Eine wirkliche Gefahr für die Verfassung
Recht und Gesetz sind keine Garanten dafür, dass sich staatliche Akteure an demokratische Spielregeln halten. Friedhelm Hufen hat in der FAZ kürzlich einen Text veröffentlicht, in dem er implizit das Gegenteil behauptet: Potenzielle Wahlerfolge der AfD in einem deutschen Bundesland seien keine Gefahr für die freiheitlich demokratische Grundordnung, weil die „Mechanismen der streitbaren Demokratie” und die Gewaltenteilung Schutz genug sind. Aber Hufen verfehlt den Kern der Debatte. Here is why.
Seit Orbáns formal-legalistischen „Verfassungsreformen”, mit denen er durch Änderungen der Verfassung die Kompetenzen des Verfassungsgerichts, die Pressefreiheit und die Wissenschaftsfreiheit beschränkt hat, steht von der ungarischen Demokratie nur noch die Fassade. Die Regierung wird zwar durch demokratische Wahlen legitimiert, kann aber praktisch nicht mehr abgewählt werden. Gerichte urteilen weiter in Verfassungsfragen, aber die Gewaltenteilung ist de facto abgeschafft. Statt die liberale Demokratie offen zu bekämpfen, hat Orbán sie langsam von innen ausgehöhlt, und das ebenso still wie „legal”: In Einklang mit, und ohne Verstoß gegen die Gesetze und Gerichtsentscheidungen des demokratischen Systems.
Deutschland ist kein europäischer Spezialfall
Autoritär-populistische Parteien missbrauchen ihre demokratischen Rechte, um die demokratischen Rechte der Opposition und der Zivilgesellschaft im Namen des „Volkes” abzuschaffen. Sie arbeiten aktiv gegen gesellschaftliche und politische Pluralität. Ihr Verhältnis zur Verfassung und den rechtsstaatlichen Institutionen ist instrumentell: Sie achten und respektieren sie nicht, wie es von staatlichen Akteuren erwartet wird, sondern nutzen sie als Mittel zum Zweck: dem eigenen Machterhalt. Sie arbeiten nicht gegen die demokratische Verfassung, sondern mit ihr.
Auch in Polen, Österreich, Italien und der Türkei konnten und können wir beobachten, wie autoritäre Populist*innen den Rechtsstaat Schritt für Schritt unterminieren. Weltweit wählen Bürger*innen die Gegner der liberalen Demokratie in ihre Parlamente. Die Rechtsextremismus-Expertin Natascha Strobl warnt deswegen davor, Deutschland für einen europäischen Spezialfall zu halten, das sich dem Aufstieg antidemokratischer Akteure einfach entziehen kann.
Kann es nicht – aus drei Gründen: Erstens agieren autoritär-populistische Parteien nicht in einem Vakuum; die AfD lernt von Fidesz, Trump und der PiS-Partei, lässt sich beraten, übernimmt Strategien, die funktionieren. Zweitens sind unser Recht und das Gesetz keine Garanten dafür, dass sich staatliche Akteure an die demokratischen Spielregeln halten. Der dritte Grund liegt in der öffentlichen Debatte um eine „Machtergreifung” der AfD selbst, an die sich auch Hufen anschließt: Selbstberuhigungsthesen wie „Zentralstaaten sind weit anfälliger für Putsch und Verfassungsbruch” lenken davon ab, was mit einer AfD-Landesregierung auf Zivilgesellschaft und Opposition zukäme – ohne Putsch und Verfassungsbruch.
Ein Blick in den Thüringer Landtag zeigt, dass einige der nicht mehr „ganz fernliegende[n]“ Szenarien, die Hufen in seinem Beitrag bespricht, längst politische Realität sind: Schon 2020 besaß die Thüringer AfD-Fraktion ein faktisches Veto in Entscheidungsprozessen. Sie blockierte den Richterwahlausschuss und zwang die anderen Parteien so dazu, einen AfD-Abgeordneten ins Landtagspräsidium zu wählen. Dafür brauchte sie nicht einmal eine Sperrminorität. Kurz zuvor schickte die AfD den Freistaat gezielt in eine Regierungskrise, weil sie bei der Wahl des Ministerpräsidenten im dritten Wahlgang nicht ihren eigenen Kandidaten wählte, sondern wider Erwarten den von der FDP. Bis die Minderheitsregierung einen Monat später ihre Arbeit aufnahm, hatte Thüringen keine Minister*innen und war nicht im Bundesrat vertreten.
Eine Analyse von solchen oder ähnlichen Szenarien dient nicht der Entwarnung: Gehen wir über die bloße Ausgangsbedingung hinaus und beschreiben wir, was bei einer AfD-geführten Landesregierung tatsächlich im Einzelnen passiert, im Kontext der Gesetzeslage und der politischen Realtität, finden wir sehr wohl realistische Gefährdungslagen für Rechtsstaat und Demokratie. Diese Gefährdungslagen sind allein deswegen realistisch, weil sie sich in anderen europäischen Ländern bereits so oder so ähnlich empirisch beobachten lassen. Auch in unserer demokratischen Verfassung sind Ansatzpunkte zu finden, die autoritär-populistische Parteien missbrauchen können, um der Demokratie zu schaden. Zum Beispiel kann der Thüringer Ministerpräsident im Alleingang sämtliche Medien- und Rundfunkstaatsverträge kündigen und den öffentlich-rechtlichen Rundfunk damit gezielt vor große Herausforderungen stellen, indem er seine Finanzierung gefährdet, Menschen entlassen und Gremien neu besetzt werden müssen.
Sind juristisch und politisch plausible Szenarien identifiziert, erkennen wir Gefahren für Demokratie und Rechtstaat, bevor sie politische Realität werden. Dann können wir uns auf sie vorbereiten, gegebenenfalls mit Gesetzen gegensteuern und als Zivilgesellschaft demokratisches Engagement mobilisieren.
Hufens „Sicherheitsschlösser” sind Luftschlösser
Friedhelm Hufen identifiziert „keine wirkliche Gefahr für die Verfassung”, weil er in seinen „Szenarien” übersieht, dass autoritär-populistische Parteien bewusst und proaktiv mit denselben demokratischen Konventionen brechen, auf denen unser Rechtsstaat fußt. Sie blockieren parlamentarische Abstimmungen, fluten Gerichte mit Anträgen, bringen Verwaltung und Regierung mit ihren Kleinen Anfragen zur Belastungsgrenze und nähren damit ihre Erzählung von den versagenden „Eliten”. Die Thüringer AfD sät Chaos, bietet sich als einzig wahre Kraft für Recht und Ordnung an und erntet bei den kommenden Landtagswahlen im September die Früchte: stärkste Fraktion im Landtag, Vorschlagsrecht für die Landtagspräsident*in, Sperrminorität. Mit einem Drittel der Stimmen im Landtag lässt sich sehr viel mehr Sand ins parlamentarische Getriebe streuen. Ohne die AfD gibt es dann keine Verfassungsänderungen mehr, ohne sie kann sich die parlamentarische Kontrollkommission nicht mehr konstituieren, ohne sie kann der Landtag keine Verfassungsrichter*innen mehr ernennen.
Bricht eine autoritär-populistische Partei mit demokratischen Konventionen oder ignoriert sie sogar Verfassungsgrundsätze, heißt das nicht, dass sie damit auch durchkommt – aber auch hier verschätzt sich Hufen in der schützenden Wirkung unserer demokratischen Grundordnung. Es ist ein Kurzschluss, zu denken, dass alles Recht, das in der Verfassung steht, automatisch Wirklichkeit wird. Prozesse dauern, manche gerichtliche Verfahren ziehen sich über sieben oder acht Jahre – gerade solche, die sich vor dem Bundesverfassungsgericht abspielen. Beteiligt sich die AfD an einer Landesregierung, können wir uns nicht auf den Kompetenzen der Verfassungsrichter*innen ausruhen – in vielen Fällen ziehen sie die Grenzen, die die AfD überschreiten wird, erst im Nachhinein. So könnte Höcke mit einem verfassungswidrigen Gesetz politische Tatsachen schaffen, bevor ein Gericht es kassiert. Er könnte sogar Grundrechte verletzen, was ein Gericht in der Regel allenfalls feststellen, aber nicht ungeschehen machen kann.
Unabhängig davon hält das Recht nicht für jede Situation eine eindeutige Antwort parat. Das gilt im Besonderen für Szenarien, die bisher noch nicht in dieser Weise vorgekommen sind. Was passiert, wenn ein Bundesland ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts ignoriert? Welche Durchsetzungsbefugnisse hat der Bund gegenüber einem einzelnen Bundesland? Bisher ist für die Rechtswissenschaft in weiten Teilen unklar, wann und wie der Bundeszwang des Art. 37 GG anzuwenden ist, welche Maßnahmen rechtmäßig wären und inwiefern diese in der Verfassungswirklichkeit funktionieren. Auch die Frage, inwiefern der Bund finanzpolitisch und -verfassungsrechtlich auf Verfassungsmissbrauch in einzelnen Ländern reagieren könnte, ist noch offen.
Hufen argumentiert nicht nur an der politischen und rechtlichen Praxis vorbei, sondern auch an der Lebensrealität vieler (ost)deutscher Bürger*innen. Hufen nennt die Bundesländer „Sicherheitsschlösser streitbarer Demokratie“, in denen eine „extremistische Partei […] auf allen Ebenen der Staatlichkeit in Einzelfällen viel Unheil anrichten” kann. Es ist bemerkenswert, wie viel über die „Einzelfälle” Thüringen, Sachsen und Brandenburg gesprochen wird, ohne, dass über Thüringen, Sachsen und Brandenburg gesprochen wird. Um die Zivilgesellschaft dieser Länder in ihren Grundrechten einzuschränken, die Arbeit der politischen Opposition zu behindern und Mitarbeiter*innen an Schulen, Medien und kulturellen Einrichtungen unter Druck zu setzen, muss eine autoritär-populistische Ministerpräsident*in das Grundgesetz nicht ändern. Wer die Debatte um eine erstarkende autoritär-populistische Partei auf die Bundesebene verkürzt, trägt die Folgen auf dem Rücken derer aus, die sich bereits jahrelang für die liberale Demokratie engagieren. Menschen, die in einer Diktatur gelebt haben. Menschen, die auf Listen rechtsextremistischer Organisationen stehen und nun zum ersten Mal überlegen, zu gehen.
Man hätte zur Liste der “autoritären Populist*innen”, die den Rechtsstaat Schritt für Schritt unterminieren, auch noch weitere Kandidaten hinzufügen können. Etwa die sozialistische Regierung Spaniens, die derzeit versucht, mit einem Amnestiegesetz zugunsten von Separatisten die Gewaltenteilung auszuhebeln – begleitet von einer klar rechtsstaatsfeindlichen Rhetorik (Richter als “Putschisten in Roben”, FAZ vom 01.02.2024). Oder die sozialdemokratische Regierung der Slowakei, die – wohl nicht ganz uneigennützig – die Verfolgung von Korruptionsdelikten erheblich erschwert. Oder die neue polnische Regierung, deren (vorsichtig formuliert) unkonventionelles Vorgehen gegenüber dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk oder dem Verfassungsgericht nicht wirklich rechtsstaatlichen Prinzipien entspricht.
Aber gut, diese Beispiele passen natürlich nicht so recht ins Konz