Die Sperrklausel ist keine Lösung
Zur Diskussion über den Schutz der Arbeitsfähigkeit des Europäischen Parlaments
Am 29. März entschied der Bundeswahlausschuss über die Zulassung der Wahlvorschläge zur Europawahl 2024. 35 Parteien wurden zur Teilnahme an der Wahl am 9. Juni zugelassen. Das klingt zwar erstmal viel; doch auch 2019 traten 41 Parteien in Deutschland an, von denen 13 Parteien letztendlich ins Europaparlament einzogen. Davon waren sieben kleine Parteien (Die PARTEI, Freie Wähler, Tierschutzpartei, ÖDP, Piraten, Familie, Volt), die unter fünf Prozent der Stimmen und jeweils nur einen oder zwei Sitze erhielten. Für die Piraten, die Familienpartei und Volt reichten schon 0,7 Prozent der Stimmen für einen Abgeordneten in Brüssel. Das ist möglich, weil seit 2014, nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, in Deutschland keine Sperrklausel in den Europawahlen mehr angewandt wird.
Seitdem wird regelmäßig über die Wiedereinführung einer Zugangshürde bei den Europawahlen diskutiert. Das Argument der Befürworter lautet, dass sie die „wachsende Zersplitterung des europäischen Parlaments verhindern“und dessen Arbeitsfähigkeit sichern würde. Erst im Februar lehnte das Bundesverfassungsgericht einen Antrag von Die PARTEI gegen die deutsche Zustimmung zum Direktwahlakt 2018 ab, der unter anderem die Einführung einer Sperrklausel von mindestens zwei Prozent in Deutschland vorsieht.
Dabei ist fraglich, ob es tatsächlich die Anzahl kleiner Parteien im Europaparlament (EP) ist, die dessen Handlungsfähigkeit gefährdet. Die Gefahr geht eher von der zunehmenden Anzahl an rechtsextremen und antieuropäischen Abgeordneten aus, die es sich zum Wahlziel gemacht haben, eine Sperrminorität zu erreichen und damit das EP zu blockieren – und die nicht notwendigerweise aus kleinen Parteien stammen. Um die Handlungsfähigkeit des Parlaments zu sichern, sollten sich Politiker:innen darauf konzentrieren, Wählerstimmen für eine stabile pro-europäische Mehrheit zurückzugewinnen.
Über das Für und Wider von Sperrklauseln
In Deutschland gab es bis zur Europawahl 2009 wie bei den Bundestagswahlen eine Fünf-Prozent-Hürde. Dazu beschloss das Bundesverfassungsgericht anlässlich der ersten Europawahlen 1979, dass die Sperrklausel erforderlich sei, um die Fähigkeit des EP zur Erledigung seiner Aufgaben zu sichern. Doch obwohl das EP seit 1979 deutlich an Macht gewann, entschied das Bundesverfassungsgericht 2011, dass eine solche Sperrklausel nicht gerechtfertigt sei. Nach den Grundsätzen der Wahlrechtsgleichheit und Chancengleichheit muss jede Wählerstimme den gleichen Einfluss auf die Zusammensetzung des Parlaments und jede Partei die gleiche Chance bei der Verteilung der Sitze haben. Der Eingriff in diese Grundsätze sei im Falle des Europaparlaments, anders als beim Bundestag, nicht durch eine zu erwartende Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit des Parlaments gerechtfertigt: Ohne Sperrklausel in Deutschland würde zwar die Anzahl der Parteien im Europaparlament steigen, das werde aber die Funktionsfähigkeit des Parlaments nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit beeinträchtigen. Zentrale Arbeitseinheit seien die Fraktionen, die über eine hohe Integrationskraft verfügen würden. So hätten sich auch die mit der Erweiterung 2004 neu hinzugekommenen Parteien in die vorhanden politischen Gruppen einfügen können.
Nach dieser Entscheidung des Gerichts änderte der Gesetzgeber 2013 die Europawahlordnung und führte eine Drei-Prozent-Sperrklausel ein. Auch diese kassierte das Bundesverfassungsgericht 2014 mit der gleichen Begründung wie 2011. Die Europawahlen 2014 und 2019 fanden in Folge ohne Sperrklausel in Deutschland statt. Während 2004 fünf und 2009 sechs Parteien ins Europaparlament eingezogen waren, gewannen 2014 und 2019 jeweils 13 Parteien ein Mandat.
Auch in diesem Jahr wird es in Deutschland keine Hürde bei der Europawahl geben. Zwar beschloss der Rat der Europäischen Union 2018 eine Änderung des europäischen Direktwahlaktes, der eine Einführung einer Sperrklausel zwischen 2 und 5 Prozent für Mitgliedsstaaten mit mehr als 35 Sitzen vorsah. Dieser Direktwahlakt ist aber noch nicht in Kraft getreten, weil er noch nicht von allen Mitgliedsstaaten ratifiziert wurde. Auch Deutschland hatte seine Zustimmung ausgesetzt, bis das Bundesverfassungsgericht am 6. Februar 2024 erneut über die Einführung einer Sperrklausel entschied. Diesmal befand das Bundesverfassungsgericht den Antrag aber als unzulässig, da das Gericht, anders als in den vorangegangen Entscheidungen, bei einer Änderung des europäischen Wahlgesetzes nur eine begrenzte Prüfungskompetenz hat.
Dennoch ging das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung auf die Rolle und Funktionsfähigkeit des Europaparlaments ein. Der europäische Gesetzgeber könne zur Sicherung der Arbeitsfähigkeit des Europäischen Parlaments handeln. Seit der Wahl 2019 verfügten zwei Fraktionen nicht mehr über die absolute Mehrheit der Mandate und integrationskritische Parteien seien erstarkt. Beides würde das Risiko der Fragmentierung zukünftig erhöhen. Handlungsfähige Mehrheiten seien durch die zunehmende Zersplitterung des Parlaments, „insbesondere durch den Einzug von Kleinstparteien mit ein oder zwei Abgeordneten“, schwieriger zu bilden.
Keine Lösung
Dieses in der Diskussion um Sperrklauseln immer wiederkehrende Argument ist aber wenig überzeugend. Der Direktwahlakt 2018 sieht die Einführung einer Sperrklausel nur für Mitgliedsstaaten mit mindestens 35 Sitzen vor. Sie betrifft also nur Deutschland (96), Frankreich (81), Italien (76), Spanien (61) und Polen (53) (Sitze ab 2024). In diesen Ländern, außer in Deutschland und Spanien, gelten bereits Sperrklauseln zwischen 4 und 5 Prozent. Wenn Deutschland und Spanien bei der Europawahl 2019 eine Sperrklausel von 5 Prozent gehabt hätten, hätte das insgesamt 12 Abgeordnete betroffen. Hätte die Sperrklausel bei 2 Prozent gelegen wären nur insgesamt 4 Abgeordnete von kleinen Parteien nicht in das Parlament eingezogen. Bei 7511) Abgeordneten können weder 4 noch 12 Abgeordnete eine Zersplitterung verhindern.
Um die Anzahl der vertretenen Parteien signifikant zu reduzieren, wäre eine Fünf-Prozent-Hürde in allen Mitgliedsstaaten der konsequentere Ansatz. In der Praxis wären damit neben Deutschland und Spanien dann auch Italien, Belgien, die Niederlande, Griechenland, Österreich, Portugal und Schweden betroffen. Das sind die Länder, die noch keine Fünf-Prozent-Hürde und mindestens 20 Sitze im Parlament haben. In allen Ländern mit weniger als 20 Sitzen hätte eine Fünf-Prozent-Hürde in der Praxis meist keine Auswirkung, da ohnehin mindestens fünf Prozent der Stimmen für ein Mandat notwendig sind. Hätte es 2019 so eine generelle Fünf-Prozent-Hürde in allen Mitgliedsstaaten gegeben wären immerhin etwa 16 Parteien weniger in das Parlament eingezogen.
Wenn man davon ausgeht, dass auch bei den nächsten Wahlen die Mehrheitsverhältnisse ähnlich ausfallen wie 2019, wäre die Auswirkung der im Direktwahlakt 2018 vorgesehenen Sperrklausel in den großen Mitgliedsstaaten nicht weit genug, um die Handlungsfähigkeit des Parlaments zu sichern. Gleichzeitig würde sie neue und kleine Parteien aber de facto vom EP ausschließen. So eine Zugangshürde lässt außerdem die Arbeitsweise des Europaparlaments außer Acht.
Arbeitsweise und Arbeitsfähigkeit des Europaparlaments
Aktuell sind im Europaparlament mehr als 700 Abgeordnete aus rund 200 nationalen Parteien vertreten, was die Mehrheitsfindung a priori schwierig erscheinen lässt. Parteienzugehörigkeit bedeutet im Europaparlament aber nicht dasselbe wie etwa im Bundestag. Zum einen schließen sich die Abgeordneten im Europaparlament zu politischen Gruppen, vergleichbar mit Fraktionen, zusammen. In diesen politischen Gruppen können dann auch verschiedene Parteien aus einem Mitgliedstaat zusammenarbeiten. Zum anderen kooperieren die pro-europäischen Gruppen im Europaparlament flexibler als auf nationaler Ebene, da es keine klare Abgrenzung zwischen Regierungskoalition und Opposition gibt. Zwar werden die meisten Gesetzesinitiativen von den pro-europäischen Gruppen der Mitte getragen, es können aber für einzelne Vorschläge auch neue Mehrheiten gesucht werden.
Nach der Wahl 2019 haben sich acht der neun Vertreter2) der deutschen Parteien unter 5 Prozent, ebenso wie alle etablierten Parteien, einer politischen Gruppe im Europaparlament angeschlossen. So saßen beispielsweise die Vertreter:innen der Freien Wähler gemeinsam mit der FDP bei der liberalen Renew-Gruppe und die Vertreter der Piraten, der Tierschutzpartei und von Volt mit den Grünen bei der Gruppe der europäischen Grünen. Der Einzug kleiner Parteien ins EP hat also weder die Anzahl der Fraktionen noch die der Fraktionslosen wesentlich beeinflusst.
Mögliche Mehrheiten im Europäischen Parlament werden auf der Ebene der politischen Gruppen gefunden, und nicht auf der Ebene der vertretenen nationalen Parteien. Natürlich könnte es sein, dass es mit mehr nationalen Parteien innerhalb der Fraktionen schwieriger wird, gemeinsame Positionen zu finden und gemeinsam abzustimmen. Zum einen rechtfertigt dieses theoretische Risiko allein aber noch keine Sperrklausel und zum anderen würden die vorgeschlagenen Sperrklauseln die Anzahl der vertretenen Parteien im EP eben nicht maßgeblich verringern.
Inwiefern die Vertreter von kleinen Parteien die Arbeitsfähigkeit des europäischen Parlaments grundsätzlich beeinflussen, hängt also maßgeblich davon ab, ob sie vorhaben, konstruktiv in einer der europäischen Gruppen mitzuarbeiten – nicht wie viele sie sind. Das sollte von den Kandidat:innen kleiner Parteien vor der Wahl verbindlich kommuniziert werden. So könnte die Anzahl der Fraktionslosen verringert und die Sichtbarkeit der europäischen Gruppen auf deutscher Ebene verbessert werden. Außerdem könnten sich Abgeordnete zu einer höheren Fraktionsdisziplin verpflichten.
Das bedeutet allerdings nicht, dass es keine anderen guten Gründe für eine einheitliche europäische Sperrklausel gibt. So wird unter dem jetzigen System die Verteilung der Sitze im Parlament dadurch verzerrt, dass in Deutschland und Spanien kleine Parteien Mandate gewinnen können, in Frankreich und Italien aber beispielsweise nicht. Die Interessen kleiner deutscher Parteien sind dadurch überrepräsentiert. Hinzu kommen weitere Verzerrungen, die dazu führen, dass für jedes Land sehr unterschiedlich viele Stimmen für einen Sitz erforderlich sind: Durch die degressive Proportionalität für die Verteilung der Sitze auf die Mitgliedsstaaten, also das System nach dem große Länder zwar mehr Mandate bekommen, kleine Länder aber mehr Abgeordnete pro Einwohner, kommen in Deutschland etwa 645.000 Wahlberechtigte auf einen Sitz während es in Malta nur 50.000 sind. Auch die schwankende Wahlbeteiligung führt dazu, dass unterschiedlich viele Stimmen für ein Mandat notwendig sind. 2009 reichten in der Slowakei bei einer Wahlbeteiligung von 22,72 Prozent schon knapp 48.000 Stimmen, in Dänemark, das ähnlich groß ist, waren es bei einer Wahlbeteiligung von 66,08 Prozent 150.000 Stimmen. So ist der Grundsatz, dass jede Wählerstimme den gleichen Einfluss auf das Ergebnis der Wahl hat, beträchtlich eingeschränkt. Eine einheitliche Zugangshürde könnte zumindest einem Aspekt dieser Verzerrung entgegenwirken.
Zusammensetzung und Mehrheiten im Europaparlament
In den letzten Jahren haben die großen, etablierten Volksparteien in Deutschland und in anderen europäischen Ländern deutlich an Unterstützung verloren. Davon profitieren verschiedene Akteure, zuletzt waren es besonders häufig populistische Parteien am rechten Rand des politischen Spektrums. Diese Entwicklung spiegelt sich auch auf europäischer Ebene. Seit der ersten Wahl 1979 erhielten die beiden großen Volksparteien, die christdemokratische Europäische Volkspartei (EVP) und die sozialdemokratische S&D fast durchgängig zusammen mehr als 50 Prozent der Stimmen. Nach der Wahl 2019, bei der sie knapp 39 Prozent der Stimmen erhielten, waren sie auf die Stimmen der liberalen Renew-Fraktion angewiesen, um eine Mehrheit im Parlament zu bilden.
Die Mehrheit dieser Koalition (EVP+S&D+Renew) wird nach der Wahl im Juni voraussichtlich weiter schrumpfen. Es wird erwartet, dass die nationalistische und rechtsextreme Identität und Demokratie-Gruppe und die in weiten Teilen europaskeptische und rechtspopulistische Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer große Gewinne erzielen.
Eine pro-europäische „Große Koalition“ aus EVP, S&D und Renew hätte nach Prognosen zwar noch eine Mehrheit von rund 390 von 720 Sitzen. Dabei ist aber zu berücksichtigen, dass im Europaparlament tendenziell größere Mehrheiten als beispielsweise im Bundestag notwendig sind, um verlässlich zu sein, da einzelne Abgeordnete bei umstrittenen Themen unter Umständen doch nach nationalen Interessen – und gegen die Linie ihrer europäischen Parteienfamilie – abstimmen. Die erwarteten knapp 30 Prozent der Sitze der anti-Europäischen Gruppen könnten so in einzelnen Fällen ausreichen, um eine Sperrminorität zu bilden und die Arbeit des Parlaments zu blockieren. Dies ist auch das ausgewiesener Ziel einiger rechter Politiker.
Interessanterweise könnte eine Sperrklausel in Deutschland aktuell gerade den rechten Parteien nutzen. Denn von ihr würden alle Parteien profitieren, die wegen des Wegfalls der kleineren Parteien mehr Sitze bekämen. Auch die AfD hätte 2019 mit einer Sperrklause mehr Sitze erhalten – eine Partei die in ihrem Wahlprogramm fordert, das Europaparlament abzuschaffen.
Es braucht eine pro-europäische Mehrheit
Eine Sperrklausel stellt einen Eingriff in die Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit und Chancengleichheit dar, die im Europaparlament nicht durch die Sicherung seiner Handlungsfähigkeit gerechtfertigt ist: Die aktuell zur Debatte stehenden Wahlreformen mit Hürden zwischen 2 und 5 Prozent für große Mitgliedsstaaten betreffen zu wenig Abgeordnete, um einen Einfluss auf die Handlungsfähigkeit des Europaparlaments zu haben. Gleichzeitig würde sie den Einzug neuer und kleiner Parteien aber de facto unmöglich machen.
Theoretisch kann es natürlich sein, dass eine noch heterogenere Zusammensetzung es schwieriger für die europäischen Gruppen macht, sich auf Positionen zu einigen und Mehrheiten zu finden. Mit Blick auf die Prognosen für das nächste Parlament scheint aber vielmehr die wachsende Anzahl von euroskeptischen und rechtsextremen Abgeordneten die Handlungsfähigkeit des Parlaments zu gefährden. Mitgliedsstaaten sollten sich weiter für ein einheitliches europäisches Wahlrecht einsetzen. Kurz- und mittelfristig sollten sich Politiker:innen aber darauf konzentrieren, Wählerstimmen für eine stabile pro-europäische Mehrheit zurückzugewinnen, um die Funktionsfähigkeit des Parlaments zu sichern. Ob diese sich aus vielen kleinen Parteien oder wenig großen Parteien zusammensetzt, ist dabei unerheblich.
Das Problem mit Sperrklauseln – also dass Wählerstimmen wegfallen können – lässt sich durch die Einführung von Ersatzstimmen größtenteils lösen: wenn Partei X unter Sperrklausel-% liegt, rutscht die Stimme für X je nach Wahlzettel-Kreuzchen z.B. zur Partei Y. So entscheidet der Wähler selbst. und auch das Taktieren fällt weg.