen beinhaltet, als der Rat selbst will, aber zugleich weniger Liberalisierungen, als der EuGH EU-intern verordnen könnte. Jedenfalls ist dieses Muster aus der EU selbst – also in Form von Drohungen mit immer noch liberalisierungsfreundlicheren EuGH-Auslegungen des EU-Primärrechts – nur allzu bekannt (vgl. Höpner 2014, S. 15 f.).

Die bekräftigten Zweifel des Bundesverfassungsgerichts

Als Politikwissenschaftler vermag ich letztlich nicht zu sagen, was von derlei Erörterungen durch die verfassungsrechtliche Brille in welcher Weise relevant erscheint. Wenn sich aber das Wahlrecht „nicht in einer formalen Legitimation der (Bundes-)Staatsgewalt (erschöpft), sondern … dem Einzelnen einen Anspruch darauf (vermittelt), mit seiner Wahlentscheidung Einfluss auf die politische Willensbildung nehmen und etwas bewirken zu können“ (BVerfG 2022, Rn. 142 m. w. Nw.), scheinen sie mir in der Summe aber jedenfalls zu der Einschätzung führen zu müssen, dass hier etwas auf eine schiefe Ebene gesetzt wird, auf der es nicht sich selbst überlassen werden dürfte.

Ohnehin hat auch das Bundesverfassungsgericht die CETA-Klagen zwar abgewiesen. Es hat dies aber in wichtigen Teilen rein formal begründet (vgl. BVerfG 2022, Rn. 153–155, 167), um die eigentlichen inhaltlichen Fragen, anders als erwartet, erneut nicht zu entschieden, gleichwohl aber seine Skepsis deutlich zu bekräftigen: „Die demokratische Legitimation und Kontrolle derartiger Beschlüsse erscheint mit Blick auf Art. 20 Abs. 1 und 2 GG zweifelhaft“ (BVerfG 2022, Rn. 190).

Gemeint sind hier Beschlüsse der CETA-Ausschüsse, an denen die EU gemäß dem EU-intern dafür geltenden Verfahren nach Art. 218 IX 2. Alt. AEUV mitgewirkt hat. Dem Bundesverfassungsgericht scheint es zweifelhaft, dass dies dem durch Ewigkeitsgarantie (Art. 79 III GG) geschützten Demokratieprinzip des Grundgesetzes genügt – und zwar weil jenes Verfahren zwar, wie gesagt, immerhin die Zustimmung des Rates verlangt, dieser dabei aber nur mit qualifizierter Mehrheit entscheidet. Deutschland könnte also überstimmt werden, was die Lückenlosigkeit der „Legitimationskette“ vom Wahlakt zum staatlichen Handeln in der betreffenden Frage zerstörte.

Freilich: Ginge es dem Bundesverfassungsgericht nur um Ausschussbeschlüsse, die Kompetenzen der Mitgliedstaaten berühren, lohnte die Aufregung fast gar nicht. Derlei Kompetenzen gibt es in Verträgen wie CETA angesichts des „Imperialismus“ der vollständig vergemeinschafteten Handelspolitik nämlich nicht allzu viele, selbst nach der Analyse des Bundesverfassungsgerichts im ersten CETA-Urteil vom 13. Oktober 2016 (Zurückweisung von Anträgen auf einstweilige Anordnung; BVerfG 2016a) im Gegensatz zum „Singapur-Gutachten“ 2/15 des EuGH (2017).

Tatsächlich fällt auf, dass der oben zitierte Satz – die demokratische Legitimation und Kontrolle … erscheine … „zweifelhaft“ – die entsprechende Einschränkung aus dem ersten Urteil (BVerfG 2016a, Rn. 65) nicht mehr enthält.2) Statt dessen verweist das aktuelle Urteil an dieser Stelle auf Randnummer 131 seines Urteil zur Europäischen Bankenunion vom 30. Juli 2019, wo es tatsächlich ganz allgemein um die Sicherung eines ausreichenden demokratischen Legitimationsniveaus in der EU, also auch bei alleinigen EU-Kompetenzen ging (konkret bei Errichtung von EU-Agenturen).

Zudem hatte das Bundesverfassungsgericht sehr wohl auch bereits in seinem ersten CETA-Urteil keineswegs nur bezogen auf mitgliedstaatliche Kompetenzbereiche eine Auflage für Beschlüsse des Rates nach jenem Art. 218 IX AEUV formuliert (vgl. BVerfG 2016a, Rn. 71), nämlich eben, dass sie einstimmig statt mit qualifizierter Mehrheit erfolgen müssten. Und vor allem: In seinem zweiten CETA-Urteil vom 7.12.2016 (BVerfG 2016b) hat es die erneuten Anträge auf einstweilige Anordnung – die geltend machten, dass unter anderem diese Auflage nicht ausreichend umgesetzt worden sei – in diesem Punkt letztlich mit dem Argument abgelehnt, dass eine der zu CETA abgegebenen „Erklärungen zum Ratsprotokoll“ (Abl. EU: L11/14 vom 14.1.2017), nämlich Erklärung Nr. 19, gegen ihren Wortlaut – der von einem Ausschussbeschluss spricht, „der in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fällt“ – wegen ihres Entstehungskontextes im Zuge des „CETA-Krimis“ 2016 dahingehend zu verstehen sei, dass sie keineswegs nur für mitgliedstaatliche Kompetenzbereiche, sondern „immer“ gelte (vgl. BVerfG 2016b, Rn. 30).3)

Eben dies ist auch das letztlich entscheidende Argument im CETA-Urteil vom Februar/März (vgl. Rn. 191) – zumal das Gericht (ebd.) dieses Argument auch nur für die Phase der „vorläufigen Anwendung“ des CETA gelten lässt, obwohl Erklärung Nr. 19 selbst diese zeitliche Beschränkung gar nicht enthält. Sie ergibt sich also erst aus der Meinung des Gerichts, dass Erklärung Nr. 19 als Rechtsgrundlage nicht mehr ausreiche, sobald CETA einmal die Zustimmung der Parlamente aller EU-Mitgliedstaaten erhalten und endgültig in Kraft getreten sein wird (vgl. bereits 2016a, Rn. 71). Ginge es ihm nur um die Wahrung der mitgliedstaatlichen Kompetenzen, wäre diese Sorge aber jedenfalls deutlich weniger plausibel.

Weitere verfassungsrechtliche Klärung dringend notwendig

Doch unsere Bundesregierung scheint das alles offenbar nicht zu kümmern. Im Sommer veröffentlichte sie den Entwurf einer „Interpretationserklärung“, die nach ihrem Willen der oberste CETA-Ausschuss beschließen soll, um den Grünen eine vermeintlich gesichtswahrende Zustimmung zu CETA zu ermöglichen. Obwohl dieses Dokument eigentlich die Sonderjustiz für Konzerne entschärfen soll (kritisch dazu