26 August 2022

Die gute Sache

Ein guter Journalist macht sich mit keiner Sache gemein, auch nicht mit einer guten. Das ist so ein typischer Journalistensatz der 80er Jahre, hört sich super an, geht gut rein, verströmt einen angenehm männlichen Duft nach Whiskyglas und grau melierten Schläfen, und tatsächlich wird er (jedenfalls im deutschen Sprachraum) dem damals sehr berühmten Fernseh-Grauschopf Hanns-Joachim Friedrichs zugeschrieben. Dass sich so sehr im öffentlichen Gedächtnis festhaken konnte, hat neben seiner offenkundigen Wahrheit mit seiner ebenso offenkundigen und durch die Unschärfe des Worts “gemein machen” nur notdürftig verdeckten Falschheit zu tun: Natürlich macht man sich als gute Journalist_in permanent mit allen möglichen Sachen gemein. Wozu (gute Bezahlung mal beiseite) sich sonst überhaupt die Mühe machen. Das Gegenteil für sich in Anspruch zu nehmen, scheint mir mehr Attitüde als Haltung: Man sähe sich gern als überlegene, supercoole, nichts und niemand verpflichtete, über allen öffentlichen Dingen schwebende Ironiker_in, je weniger man es ist, desto mehr will man es sein, was mir insgesamt eher auf eine problematische Kindheit als auf journalistische Exzellenz hinzuweisen und daher als professionelles Ideal nicht wirklich ernst zu nehmen zu sein scheint.

Wahr ist an dem Satz natürlich, dass die Medien dazu da sind, Meinungsvielfalt möglich und den öffentlichen Raum öffentlich zu halten, offen für viele Verschiedene, auf dass sie sich streiten und miteinander auseinander setzen können. Das wäre schon mal auf jeden Fall eine gute Sache, mit der man sich als gute Journalist_in mit allem Nachdruck gemein machen sollte. Ebenso, und aus dem gleichen Grund, mit Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechten natürlich.

Der Verfassungsblog ist ein Medium, auf dem außer mir kaum Journalist_innen, sondern fast ausschließlich Wissenschaftler_innen schreiben. Ob und wann man sich als gute Wissenschaftler_in mit einer guten Sache gemein machen soll und darf, wird periodisch immer wieder mal zum Thema leidenschaftlicher Debatten. Zuletzt hatte Tarunab Khaitan, Professor für Öffentliches Recht und Rechtstheorie an der Universität Oxford, in einem Editorial bei ICON eine solche angestoßen. Wir haben diesen Anstoß mit einem Ad-hoc-Blogsymposium aufgegriffen, dessen Erträge ich außergewöhnlich inspirierend finde und Ihnen sehr ans Herz lege (s. unten im Wochenrückblick). Sich als Wissenschaftler_in von dem Drang treiben zu lassen, bestimmte materielle Ergebnisse herbeizuführen, so seine These, ist falsch – nicht nur, weil man dadurch in Widerspruch zu der wissenschaftlichen “role morality” gerät, sondern weil man damit der guten Sache womöglich mehr Schaden als Nutzen zufügt.

Das Projekt, Wissenschaft von externen Agenden rein zu halten, riskiert immer, entweder in der Tautologie (Khaitan: “… a scholar’s engagement with morality must be, well, scholarly”) zu landen oder in der Paradoxie: Wie soll man unwissenschaftlicher Wissenschaft als Wissenschaft auf die Spur kommen, ohne sich einen Knoten in den Kopf zu denken? Die Wissenschaft hat hierfür, wie jedes soziale System, Techniken der Entparadoxierung entwickelt. So reicht sie beispielsweise das Problem an die Moral weiter, auf dass diese die individuelle Wissenschaftler_in zum richtigen Handeln anleite, wofür die mit Wahr und Falsch operierende Wissenschaft sich blind halten muss, um nicht an sich selbst irre zu werden. Oder sie weist der unwissenschaftlichen Praxis innere Dysfunktionalitäten und Widersprüchlichkeiten nach und macht sie so mittelbar für ihre Wahr-Falsch-Unterscheidung wieder beobacht- und erforschbar. Das ist auch Khaitans Vorgehen: Er macht nicht bei der Tautologie halt, schlechter Wissenschaft wegen schlechter Wissenschaft schlechte Wissenschaft vorzuwerfen (bei ihm: “radical scholactivism”), sondern formuliert seinen Vorwurf zunächst moralisch: Scholactivism macht die Welt tendenziell weniger gerecht. Und daran lässt sich eine Diagnose selbstwidersprüchlichen Verhaltens knüpfen: Wenn das so ist, dann handelt die Scholactivist_in, die ihre Forschung trotzdem ihren aktivistischen Zielen unterordnet, selber paradox.

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Solche Techniken der Entparadoxierung sind der Rechtswissenschaft schon von ihrem Gegenstand her nicht unvertraut. Im Recht hat man dauernd damit zu tun, dass jemand zum Unrechttun berechtigt ist. Rechtsmissbrauch rechtlich in den Blick und in den Griff zu bekommen, ist ein paradoxes Unterfangen, und die Entschärfung und Entfaltung dieser Paradoxie prägt die Entwicklung des Rechts seit Hunderten von Jahren. Diesen Vorgang hat kürzlich Roman Guski in seiner faszinierenden Habilitationsschrift für das Privatrecht sehr gründlich untersucht. Ich würde mir wünschen, jemand täte mal das Gleiche fürs (vergleichende) Verfassungsrecht. Da wäre so viel zu holen.

Abusive Constitutionalism hat David Landau vor fast zehn Jahren genannt, was seither den größeren Teil dessen ausmacht, was uns auf dem Verfassungsblog beschäftigt: Verfassungsmissbrauch. Das Instrumentarium der Verfassung – Kompetenzen, Rechte,  Verfahren, Institutionen – wird dazu missbraucht, die Demokratie zu schwächen. Autoritäre Parteien und Herrscher, beraten von gewieften Jurist_innen, setzen es dazu ein, sich gegen politischen Wettbewerb zu immunisieren und ihre politischen Gegner zu diskreditieren und den Pluralismus unterschiedlicher politischer Meinungen und Interessen zu lähmen und einzuebnen. Das Wahlrecht, das Parlamentsrecht, das Prozessrecht, die Verfassung selbst. Alles strikt legal. Und wer diesen Missbrauch als das bezeichnen will, was er ist, muss sich dafür erst mal selber außerhalb des Rechts stellen und sich damit angreifbar machen: Aha! Na klar. Eh bloß wieder politisch.

Die Rechtswissenschaft beobachtet das Recht beim Beobachten. Leichter als das Recht selbst kann sie dabei den Rechtsmissbrauch als solchen durchschauen, ihn an den von ihm verfolgten Absichten und an den dem Recht vorgegebenen Zwecken messen, und ihn auf diese Weise als das kennzeichnen, was er ist: Unrecht. Ich halte es für keinen Zufall, dass es zuerst und zuvörderst Rechtswissenschaftler_innen waren, die wegen des im letzten Jahrzehnt so epidemisch um sich greifenden Abusive Constitutionalism so laut und leidenschaftlich Alarm geschlagen haben, nicht nur, aber auch auf dem Verfassungsblog.

Die Expertise von Rechtswissenschaftler_innen war gefragt wie nie in den letzten Monaten und Jahren in der Öffentlichkeit. Sie verfügen über das Wissen, über die Begriffe und die Argumentationstechniken, um die Schäden sichtbar zu machen, die der Missbrauch von Rechtspositionen anrichtet. Sie beobachten diese Schäden, und dann werden sie aktiv und wollen sie abwenden helfen und suchen dafür mit ihrem Wissen die Öffentlichkeit. Das ist ihr Aktivismus. Schadet er ihrer Wissenschaftlichkeit? Das behauptet Khaitan, so weit ich sehe, überhaupt nicht und wäre erst mal zu beweisen. Einstweilen kann ich keinen Grund erkennen, warum das so sein sollte.

Die Woche auf dem Verfassungsblog

… zusammengefasst von PAULINE SPATZ:

Die Masern-„Impfpflicht für Kitakinder ist verfassungsgemäß, hat das Bundesverfassungsgericht geurteilt. ANNA-LENA HOLLO hält die Entscheidung für wissenschaftsbasiert, realistisch und abgewogen – keine „Verhältnismäßigkeit auf Leerlauf“, sondern das Lehrstück einer Grundrechtsprüfung.

Nachdem das Bundesverfassungsgericht 2020 den Tatbestand der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung (§ 217 StGB a.F.) für verfassungswidrig erklärt hat, hat der Bundesgerichtshof nun im „Insulin-Fall“ eine aktive Tötungshandlung in eine straflose Suizidhilfe umgedeutet und eine Tötung auf Verlangen (§ 216 StGB) verneint. So menschlich nachvollziehbar der Beschluss auch sei, so fragwürdig sei sie juristische Begründung, findet ANNE BALDAUF und sieht in dem Fall den Anlass, § 216 StGB zu überdenken.

Kann der Staat Wissenschaftler_innen verpflichten, ihre Forschung frei zugänglich machen? Und: wer hat die Gesetzgebungskompetenz in dieser Sache? Seit September 2017 ist dazu beim Bundesverfassungsgericht ein Normenkontrollverfahren anhängig, seit September 2017 schweigt das Gericht. HANJO HAMANN bezweifelt, ob das noch „zeitgerechter Rechtsschutz“ ist, zumal das Gericht hier nur eine Kompetenzfrage beantworten müsse – gerade deren präjudizielle Natur verleihe ihr eine akute Dringlichkeit.

Am 1. August entschied der EuGH in der Rechtssache Sea Watch: Italien durfte zwei von NGOs betriebene Such- und Rettungsschiffe kontrollieren, aber nicht festhalten, wenn von ihnen keine eindeutige Gefahr für Sicherheit, Gesundheit oder Umwelt ausgeht. MATILDE ROCCA berichtet über das Urteil, das leider nicht explizit auf die zentrale Frage der Zusammenarbeit zwischen Staaten und privaten Akteuren, also NGOs, eingehe.

Die Angst, wegen Gasmangel im Winter nicht heizen zu können ist groß. Deswegen fordern viele immer dringlicher, die drei verbleibenden Atomkraftwerke in Deutschland nicht wie geplant zum Jahresende abzuschalten oder gar abgeschaltete Reaktoren wieder in Betrieb zu nehmen. PHILIPP SAUTER zeigt, dass das gar nicht so einfach ist.

In Spanien will die Regierungskoalition Übergewinne von Banken und großen Energieunternehmen besteuern. Der Gesetzentwurf könnte als Beispiel für andere europäische Länder dienen. JOAQUÍN URÍAS über die politischen und verfassungsrechtlichen Hintergründe.

In Bosnien und Herzegowina wächst der Zorn über den Hohen Repräsentanten Christian Schmidt, dessen Wahlrechtspläne nach Ansicht von JOSEPH MARKO auf eine Art ethnisches Gerrymandering hinauslaufen würden.

In Chile stimmt das Volk nächste Woche über seine neue Verfassung ab. Der Verfassungskonvent, der das chilenische Volk auf breiter Basis repräsentieren sollte, war so vielfältig, dass sein Entwurf nicht allgemein genug ist, um die Unterstützung einer soliden Mehrheit der Chilen_innen zu finden. RODRIGO KAUFMANN über einen Prozess, der am besten als eine Übung zur Selbstkonstitution verstanden werden könne – nicht einer politischen Gemeinschaft, sondern einer pluralistischen Gesellschaft.

Das bereits erwähnte Blog-Symposium zu Tarunab Khaitans Kritik am “Scholactivism” in der Verfassungswissenschaft umfasst Beiträge von ADRIENNE STONE, JOHN MORIJN, THOMAS BUSTAMANTE, BENOIT MAYER, VICKI C. JACKSON, LEONID SIROTA, MARTIN SCHEININ, CYNTHIA FARID & SERGIO LATORRE, LIORA LAZARUS und SAM BOOKMAN.

Ihnen alles Gute und bis nächste Woche!

Ihr

Max Steinbeis


SUGGESTED CITATION  Steinbeis, Maximilian: Die gute Sache, VerfBlog, 2022/8/26, https://verfassungsblog.de/die-gute-sache/, DOI: 10.17176/20220827-061732-0.

2 Comments

  1. Pyrrhon von Elis Sat 27 Aug 2022 at 07:12 - Reply

    “Verfassungsmissbrauch” ist als Phänomen nicht ganz so interessant wie es im Zivil- oder Verwaltungsrecht ist, weil die Verfassung im Art. 18 bereits umfassend beschreibt, unter welchen Umständen sie “missbräuchlich” eingesetzt werden kann. Jede andere Annahme von “Verfassungsmissbrauch” ist ein Rückfall in die Schmittsche Dichotomie von “Verfassung” und “Verfassungsgesetz” – was keine besonders gute Idee ist.

    Die einzige Denkrichtung, die ich persönlich als “Verfassungsmissbrauch” deklarieren würde, ist die Vielzahl an neuerlichen Versuchen, Art. 3, insbesondere Art. 3 Abs. 3 GG, zu “materialisieren” bzw. zu einer verfassungsrechtlichen “Supernorm” hochzustilisieren, die von Paritätsregelungen in Wahllisten bis zu arbeitsrechtlichen Bevorzugungsmaßnahmen alles rechtfertigen soll. Das ist nebenbei auch ein gutes Beispiel für “scholactivism” und daraus resultierender schlechter Dogmatik.

  2. Weichtier Sat 27 Aug 2022 at 10:28 - Reply

    „Das Gegenteil für sich in Anspruch zu nehmen, scheint mir mehr Attitüde als Haltung: Man sähe sich gern als überlegene, supercoole, nichts und niemand verpflichtete, über allen öffentlichen Dingen schwebende Ironiker_in, je weniger man es ist, desto mehr will man es sein, was mir insgesamt eher auf eine problematische Kindheit als auf journalistische Exzellenz hinzuweisen und daher als professionelles Ideal nicht wirklich ernst zu nehmen zu sein scheint.“

    Die Spekulation von MS über eine problematische Kindheit bei Berufskollegen wirft natürlich Fragen nach der Kindheit von MS auf. Laut Wikipedia ist MS Journalist mit einer juristischen Ausbildung. Hinweise auf eine Ausbildung oder Tätigkeit auf dem Gebiet der Psychoanalyse etc. finden sich nicht.
    (1) MS hatte eine problematische Kindheit und verfügt deshalb über eine besondere Einsichtsfähigkeit für eine problematische Kindheit. Allerdings wäre eine solche problematische Kindheit gerade ein Problem bei der Erlangung journalistischer Exzellenz.
    (2) MS hatte keine problematische Kindheit. Wie erlangte dann aber MS seine profunden Einsichten zum Verhältnis zwischen journalistischer Berufsübung und problematischer Kindheit?

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