11 November 2010

EGMR fällt weiteres Anti-Islam-Urteil

Ein Schulbeispiel, wie der herrschende Laizismusdiskurs einen blind machen kann für die eigentliche Menschenrechts-Problematik, ist das jüngste Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), Şerife Yiğit vs. Türkei.

In dem Fall geht es um eine türkische Witwe, die auf Witwenrente klagt, aber abgewiesen wurde, weil sie und der Vater ihrer sechs Kinder nach religiösem Ritus geheiratet hatten und nicht nach zivilem – was in der Türkei darauf hinausläuft, dass man überhaupt nicht verheiratet ist.

Der EGMR kann darin weder eine ungerechtfertigte Diskriminierung noch eine Verletzung des Rechts auf Familienleben erkennen.

Dass die Türkei nach islamischem Ritus geschlossene Ehen benachteiligt, diene dem Ziel, eine frauenfeindliche Tradition zu beenden

which places women at a clear disadvantage, not to say in a situation of dependence and inferiority, compared to men.

Die Klägerin habe gewusst, dass sie nicht richtig verheiratet war und habe das in den 26 Jahren ihrer Beziehung leicht ändern können. Anders als in Muñoz Díaz vs. Spanien – da ging es um Roma, nicht um Muslime – sei hier die Klägerin vom Staat nicht ansonsten als Ehefrau anerkannt gewesen.

Im Grunde sagt der EGMR der Klägerin: Selber schuld, hättest Du halt vernünftig geheiratet.

Es gab zwei Minderheitenvoten, eins von dem Griechen Christos Rozakis und eins von dem Russen Anatoly Kovler. Und wie so oft sind die viel spannender als das eigentliche Urteil:

Nicht verheiratet – und wenn schon?

Eigentlich, so argumentiert Rozakis, geht es hier gar nicht so sehr um religiöse oder zivile Ehe. Die religiöse Ehe sei nur der Hintergrund – “la toile du fond” – gewesen für eine Beziehung, die über 26 Jahre anhielt und aus der sechs Kinder hervorgegangen sind.

Aus dieser Perspektive geht es also um etwas ganz anderes, nämlich um die Rechte einer Frau, die ohne gültigen Trauschein in einer solchen Beziehung gelebt hat. Darf man die diskriminieren? Bisher hat dies der EGMR stets bejaht, und Rozakis deutet vorsichtig an, dass er für einen Kurswechsel wäre:

in view of the new social realities which are gradually emerging in today’s Europe, manifested in a gradual increase in the number of stable relationships outside marriage, which are replacing the traditional institution of marriage without necessarily undermining the fabric of family life, I wonder whether this Court should not begin to reconsider its stance as to the justifiable distinction that it accepts, in certain matters, between marriage on the one hand and other forms of family life on the other, even when it comes to social security and related benefits.

Im Ergebnis läuft, wie Saïla Ouald-Chaib bei Strasbourg Observers zurecht betont, das Urteil darauf hinaus, dass Frauen – um deren Schutz es doch angeblich geht – vom ach so laizistischen Staat allein und im Stich gelassen werden.

“Eurocentric attitudes”

Richter Kovlers abweichende Meinung geht in eine andere Richtung: Sie bezieht sich darauf, was die Mehrheit seiner Richterkollegen zum Thema Ehe im Islam zu sagen hat.

Das Mehrheitsvotum enthält dazu nur eine kurze Passage unter der Überschrift “History”: Danach ist die Ehe im Islam im Wesentlichen dadurch gekennzeichnet, dass sie nur durch “Verstoßung” der Frau durch den Mann wieder aufgelöst werden kann.

Das findet Richter Kovler doch etwas verkürzt dargestellt:

I think it would have been wiser to refrain from making any assessment of the complexity of the rules of Islamic marriage…

Kovler mahnt seine Richterkollegen, dass gewisse rhetorische Zuspitzungen für Regierungen und NGOs angemessen seien, aber nicht für ein Gericht. Der EGMR gerate durch solche Urteile in Gefahr

of becoming entrenched in “eurocentric” attitudes.

Ich bin weit davon entfernt, die Situation der Frauen unter der Scharia zu romantisieren, aber: Wo Kovler recht hat, hat er recht.

Wenn der EGMR sich vor den anti-islamischen Kampagnenkarren spannen lässt, dann untergräbt er seine eigene Autorität. Und das schadet zu allererst den Millionen Frauen, die auf seine Hilfe gegen die Unterdrückung durch islamistisch grundiertes staatliches Familienrecht hoffen

Foto: Michiel S. (Flickr: photochiel), Creative Commons


SUGGESTED CITATION  Steinbeis, Maximilian: EGMR fällt weiteres Anti-Islam-Urteil, VerfBlog, 2010/11/11, https://verfassungsblog.de/egmr-fllt-weiteres-antiislamurteil/, DOI: 10.17176/20181008-131328-0.

9 Comments

  1. Thomas Thu 11 Nov 2010 at 18:28 - Reply

    Ich finde es immer wieder erstaunlich, wie Leute die Begriffe Atheismus und Laizismus nicht auseinander halten können.

  2. Max Steinbeis Fri 12 Nov 2010 at 08:10 - Reply

    ?? Wer redet denn hier von Atheismus?

  3. Kai Deichmeier Fri 12 Nov 2010 at 10:30 - Reply

    das Urteil ist nach meinem Dafürhalten nicht zu beanstanden. Ihre Überschrift “Anti-Islam” ist völlig unsachlich und geht am Thema vorbei.

    Um für alle Menschen gleichermaßen geltende Rechtssicherheit zu schaffen darf es eben keine irgendwie gearteten religiösen Eigenheiten geben aus denen Rechtsverbindlichkeit erwächst.

    Die Klägerin hat es – trotz positiver Kenntnis – unterlassen ihre Rechtssituation zu festigen, daher muss sie nun die Konsequenzen tragen.

    Das Urteil ist sehr begrüßenswert!

  4. GastGast Fri 12 Nov 2010 at 11:20 - Reply

    Es ist doch aber auch nach deutschem Recht so, dass eine kirchliche Heirat ohne standesamtliche Heirat zivilrechtlich gleichbedeutend ist mit unverheiratet sein.

  5. Numor Mon 15 Nov 2010 at 01:01 - Reply

    Hallo.

    Wie einige der anderen Kommentatoren, auch kann ich die Überschrift “Anti-Islam-Urteil” nicht nachvollziehen. (Zumindest es mir nicht klar geworden).

    Diese Situtation könnte im Prinzip so ähnlich auch in Deutschland auftreten:
    In der kath. Kirche können seit kurzem Paare getraut werden, die sich nicht zivilrechtlich getraut haben. (vgl. Wikipedia:Kirchliche Trauung, Abschnitt Sakramentale Eheschließung)

    Stirbt nun einer der Beiden, bekommt der Andere keine Hinterbliebenenrente, weil sie nicht zivirlrechtlich verheiratet waren.

    Sie werden zwar gegenüber zivilrechtlich verheirateten Paaren diskriminiert, das ist aber (meines Erachtens) vertretbar, weil durch eine Zivilehe nicht nur Rechte, sondern auch (u.a. einklagbare) Pflichten entstehen. (z.B. Pflicht zum Unterhalt nach einer Trennung)

    Liegt nur eine kirchliche Trauung vor, sind die Pflichten nicht einklagbar. Daher erscheint mir eine Benachteiligung zivilrechtlich unverheirateter Paare nicht unverhältnismäßig.

    • Max Steinbeis Mon 15 Nov 2010 at 09:32 - Reply

      Dass das Urteil vom Ergebnis her in Ordnung geht, mag schon sein. Aber es ist doch auffällig, dass der EGMR out of his way geht, diese Konstellation anders zu behandeln als Munoz. Warum?

  6. Sarton Tue 30 Nov 2010 at 12:53 - Reply

    Ist “Roma” eine Religion ? Die Voraussetzungen waren unterschiedlich, Spanien kennt 2 legale Form der Ehe, sie zivile und die katholische. Die Türkei ist laizistisch. Zudem kommt hinzu, dass Roma als nationale Minderheit mit eigene Gesetze (Siten, Regeln) betrachet werden kann. Für Juristen die Paragraphen höher werten als der klagenden Mensch sollte es ersichtlich sein. Als nicht Jurist sehe ich das Urteil “Şerife Yiğit vs. Türkei” als falsch an.

  7. M.Klose Fri 17 Dec 2010 at 10:13 - Reply

    Man muss bei diesem Urteil auch nicht vergessen, in weit Staat und Relgion noch zusammen liegen…

  8. velofisch Tue 21 Dec 2010 at 20:33 - Reply

    Die Minderheitsvoten stärken die Tendenz nicht verheirateten Männern und insbesondere Vätern die gleichen Pflichten wie den Ehemännern aufzubürden. In Deutschland ist dies bereits bei Hartz IV sowie bei Betreuungsunterhalt der Fall. Dagegen steckt die Gleichstellung der nicht (mehr) verheirateten Väter noch in den Kinderschuhen. Einen Gleichstellungsanspruch gibt es jedoch nur für die Beziehung Vater-Kind, da un-/nichteheliche Kinder nicht diskriminiert werden dürfen. Eine Grundlage für die Gleichbehandlung von unverheirateten Paaren gegenüber Ehepaaren gibt es jedoch weder im Grundgesetz noch in der EMRK. Insofern ist die Mehrheitsmeinung zu begrüssen.

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