Dilemma Demokratieschutz
Ein Dilemma zeichnet sich durch einen Entscheidungszwang zwischen mehreren Varianten aus, ohne dass es eine unzweifelhaft richtige Lösung gibt. In ein Dilemma scheint auch die Abwehr des „Autoritären Nationalradikalismus“ der AfD zu führen. Die AfD zu verbieten, um ihre auf Destabilisierung gesellschaftlicher und staatlicher Institutionen und „Systemwechsel“ angelegte Politik zu unterbinden, wäre ebenso misslich wie die Augen vor ihrer Gefährlichkeit, ihren Erfolgen und Wahlaussichten zu verschließen und allein auf die demokratische Resilienz der Bevölkerung zu vertrauen.
Entscheidungsvarianten
Weder allein auf ein Parteiverbot zu setzen noch ausschließlich auf die Mobilisierung der gesellschaftlichen Abwehrkräfte zu hoffen, ist risikolos. Bei einem Verbotsantrag – würden sich denn Antragsteller finden – muss ein Scheitern ins Kalkül gezogen werden. Jedenfalls ist nach den bisherigen Erfahrungen mit einer langen Verfahrensdauer zu rechnen, die wohl über die nächste Bundestagswahl 2025 hinausreichen wird. Wie die Anhängerschaft reagierte, wäre ungewiss. Nicht auszuschließen sind eine aggressive Mobilisierung bis hin zu gewalttätiger Radikalisierung von Teilgruppen. Und selbst bei einem Verbotserfolg wäre das Problem nicht vom Tisch, denn staatliche Repression erzeugt rechtsextremistische „Innovation“: Man erfindet sich immer wieder neu, wie die zahlreichen Verbote rechtsextremistischer Gruppierungen gezeigt haben. Zudem senden die antragstellenden Institutionen (Bundestag, Bundesregierung, Bundesrat jeweils allein oder gemeinsam) an die Bevölkerung unweigerlich ein Signal des Misstrauens aus: Die Bevölkerung sei möglicherweise doch nicht so demokratiefest, dass ihr bei fortlaufenden Krisen und der auflaufenden Bereitschaft, die AfD zu wählen, über den Weg zu trauen wäre. Eben dieser Umstand ließe sich von der AfD wiederum emotional ausbeuten und als „antidemokratischer Akt gegen das deutsche Volk“ instrumentalisieren. Das gesellschaftliche und politische Problem in eine juristische Bearbeitung zu verschieben, hat eine schwergewichtige unbeabsichtigte Nebenfolge: Die politischen Parteien und auch die Bevölkerung sind raus aus dem Klärungsprozess und es ist anzunehmen, dass dann alles weitergeht wie bisher.
Wer stattdessen den politischen Weg geht, muss bei der Mobilisierung der Zivilgesellschaft – beispielhaft die Großdemonstrationen zu Beginn des Jahres 2024 – mit unsicheren Wirkungseffekten rechnen und längeren, kaum überschaubaren Zeiträumen rechnen. Zudem wären Repräsentationslücken1) im politischen Raum und in den Repräsentativorganen vor allem in Ostdeutschland durch eine stärker sozialintegrative Politik zu schließen und zugleich die autoritären Treibsätze primär der Migrationspolitik zu entschärfen. Selbst wenn das gelänge, müsste bei anhaltenden AfD-Wahlerfolgen berücksichtigt werden, dass die verschiedenen Verfassungen und parlamentarischen Geschäftsordnungen auf Länderebene dem „Autoritären Nationalradikalismus“ institutionelle Machtoptionen eröffneten. Insgesamt hat diese Variante den Vorteil, dass Parteien, Verbände und auch die Zivilgesellschaft die drängende Verantwortung spüren, dass ein „Weiter so“ nicht zukunftsfähig ist für eine pluralistische Gesellschaft und die liberale Demokratie und neue, verstetigte Formen politischer Partizipation entwickelt werden müssen – zumal die „Treiber des Autoritären“2) global Wirkung erzielen.
Überlegungen zum Parteiverbot
Die hier erörterten Bedenken betreffen ausdrücklich nur die dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) vorbehaltene Feststellung der Verfassungswidrigkeit einer Partei gemäß Art. 21 Abs. 2 GG. Sie gelten nicht für ein Verbot von Vereinigungen, das Art. 9 Abs. 2 GG der Exekutive, also der Bundesministerin des Innern, überantwortet. Nach dem Beschluss des VG Köln, die AfD-Jugend (JA) könne als „gesichert rechtsextrem“ eingestuft werden, gibt es vorerst keinen zwingenden rechtlichen Grund, den völkisch-abstammungsmäßigen Volksbegriff und die xenophobe Agitation der JA als pubertäre Jugendsünden abzubuchen (VG Köln Urt. v. 05.02.2024 – 13 K 3219/23. Vgl. auch Urteil des VG Köln vom 08.03.2022 – Az. 13 K 208/20).
Zur Geschichte der Parteiverbote
Vier Verbotsverfahren sind zu registrieren, zwei davon endeten mit einem Verbotsausspruch, zweimal scheiterte der Verbotsantrag.3) Gleichsam als Morgengabe für die Alliierten wurden die Sozialistische Reichspartei (SRP) 1952 und die Kommunistische Partei (KPD) 1956 für verfassungswidrig erklärt. Wegen des Drucks der Alliierten im Fall der SRP und des nicht überzeugenden Begründungskonvoluts im KPD-Urteil liefern beide Entscheidungen keine überzeugenden Maßstäbe. Die der AfD ideologisch nahestehende SRP ließ sich wegen ihrer „Wesensverwandtschaft“ mit der NSDAP umstandslos verbieten. Im KPD-Urteil erging sich das BVerfG in einer mäandrierenden Analyse des Marxismus-Leninismus und der Programmatik der KPD und endete beim Verbot, obwohl die bloße Ablehnung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung des GG in Gestalt des Programms einer „Diktatur des Proletariats“ – also eine ideologische Agenda – als Verbotsgrund nicht ausreichen sollte. Hinzukommen müsse, so das BVerfG, eine „aggressiv kämpferische Grundhaltung“. Nach heutigen Vorstellungen von Verhältnismäßigkeit wäre die KPD schwerlich verbotswürdig gewesen.4) Im Leitsatz Nr. 4 der NPD-Entscheidung von 2017 führt das BVerfG dazu aus:
„Der Begriff des Beseitigens der freiheitlichen demokratischen Grundordnung bezeichnet die Abschaffung zumindest eines ihrer Wesenselemente oder deren Ersetzung durch eine andere Verfassungsordnung oder ein anderes Regierungssystem. Von einem Beeinträchtigen ist auszugehen, wenn eine Partei nach ihrem politischen Konzept mit hinreichender Intensität eine spürbare Gefährdung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung bewirkt“
Von den beiden gescheiterten Verbotsverfahren gegen die NPD wurde das erste 2003 wegen mutmaßlicher Unterwanderung der Partei durch den Verfassungsschutz eingestellt. Im zweiten Verfahren sah das BVerfG wegen der mangelnden Bedeutung der Partei und fehlenden Aussicht auf Durchsetzung ihrer verfassungswidrigen Ziele von einem Verbot ab. In einer Entscheidung von 2024 zum neu eingeführten Art. 21 III 1 GG bekräftigte das BVerfG den Ausschluss „verfassungsfeindlicher“ Parteien von der staatlichen Finanzierung als verfassungskonforme Option (keine „gleichheitswidrige Benachteiligung“). Im Zweifel ist und im konkreten Fall der NPD war diese Option gewiss leichter zu begründen als die ultima ratio, das Parteiverbot gemäß Art. 21 II GG.
Verhältnismäßigkeit und Schutzgut
Aus der Perspektive des Rechts der EMRK und des GG ist das Prinzip der Verhältnismäßigkeit von zentraler Bedeutung. In der Rechtsprechung des EGMR hat dieser Grundsatz eine unscharfe Kontur und bleibt abstrakt: Verbotsgründe müssen „überzeugend und zwingend“ sein.5) In der zweiten NPD-Entscheidung verlangte das BVerfG, dass „eine Partei nach ihrem politischen Konzept mit hinreichender Intensität eine spürbare Gefährdung eines der Wesenselemente der freiheitlichen demokratischen Grundordnung bewirkt“. Die Verfassungswidrigkeitserklärung sei kein „Gesinnungs- oder Weltanschauungsverbot“, es sei auch auf die Erfolgsaussichten („von Gewicht“) abzustellen. So vermittelt sich die Gefährlichkeit einer Partei der Verhältnismäßigkeit eines Verbots. Mit dieser Akzentverschiebung werden Verbotsanträge, von dem die Vorstellungswelt der 50er Jahre prägenden, heute wenig realistischen Bild der staatsgefährdenden Umsturzpartei abgelöst und justiert auf die gebotene, restriktive Auslegung von Art. 21 Abs. 2 GG. In den Mittelpunkt rückt das Verhalten einer Partei und ihrer Anhänger gegenüber Andersdenkenden. Es bedarf nicht des Nachweises von Umsturzversuchen oder manifesten Gewaltakten.
Hinsichtlich des Schutzgutes freiheitliche demokratische Grundordnung (FdGO) ist nicht ausgemacht, welchen Weg das BVerfG einschlagen könnte. Die Achtung der Menschenrechte sollte gegenüber dem Aspekt von Ordnung und Stabilität Vorrang haben. Eine „Verfassungsstörung“ ließe sich dann überzeugender auf die Sicherung der Offenheit und Freiheitlichkeit eines demokratischen Meinungs- und Willensbildungsprozesses stützen. Aktuell wäre also nachzuweisen, dass die AfD konkret erwarten lässt, Individuen und Gruppen mit Drohungen und Gewalt aus dem öffentlichen Raum zu vertreiben (Stichwort: „Remigration“) oder ihnen ihren persönlichen Lebensraum zu nehmen.6)
Zurechnung
Ein solcher Nachweis setzt voraus, dass die AfD in ihrem Kurs aggressiv-kämpferische Militanz gegenüber Minderheiten zum Ausdruck bringt. Schwierig zu beantworten ist, was einer Partei nach welchen Kriterien zugerechnet werden kann. Die Antwort von Art. 21 Abs. 2 GG ist unbestimmt: eine Partei muss „nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger“ darauf ausgehen, das Schutzgut FdGO teilweise oder ganz zu beseitigen. Der erste Schritt dieser Prüfung gestaltet sich schwierig, weil eine Partei schwerlich sehenden Auges ihre verfassungswidrigen Ziele offenlegt. Auch die AfD bedient sich in ihrem Programm verfassungsrechtlich unangreifbarer Formulierungen und Codierungen.7)
Die Zurechnung von einzelnen Äußerungen der Funktionäre zum Kurs einer Partei ist gleichfalls heikel. Zunächst muss die sich äußernde Person kraft Status, Funktion oder Publikation in einem Parteiorgan legitimiert sein, für die Partei zu sprechen. Demgemäß sind Mandatsträger und leitende Parteikader, exemplarisch der thüringische Landesparteichef Björn Höcke, unstreitig legitimiert. Allerdings müssten zuständige Parteigremien die Äußerungen zur Programmatik unterstützen oder durch Nicht-Distanzierung dulden.8) Eine Zurechnung kommt nicht in Betracht, wenn es sich um nach dem Erscheinungsbild und der Programmatik der Partei erkennbare Entgleisungen („Ausreißer“) handelt, von denen sich die zuständigen Parteigremien eindeutig und plausibel distanziert haben.9)
Besonders problematisch ist, inwieweit sich eine Partei die Verhaltensweisen von Anhänger:innen zurechnen lassen muss. Zwar umfasst der weite Anhängerbegriff alle Personen, die sich für eine Partei einsetzen und ihren Kurs mittragen. Doch je weiter sich der Kreis der Handelnden von der Parteispitze entfernt und die Einflussmöglichkeiten auf den Kurs der Partei schwinden, desto strenger ist der Nachweis der Zurechnung zu führen. So werden Straftaten und insbesondere Gewaltakte einzelner Anhänger:innen bei der Verbotsprüfung nur dann berücksichtigt, wenn sie eine Grundtendenz der Partei manifestieren.
Eine Zurechnung scheitert häufig daran, dass sie zugeschnitten ist auf die Situation nicht-taktischen Verhaltens und auf Parteiorganisationen, die mehr oder weniger dem Muster einer Mitglieder- und Wahlpartei mit zentralisierten Verantwortungsstrukturen entsprechen. Dem widerspricht die Taktik einer extremistischen, vom Verbot bedrohten Partei. Sie ist in aller Regel gerade darauf ausgerichtet, verfassungswidrige Parteiziele zu verschleiern und/oder durch Sympathisanten, locker assoziierte Organisationen und Netzwerke verfolgen zu lassen.
„Wesensverwandtschaft“ der AfD?
Ob sich die AfD – wie seinerzeit die SRP – die „Wesensverwandtschaft” mit der NSDAP entgegenhalten lassen muss, ist zweifelhaft. Zum einen ist ungewiss, ob das BVerfG an diesem Verbotstopos festhält oder neue verfassungsrechtliche Maßstäbe, wie die erwähnte menschenrechtliche Begründung, entwickelt. „Wesensverwandtschaft“ verlangt den Nachweis, dass es sich bei der AfD schon gar nicht nur um eine „rechtspopulistische“, sondern eine rechtsextremistische und spezifisch neo-nationalsozialistische Partei handelt. Hier trägt auch die Verlegenheitsformel des Verfassungsschutzes, die AfD sei eine „in Teilen“rechtsextremistische Partei, nicht wirklich zur Klärung und Absicherung der Erfolgsaussichten eines Verbotsantrages bei. Im Gegenteil: sie wirft die Frage auf, wie denn die anderen Teile der Partei zu charakterisieren seien.
Probleme der gesellschaftlich-politischen Abwehr
Der Weg über die zivilgesellschaftliche und politische Abwehr des „Autoritären Nationalradikalismus“ ist kein Garant für den Schutz von Pluralität und Demokratie, zumal die AfD mit ihrem Kulturkampf eine neue, für erhebliche Teile der Bevölkerung attraktive Erfolgsspur gelegt hat. Die autoritären Versuchungen der AfD-Strategie mit ihren Ingredienzen „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ und „rohe Bürgerlichkeit“ lassen sich keineswegs mit der politischen Selbsttäuschung als „Protest“ wegfabulieren.
Autoritäre Versuchungen
Das Autoritäre zielt auf ein Gesellschaftsmodell mit traditionellen Lebensweisen und Geschlechterrollen, durchsetzt von Hierarchien, Kontrollpolitik und ethnischer Homogenität. Pluralität und Diversität werden abgelehnt. Es verbrüdert sich mit dem Nationalistischen im Konzept der AfD, das die Überlegenheit deutscher Kultur betont, eine Untergangsrhetorik des deutschen Volkes und ausgrenzende Identitätspolitik forciert, Deutsch-Sein als Identitätsanker in entsicherten Krisenzeiten und eine Neudeutung deutscher Geschichte anbietet. Wirtschaftspolitisch heißt dies: Deutschland zuerst. Und schließlich machen die Ideen einer brachialen Remigrationspolitik – zunächst insgeheim – die Runde. Das Radikale zeigt sich in aggressiven, auf Feindbildern und Angriffsmodi aufbauenden Kommunikations- und Mobilisierungsstilen, deren Wirkung sich durch Zugriff auf digitale Medien wie Meta, X oder Tiktok entfaltet.
Die AfD hat sich in diesem immer wichtiger werdenden Terrain – insbesondere für jüngere Personen – im Unterschied etwa zur NPD als moderne Partei entwickelt. Dabei macht sie sich auch den „neuen Strukturwandel der Öffentlichkeit“ (Jürgen Habermas) zunutze. Digitale Medien fragen nicht nach Ideologien. Sie bedienen auch das rechte Spektrum mit einem eigenständig gestaltbaren und nutzbaren Mobilisierungs- und Resonanzraum, zusätzlich munitioniert mit Verschwörungsideologien. Das Entscheidende: Ein Parteiverbot könnte diesen Raum weder schließen noch eindämmen; die autoritären Versuchungen könnten weiter propagiert werden. Überdies hat die mit Hass, Verachtung und Ressentiments aufgeladene Rhetorik längst außerhalb des Lagers der AfD bei den etablierten „Volksparteien“ ihre Abnehmer gefunden. Diese Konstellationen und Tendenzen müssten eine gesellschaftliche und politische Abwehr berücksichtigen.
„Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ und „rohe Bürgerlichkeit“
„Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ war bereits vor der Gründung der AfD vorhanden. Und Wechselwähler waren schon früher wahlpolitisch „vagabundierend“ zwischen den großen Volksparteien unterwegs. Aber spätestens 2015 mit der Flüchtlingsbewegung erhielten sie einen (partei)politischen Fixpunkt, den vor allem die AfD besetzen konnte. Inzwischen scheint ihre Wählerschaft stabil zu sein, jedenfalls ist länderübergreifend die Vergrößerung des Resonanzraumes bis in die „roh