Drei Krisen und ein Waiver
In der Debatte um die Aussetzung (“Waiver”) des internationalen Patentschutzregimes für Corona-Impfstoffe, angefacht durch die überraschende Unterstützung der USA und den Widerstand der deutschen Bundesregierung, bündeln sich gleich drei große Krisen unserer Zeit: die Corona-Krise, die Krise der WTO und die Krise des “geistigen Eigentums”. In der ersten geht es um Public Health, in der zweiten um Wirtschaftsvölkerrecht, in der dritten um Immaterialgüterrecht. An Leuten, die zu einem oder zwei davon sowohl Expertise als auch starke Meinungen haben, herrscht kein Mangel. Zu allen dreien können sich nur wenige gleichermaßen kompetent äußern, und ganz bestimmt nicht wir.
Corona, Impfstoffe und der Globale Süden
Weshalb wir stattdessen mal bei Jayashree Watal angerufen haben. Die beschäftigt sich seit mehr als dreißig Jahren mit dem Dilemma Patentschutz v. Zugang zu Medikamenten, war 18 Jahre lang bei der WTO für diese Themen zuständig und hat 1989/90 als Mitglied der indischen Delegation bei den Verhandlungen für das TRIPS-Abkommen dafür gesorgt, dass der Vertrag in Public-Health-Krisen Zwangslizenzen zulässt. Heute lehrt sie als Professorin u.a. an der Georgetown-Universität in Washington. Und was sagt sie?
Es stimmt natürlich, sagt sie: “Impfgerechtigkeit findet nicht statt. Mit den besten Absichten oder Bemühungen, aber es passiert nicht.” Aber wird ein Waiver des Patentschutzregimes als solcher daran etwas ändern können? “Nein. Das wird er nicht. Das ist klar.”
Hersteller von generischen Medikamenten im Globalen Süden seien in der Lage, ein patentiertes Molekül – etwa ein HIV-Medikament – oder bestimmte biologische Produkte zu reproduzieren. Aber es sei eine andere Sache, einen modernen mRNA- oder Vektor-Impfstoff in großen Mengen ohne die Kooperation und Anleitung des Unternehmens zu produzieren, das ihn ursprünglich entwickelt hat. Wenn ein Land die geistigen Eigentumsrechte dieses Unternehmens suspendiert, werde es nicht wahrscheinlicher, dass dieses bereitwillig kooperiert – eher im Gegenteil. “Ein Waiver hilft, die Generikahersteller vor Patentklagen zu schützen. Aber ohne die Kooperation der Erfinder werden sie gar nicht erst so weit kommen.” Hinzu kommt, dass nicht alles, was man zur Herstellung dieser Impfstoff-Generika braucht, patentiert und damit in der Patentanmeldung offengelegt ist. Vieles wird nicht über das Patentrecht, sondern durch Geheimhaltung vor Konkurrenten geschützt. “Man kann die Firma, die diese Geheimnisse hat, nicht zwingen, sie an einen weiterzugeben.”
Warum also drängt Indien, zusammen mit Südafrika, so vehement auf einen Waiver? “Indische Generikahersteller wollen diese Produkte herstellen”, sagt Jayashree Watal. “Natürlich wollen sie das. Jede Firma will ein Stück von diesem enorm profitablen Kuchen, den die Covid-19-Impfstoffe darstellen, abhaben. Aber was sie wollen, sind freiwillige Lizenzen.” Der Vorschlag Indiens und Südafrikas kann als “indirekter Versuch gesehen werden, Druck auf die Originalhersteller auszuüben, damit sie kooperieren. Ob es funktioniert oder nicht, ist eine andere Sache.” Was der Vorschlag jedenfalls nicht erreichen wird, ist eine Beschleunigung der Covid-19-Impfrate in Indien oder anderen Teilen des globalen Südens.
Die Dauerkrise der WTO
Eine Möglichkeit, um Impfstoffe global und gerecht zu verteilen wäre, einen “Internationalen Pandemiefond” zu errichten, wie ihn Jayashree Watal vorschlägt. Maßgeblich (vor-)finanziert von der EU und den USA würde eine solche Organisation Geld und Expertise bereitstellen und mit einem schlanken Entscheidungsverfahren die notwendigen Güter ohne viel Federlesen dort verteilen, wo sie gebraucht werden. Nach Ansicht von Watal wäre das auch kurzfristig möglich und könnte schon diese Pandemie multilateral bekämpfen.
Das wäre natürlich toll, wenn es das gäbe und praktisch funktionieren würde. In der Vergangenheit, daran muss man heutzutage ausdrücklich erinnern, war übrigens die WTO mal der Neid aller anderen multilateralen Rechtsregime, weil sie so gut funktionierte. Nicht nur mit seinen rund 60 Abkommen, die die Rechte und Pflichten der Mitglieder zum Teil sehr detailliert regeln, hebt sich das System deutlich von vielen anderen Bereichen des Völkerrechts ab, die selten so umfangreich kodifiziert sind. Als “Juwel in der Krone” der WTO gilt aber zweifellos der Streitbeilegungsmechanismus, der nicht nur zwingend ist, sondern auch ein Berufungsverfahren bietet und dessen Entscheidungen – zumindest im Vergleich zu anderen internationalen Regelungssystemen – auch effektiv durchsetzbar sind. Ob die WTO in dieser Pandemie die Erwartungen erfüllen kann, die manche an sie stellen, scheint unwahrscheinlich, denn seit Jahren steckt die WTO in der Krise. Das größte Problem dürfte der Entscheidungsprozess sein: Entscheidungen werden hier in der Regel im Konsens getroffen. Das gilt auch für die Entscheidung über den Waiver. Es braucht also nur eines der 164 Mitglieder nicht mitzuziehen, und der Waiver bleibt nichts als eine schöne Idee. Es wäre nicht das erste Mal, dass der Organisation das Konsensprinzip auf die Füße fällt.
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The International Doctorate Program „Business and Human Rights” (IDP B&HR) invites applications for 12 doctoral research positions (4-year contracts) starting 1 Nov 2021. Funded by Elite Network of Bavaria the IDP B&HR establishes an inter- and transdisciplinary research forum for excellent doctoral projects addressing practically relevant problems and theoretically grounded questions in the field of business and human rights. Research in the IDP B&HR will focus on four distinct areas:
- Global value chains and transnational economic governance
- Migration and changing labour relations
- Digital transformation
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The IDP B&HR will be affiliated with the Universities of Erlangen-Nürnberg, Bayreuth and Würzburg.
Applicants need an excellent university degree at master’s level in a relevant discipline (law, management, sociology, political, or information science) and are expected to have very good English proficiency.
Applications must be sent in a single PDF document by 15 June 2021 to humanrights-idp@fau.de. The full call can be found here.
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Die Krisenanfälligkeit dieses Entscheidungsfindungssystems begann sich schon vor etwa 20 Jahren abzuzeichnen – bei einer Organisation, die vor gut 26 Jahren ihre Arbeit aufgenommen hat. 2001 starteten die Verhandlungen zur Doha-Runde, mit der die Belange von Entwicklungsländern im Welthandelssystem gestärkt werden sollten. Bis 2005 sollten sie abgeschlossen sein. Sie sind es bis heute nicht und gelten als gescheitert. Seit Ende 2019 ist außerdem ein wesentlicher Teil des WTO-Streitbeilegungssystems lahmgelegt. Die US-Regierung, damals noch unter Trump, hatte die Ernennung der neuen Mitglieder des Appellate Body, des Berufungsorgans, blockiert. Seitdem laufen Berufungen gegen Entscheidungen der ersten Instanz ins Leere.
Bei aller Verrechtlichung, die das Welthandelssystem mit der WTO gebracht hat, ist das Konsensprinzip im Kern ein politisch-diplomatisches, das noch auf dem GATT basiert, dem Vorläufer der WTO. Es mag souveränitätsschonend sein, ist aber schwerfällig, wenn es bei einer so großen Zahl von Mitgliedern überhaupt praktikabel ist. Dass Änderungen der Verträge in der Regel als Pakete verhandelt werden und bei der Entscheidung dann das „Alles-oder-Nichts“-Prinzip zusätzlich zum „Alle-oder-Keiner“-Prinzip gilt, hilft da nicht unbedingt. Das spiegelt sich auch in den Verträgen wider. Sie sind ein Relikt der späten 1980er und frühen 1990er Jahre. Nach „digitalen Dienstleistungen“ etwa sucht man in den Kernabkommen vergeblich.
Stirbt die WTO also wegen ihrer Handlungsunfähigkeit zwangsläufig einen langsamen Tod? Nicht unbedingt. Schon beim Debakel rund um die Ernennung der Appellate-Body-Mitglieder hat Ernst-Ulrich Petersmann darauf hingewiesen, dass Entscheidungen im Abstimmungsverfahren nach Art. IX:1 des Marrakesch-Abkommens möglich sind: Wenn ein Konsens nicht möglich ist, wird mit Mehrheit abgestimmt. Mit „Merkels Kriegserklärung“ gegenüber der Aussetzung von Patentrechten sind diese Stimmen schon jetzt wieder lauter geworden. Bislang haben die Mitglieder der WTO von dieser Möglichkeit noch keinen Gebrauch gemacht, und es wäre eine Art Systembruch. Aber vielleicht ist es an der Zeit, ganz generell darüber nachzudenken, ob das Konsensprinzip noch taugt, grundlegende Entscheidungen der Organisation zu treffen. Für den Augenblick scheint es zumindest so, als hätte die WTO ohnehin nicht mehr viel zu verlieren.
Eigentum als Ausschlussrecht
Was herkömmlicherweise so erzählt wird, um das Recht zur exklusiven Verwertung von materiellen wie immateriellen Gütern zu rechtfertigen, hat es in diesen Zeiten ja öfter mal nicht mehr ganz leicht noch geglaubt zu werden, ob im Wohnungsbau, im Wissenschafts-Publishing oder in der Softwareentwicklung. Im Fall von Pharma-Patenten lautet die Erzählung, dass kein Hersteller das Risiko, die Kosten für Forschung und Entwicklung vorzufinanzieren und unterwegs womöglich zu scheitern, noch auf sich nehmen wird, wenn der nächstbeste Wettbewerber einfach kommen und sein Produkt kopieren kann, ohne all diese Kosten zu bezahlen. Für Medikamente, die Ärzt_innen verschreiben und Kranke in der Apotheke kaufen, ist das vollkommen plausibel. Aber für staatlich finanzierte und betriebene Impfkampagnen? Leistungen, die der Staat von vornherein bestellt, bezahlt und abnimmt?
Generell fällt es nicht ganz leicht zu verstehen, wozu ein Pharmakonzern, um sich auf einen derart risikolosen Deal einzulassen, obendrein auch noch ein exklusives Nutzungsrecht benötigt. Schon gar nicht leuchtet ein, dass sich diese Exklusivität auch auf Länder erstrecken soll, mit und in denen sowieso kein Geschäft zu machen ist, weil sie dafür zu arm sind. Bleibt also wieder einmal nur die Erzählung selbst: das Rütteln am Patentschutz generell, was das für disruptive Wirkungen haben und für Schäden an der Glaubwürdigkeit des Systems anrichten kann! So berechtigt diese Warnung sicher ist, so wenig versteht es sich von selbst, dass ein wenig Disruption in diesem Fall notwendig eine schlechte Sache wäre.
Wer ein Patent bekommt, erwirbt damit ja ein Monopol auf Zeit nicht nur als Lohn für seine Risiko- und Investitionsbereitschaft. Der Deal ist auch, dass er, weil sein Vorsprung ja abgesichert ist, seine Forschungs- und Entwicklungserfolge nunmehr furchtlos offen legen kann, anstatt sie vor den Blicken der Öffentlichkeit zu verbergen. Das scheint aber nicht zu funktionieren, wenn die Hersteller einen Teil des Wissens, das für die Herstellung ihrer Produkte notwendig ist, als Geschäftsgeheimnis geheim halten, so dass man ohne ihre Kooperation gar keine Generika herstellen könnte, selbst wenn man dürfte. So können sie den Kuchen haben und essen, was für sie sicherlich sehr angenehm und mancherorts ja sogar regelrecht Regierungsmaxime, aber trotzdem keine dauerhaft tragfähige Lösung ist.
Andererseits: anklagend auf die Pharmakonzerne zu zeigen ist sicherlich immer ebenso billig wie gerecht, sollte aber niemanden darüber hinwegtäuschen, dass es unsere höchsteigenen Regierungen sind, die es verabsäumt haben, auf entsprechenden Regelungen in ihren Impfstoffverträgen zu bestehen und überhaupt das internationale Patentregime auf eine weniger dysfunktionale Weise zu gestalten. Dass die Pandemie eine globale Pandemie ist und es nicht lang allein ein Problem des Kongo bleibt, wenn man im Kongo keinen Zugang zu Impfstoff hat, hätte man als US-Regierung oder EU-Kommission schon wissen können. Jetzt ist es zu spät, und das Ergebnis ist, dass wieder einmal der nördliche Teil der Corona-Inzidenzweltkarte sich mit fortschreitendem Impffortschritt jetzt erstmal in immer zarterem Rosa aufhellt und der Süden dafür in immer dunklerem Rot versinkt. Möge aus dieser Katastrophe wenigstens die Zukunft die richtigen Schlussfolgerungen ziehen.
Die Woche auf dem Verfassungsblog
In den Verfassungskonflikt in Polen hat sich heute ein Player eingeschaltet, von dem bisher nicht allzu viel zu hören gewesen war in dieser Sache. Und wie! Nach einer – im Kern einstimmigen – Kammerentscheidung des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg verletzen Entscheidungen des polnischen “Verfassungsgerichts”, an denen sogenannte “Antirichter” teilnehmen, das Recht auf einen Prozess vor einem “auf Gesetz beruhenden Gericht” (Art. 6 I EMRK). Das wissen Leser_innen des Verfassungsblogs zwar schon seit 2016, aber dass jetzt der EGMR das so feststellt, ist ein Riesending – zumal kurz bevor eben dieses polnische “Verfassungsgericht” sein von der PiS-Regierung bestelltes “Urteil” über die Bindungswirkung von Urteilen des anderen Europäischen Gerichtshofs in Luxemburg zum Thema Unabhängigkeit der Justiz ausliefern wird. Jetzt müssen die PiS-Regierung und ihre Befehlsempfänger im “Verfassungsgericht” gleich beiden Europäischen Gerichten mitsamt den dahinter stehenden inter- bzw. supranationalen Rechtsordnungen den Gehorsam aufkündigen. Ob die selber glauben, damit durchzukommen? Wir wissen es nicht. Zu dem Straßburger Urteil demnächst jedenfalls hier noch Ausführlicheres.
Der große Klimaschutz-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts wird uns noch auf Jahre hinaus genug Stoff zum Nachdenken geben, jedenfalls aber für eine weitere Woche: KATJA RATH und MARTIN BRENNER gehen dem “Grundrecht auf Generationengerechtigkeit” nach, das man dem Beschluss entnehmen könnte. HELMUT PHILIPP AUST klärt, was der Beschluss dem Gesetzgeber abverlangt. “Dem Beschluss wohnt bei aller Ausgewogenheit eine klare Aussage inne: Wir können uns unsere Freiheit nur so lange erlauben, wie wir die Auswirkungen ihres Gebrauchs mitbedenken.” BENT STOHLMANN wundert sich indessen über die “unergründlichen” dogmatischen Wege, die das Gericht dabei einschlägt. Warum knüpft es nicht an die grundrechtlichen Schutzpflichten an? Was verrät das über die Probleme, die sich das Gericht mit seiner Maßstabbildung selber schafft?
Ein Song des Rappers Danger Dan und eine Anfrage des aus der AfD ausgeschlossenen Bundestagsabgeordneten Frank Pasemann aktualisieren das Thema “Kulturkampf von Rechts” im Kontext der staatlichen Kulturförderung. SASCHA WOLF berichtet über die gefährliche Strategie der AfD, die nicht nur die geförderten Künstler_innen, sondern auch die staatliche Kulturförderung systematisch diskreditieren soll.
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Die Grünen-Politikerin Renate Künast will Facebook gerichtlich dazu zwingen, konsequent(er) gegen Falschmeldungen vorzugehen. MATTHIAS FRIEHE analysiert, wie Künast damit der dominanten ‚Overblocking‘-Debatte widerspricht und soziale Netzwerke in die Klemme zwischen Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsschutz bringt.
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