Einseitig besetzte Gerichte
Ein Problem der Unparteilichkeit – nicht nur in Polen
In Polen ist die am 15. Oktober gewählte neue Parlamentsmehrheit nicht nur mit einem von der PiS ins Amt gebrachten Staatspräsidenten konfrontiert, der ihr das Leben schwer machen kann, sondern auch mit einem Verfassungsgericht, das inzwischen von lauter unter der Ägide der PiS gewählten Richtern besetzt ist. Jede Bemühung, in der polnischen Justiz wieder rechtsstaatliche Verhältnisse herzustellen, muss mit Widerständen dieser beiden Veto-Player rechnen. Die Schwierigkeiten rechtsstaatlicher Bewältigung der Rechtsstaatswidrigkeiten, die sich seit 2010 in der polnischen Justiz und speziell auch beim polnischen Verfassungsgerichtshof aufgetürmt haben (zu diesen Schwierigkeiten u.a. hier, S. 227 ff., und hier), lenken den Blick auf ein zugrundeliegendes Kernproblem, das nicht nur in Polen zu besichtigen ist, und auch sonst nicht nur in Staaten, die von wirklich demokratischen und rechtsstaatlichen Verhältnissen noch oder wieder weit entfernt sind: Das Problem politisch einseitig besetzter Verfassungsgerichte. Es handelt sich um ein wenig beachtetes, aber sehr ernstes Problem – solange die politischen und regulatorischen Verhältnisse andauern, auf denen die einseitige Besetzung beruht, und, wie jetzt der polnische Fall deutlich macht, auch noch dann, wenn die politischen Verhältnisse sich ändern.
Individuelle und systemische Unparteilichkeit
Dieses Problem wird, wenn überhaupt, regelmäßig in begrifflich unsauberer Aufhängung diskutiert, nämlich als Problem der richterlichen Unabhängigkeit (dazu noch unten). Das führt häufig dazu, dass die Besetzung von Verfassungsgerichten durch das Parlament und andere politische Verfassungsorgane überhaupt im Hinblick auf die Unabhängigkeit der Richter kritisch betrachtet wird. Die Richterbestellung durch politische Organe erzeugt aber, wie sich an vielen Höchstgerichten weltweit beobachten lässt, keineswegs notwendigerweise Abhängigkeiten. Ein Problem entsteht nicht ohne weiteres durch politische, sondern durch politisch einseitige Besetzung, und dieses Problem ist nicht – und wenn doch, dann nicht der politischen Besetzung oder ihrer Einseitigkeit wegen – ein Problem der Unabhängigkeit. Was dem politisch einseitig besetzten Gericht per se fehlt, ist die strukturelle oder systemische Unparteilichkeit. Hier geht es nicht um besondere Voreingenommenheiten individueller Richterpersönlichkeiten, die eine Befangenheit begründen würden, also um die individuelle Unparteilichkeit der einzelnen Richter, sondern darum, dass dem Spruchkörper als Ganzem die Ausgewogenheit fehlt, die nötig ist, damit Werthaltungen, Vormeinungen, dadurch bedingte selektive Aufmerksamkeiten usf., wie sie jeder einzelne Richter mitbringt, sich nicht kraft numerischen Übergewichts oder gar gänzlicher Konkurrenzlosigkeit zu einer Rechtsprechung fügen, die in vorhersehbarer Weise stets oder weit überwiegend zugunsten oder zulasten bestimmter Seiten des politischen Spektrums ausschlägt.
Dass ein Gericht, dem die systemische Unparteilichkeit fehlt, außerdem auch noch mit Richtern bestückt sein kann, die individuell parteilich sind und nicht die von unabhängigen Richtern zu erwartende Distanz zu den Organen der Politik pflegen, und dass dies beim polnischen Verfassungsgericht zumindest teilweise der Fall war und ist,1) steht auf einem anderen Blatt und ändert nichts daran, dass diese Defizite zunächst einmal voneinander zu unterscheiden sind. Zwar gibt es Zusammenhänge: Abhängigkeit beeinträchtigt stets zugleich die Unparteilichkeit (so zutreffend das Consultative Council of European Judges, hier S. 4 f.). Umgekehrt können aber vollkommen unabhängige Richter nichtsdestoweniger individuell parteiisch sein, und einem vollkommen unabhängigen Spruchkörper kann aufgrund seiner unausgewogenen Zusammensetzung die systemische Unparteilichkeit fehlen.
Unabhängigkeit und Unparteilichkeit – abstrakte Bestimmungen in der Rechtsprechung des EuGH und des EGMR
In der Rechtsprechung der europäischen Gerichte wird systemische Unparteilichkeit bislang nicht explizit als solche und als Verstoß gegen das Unparteilichkeitsgebot der EMRK bzw. der Europäischen Verträge identifiziert.
Der EuGH unterscheidet hinsichtlich der richterlichen Unabhängigkeit die beiden Aspekte des Außen- und Innenverhältnisses und behandelt die Unparteilichkeit als den das Innenverhältnis betreffenden Aspekt der Unabhängigkeit. Dieser beziehe sich „darauf …, dass den Parteien des Rechtsstreits und ihren jeweiligen Interessen am Streitgegenstand mit dem gleichen Abstand begegnet wird. Dieser Aspekt verlangt, dass Sachlichkeit obwaltet und neben der strikten Anwendung der Rechtsnormen keinerlei Interesse am Ausgang des Rechtsstreits besteht“.2) Abgesehen von der wenig glücklichen Gegenüberstellung von Außen- und Innenverhältnis– schließlich geht es auch bei der Unparteilichkeit um das Verhältnis zu Außenstehenden und um deren Wahrnehmung des Gerichts – ist auch die Behandlung der Unparteilichkeit als ein „Aspekt“ der Unabhängigkeit nicht erkenntnisförderlich, weil sie den dargestellten – einseitigen – Zusammenhang zwischen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nicht erhellt und die Möglichkeit einer trotz voller Unabhängigkeit bestehenden Parteilichkeit ganz verdunkelt, indem sie sie per definitionemausschließt (wenn Unparteilichkeit ein „Aspekt“, also ein Element oder Unterfall, der Unabhängigkeit sein soll, beeinträchtigt ja Parteilichkeit zwangsläufig auch die Unabhängigkeit, und umgekehrt impliziert die Feststellung einer so verstandenen Unabhängigkeit, dass auch Parteilichkeit nicht vorliegt). Dass systemische Unparteilichkeit unter die zitierte abstrakte Umschreibung des Begriffs der Unparteilichkeit fällt, ist zwar nicht ausgemacht. Die weitere Erläuterung, wonach „die Garantien der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit“ voraussetzen, „dass es Regeln“ unter anderem „für die Zusammensetzung der Einrichtung …gibt, die es ermöglichen, bei den Einzelnen jeden berechtigten Zweifel an der Unempfänglichkeit dieser Einrichtung für äußere Faktoren und an ihrer Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen auszuräumen“3). Der EuGH hat die zitierte Erläuterung zwar bislang, obwohl dafür durchaus Anlässe bestanden hätten, nicht explizit auf das Problem der systemischen Unparteilichkeit hin konkretisiert, so dass man meinen könnte, er habe sie jedenfalls nicht mit Absicht auch auf die systemische Unparteilichkeit gemünzt. Trotzdem liegt es nahe, sie auch darauf zu beziehen. Dass etwa ein ausschließlich mit Exponenten einer bestimmten politischen Richtung besetztes Verfassungsgericht „berechtigte Zweifel“ an dessen „Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen“ auszulösen geeignet ist, lässt sich ja wohl kaum bestreiten.
Nach der Rechtsprechung des EGMR ist die von Art. 6 Abs. 1 EMRK geforderte Unparteilichkeit anhand eines subjektiven und eines objektiven Tests zu bestimmen, wobei der subjektive die Frage der Voreingenommenheit eines bestimmten Richters in einem gegebenen Fall betrifft, während der objektive darauf zielt, festzustellen, ob das Gericht selbst und unter anderem dessen Zusammensetzung hinreichende Garantien bieten, um jeden berechtigten Zweifel an seiner Unparteilichkeit auszuschließen.4) Zugleich gibt es aber zum sogenannten objektiven Test Erläuterungen, denen zufolge es dabei um objektive Fakten gehen soll, die Zweifel an der Unparteilichkeit eines individuellen Richters wecken, wobei dieser Test meist hierarchische Verbindungen zwischen dem Richter und anderen Protagonisten des Verfahrens betreffe.5) Bei aller Unzulänglichkeit dieser begrifflichen Klärungsversuche wird man doch die explizite Aussage, dass für die Frage der Unparteilichkeit unter anderem die Zusammensetzung des Gerichts relevant ist, ernst nehmen dürfen.
An klaren, imperativen Standards für das insoweit Geforderte fehlt es allerdings in der Rechtsprechung beider Gerichtshöfe, und das ist kein Zufall.
Vorkehrungen gegen systemisch parteiliche Besetzungen
Ein striktes und ausreichend konkretisiertes Postulat, dass Gerichte strukturell unparteilich im oben erläuterten Sinne sein müssen, existiert im internationalen und supranationalen Recht schon deshalb nicht, weil es an entsprechenden institutionellen Ausprägungen auf der nationalen Ebene in den meisten Staaten, und auch in einem großen Teil der demokratischen Rechtsstaaten, fehlt. Es gehört zu den Problemen vieler Verfassungsgerichte – weltweit, auch in Europa, und auch in der EU –, und zu den Ursachen nicht seltener Dysfunktionen und politischer Konflikte um die Verfassungsgerichtsbarkeit, dass selbst gegen politisch grob einseitige Besetzungen oft keine oder keine verlässlichen Vorkehrungen getroffen sind. Zwar findet man neben gänzlich abwesenden Pluralitätssicherungen auch verschiedene Formen des Versuchs, auf eine gewisse politische Pluralität in der Gerichtsbesetzung hinzuwirken. In etlichen davon kann man einen Ausdruck normativer Überzeugungen sehen; zumindest den Ausdruck der Überzeugung, dass gänzliche parteipolitische oder sonstige ideologische Homogenität nach Möglichkeit zu vermeiden ist. Aber all diese Vorkehrungen wirken nur begrenzt und nur unter bestimmten, nicht notwendigerweise permanent gegebenen, in der Praxis oft tatsächlich nicht vorliegenden Voraussetzungen.
Begrenzungen der Richteramtszeit verbessern die Aussicht auf Vermeidung langanhaltend einseitiger Gerichtsbesetzungen dadurch, dass die auswahlzuständigen politischen Organe, die ihrerseits in Demokratien meist nach Ablauf einiger Zeit politisch andersfarbig besetzt werden, in kürzeren Abständen als bei den ohne Altersgrenze auf Lebenszeit berufenen Richtern des US Supreme Court neue Besetzungsentscheidungen treffen können. Die Beteiligung unterschiedlicher Verfassungsorgane an der Richterbestellung, sei es im Split-Modell (jedes beteiligte Organ bestimmt einen Teil der Richter) oder im Kooperationsmodell (mehrere Organe müssen sich auf gemeinsam unterstützte Kandidaten einigen) oder in diversen Kombinationen beider Modelle (dazu näher hier, S. 162 ff.) geht ebenfalls mit verbesserten Chancen auf plurale Gerichtsbesetzungen einher. Sie diente zwar ursprünglich wohl eher der Sicherung von Ausgewogenheit im Verhältnis verschiedener Staatsorgane, erhöht zugleich aber die Wahrscheinlichkeit, dass bei der Richterauswahl unterschiedliche parteipolitische Strömungen zum Zuge kommen. Es kann aber eben auch sein, dass die verschiedenen Organe politisch gleichfarbig besetzt bzw. dominiert sind und sich daran bis zu den nächsten Gelegenheiten, neue Richter zu bestellen, nichts ändert. So berichtete Pierre Joxe, dass er während seiner gesamten neunjährigen Amtszeit (bis 2010) beim französischen Conseil Constitutionnel unter den ernannten Richtern der einzige nicht vom ehemaligen Staatspräsidenten Chirac oder dessen politischen Gefolgsleuten an der Spitze der beiden Parlamentskammern ins Amt gebrachte war.6) Auch Versuche, über eine zeitliche Streckung der Ernennung neuer Richter mittels zeitlich gestaffelter Amtsperioden (staggered appointments) ausreichende politische Pluralität sicherzustellen, scheitern häufig daran, dass im Zeitverlauf kein dafür ausreichender politischer Wechsel in der Besetzung der auswahlberechtigten Verfassungsorgane stattfindet und/oder dass keine ausreichenden Vorkehrungen für Verschiebungen der vorgesehenen Nachwahltermine durch vorzeitige Amtszeitbeendigung (Tod, Rücktritt etc.) oder durch Blockaden im Verfahren der Neubesetzung getroffen sind (näher hier, S. 173 ff.). Es kommt vor, dass die Regularien gerade auf Runderneuerung der gesamten Gerichtsbesetzung im Amtsperiodenrhythmus angelegt sind (Beispiele hier, S. 172, 179), und manchmal ist das zumindest ein Effekt der einschlägigen Besetzungsregeln. In der Tschechischen Republik zum Beispiel findet in zehnjährigen Abständen ein mehr oder weniger weitreichender Austausch der gesamten Besetzung des Verfassungsgerichts statt. Politisch pluralen Besetzungen sind solche Verhältnisse naturgemäß nicht zuträglich, wenn der nominierungsberechtigte Staatspräsident und der Senat, der die Nominierung nur mit einfacher Mehrheit bestätigen muss, ihre Befugnisse nicht auf ausgeprägt überparteiliche Weise auszuüben belieben.7) Im laufenden und im kommenden Jahr sind bzw. waren dreizehn der fünfzehn tschechischen Verfassungsrichter neu zu ernennen. Der seit diesem Jahr amtierende Staatspräsident hat ein beratendes Gremium ernannt, das ihm Kandidaten empfehlen und dabei auf Diversität u.a. der Meinungen achten soll, und zusätzlich verschiedene Institutionen zu Vorschlägen aufgefordert. Ob diese prima facie begrüßenswerte, zumindest transparenzsteigernde und mit gewissen informellen Selbstbindungen einhergehende, aber umstrittene Veränderung auf eine ausgewogene Besetzung hinausläuft, bleibt abzuwarten.
Die mehr oder weniger weitreichende Verlagerung von Auswahlkompetenzen auf empfehlende, abschließend vorschlags- oder sogar abschließend auswahlberechtigte Gremien wie Justizräte u.ä. ist auch sonst verbreitet. Sie wird nicht zuletzt als Instrument der Entpolitisierung der Richterauswahl und damit verbundener Steigerung der Unabhängigkeit der Richter propagiert und kann durchaus auch zu politischer Pluralisierung beitragen. Sie ist aber alles andere als ein sicheres Mittel dazu. Oft verschleiert sie gerade in ihren auf Entpolitisierung zielenden Ausgestaltungen politische Einflüsse – die im Übrigen nicht nur von den politischen Verfassungsorganen, sondern auch von beteiligten Justizorganen und gesellschaftlichen Akteuren ausgehen können –, und verschärft justizinterne Abhängigkeiten. Je verbindlicher der Einfluss solcher Gremien ausgestaltet ist, desto mehr wirft er zudem, besonders bei Verfassungsgerichten, Probleme der demokratischen Legitimation auf (zum Ganzen hier, S. 210 ff.).
Selbst qualifizierte Mehrheitserfordernisse für die Richterwahl, wie sie in Deutschland (Zweidrittelmehrheitserfordernis gem. § 6 II 2, § 7 BVerfGG) und vielen anderen Ländern – zuweilen nur für einen von Mehrpersonenorganen gewählten Teil der Richter – vorgesehen sind, können als Instrumente der Herstellung von Ausgewogenheit versagen, sei es weil das besondere Mehrheitserfordernis sich auf einen zu kleinen Teil der Richter bezieht, sei es wiederum aufgrund von Blockaden, für deren Überwindung ausreichende Auffangmechanismen fehlen, oder sei es, weil eine dominante Partei oder regierende Parteienkoalition in die Lage kommt, ein geltendes qualifizierte Mehrheitserfordernis ohne Einbeziehung der Opposition zu erfüllen, wie es aufgrund eines die Präferenzen der Wähler schlecht widerspiegelnden Wahlrechts wiederholt in Ungarn der Fall war. Normen wiederum, nach denen bei Richterwahlen auf eine proportionale Verteilung der Richterstellen entsprechend den politischen Verhältnissen im jeweiligen Parlament zu achten ist, wie sie in der Schweiz in einigen Kantonen kraft Verfassung statuiert sind und auf eidgenössischer Ebene als Konvention gelten und befolgt werden, wirken nur unter den dort gegebenen Bedingungen eines Vielparteiensystems ohne großkoalitionäre Blockbildungen hinreichend pluralisierend, ganz zu schweigen davon, dass in der gegenwärtigen Phase zunehmender politischer Polarisierung bloße Konventionen zunehmend unter Druck geraten.
Soft law und – nicht nur softes – Rückschrittsverbot
Die internationale Praxis lässt also durchaus einen verbreiteten Sinn für die Notwendigkeit politischer Pluralität in der Besetzung höchster Gerichte erkennen. Allgemein anerkannte strikte Standards dafür, geschweige denn für die nähere Ausgestaltung der Instrumente, mit denen sie zu erreichen wäre, existieren allerdings selbst im Kreis anerkannter rechtsstaatlicher Demokratien nicht und können deshalb auch von internationalen Gerichten, die sich bei der Konkretisierung abstrakter Rechtsstaatlichkeitsnormen nicht beliebig von den in den jeweiligen Mitglieds- bzw. Vertragsstaaten herrschenden Rechtsüberzeugungen abkoppeln können, einstweilen kaum entwickelt werden. Zudem zeigt sich an den obigen Beispielen, dass die Angemessenheit rechtlicher Rahmenbedingungen zur Sicherung einer ausgewogenen Besetzung von Verfassungsgerichten in hohem Maße kontextabhängig ist. Uniforme strikte Standards lassen sich auch aus diesem Grund nicht sinnvoll entwickeln.
Erkennbar ist aber ein soft law, das die ausgewogene Besetzung von Höchstgerichten, die über Verfassungsfragen entscheiden, als ein Desiderat rechtsstaatlicher Gerichtsorganisation begreift, und, damit zusammenhängend, ein Verbot diesbezüglicher Rückschritte, insbesondere dort, wo sich im Rahmen einer Gesamtbeurteilung zeigt, dass diese auf eine politische Indienstnahme des jeweiligen Gerichts zielen.
Die Venedig-Kommission des Europarats, die dessen Mitgliedstaaten in Verfassungsfragen berät und der die Funktion der Entwicklung eines soft law zugeschrieben wird (s. nur Grabenwarter, in diesem Buch S. 527 ff., 540), befürwortet institutionelle Vorkehrungen, die das Risiko reduzieren, dass in einem Verfassungsgericht eine einzelne „Fraktion“ eine beherrschende Stellung erlangt („reducing the risk of one faction dominating the CC“ hier, Rn. 24, betr. gestaffelte Ernennungen). Sie begrüßt regulatorische Mechanismen, die dafür sorgen, dass die Richter nicht nur als Instrument dieser oder jener politischen Kraft betrachtet werden („so that the judges are seen as being more than the instrument of one or the other political force“, hier, Abschn. 4.3.1, betr. qualifizierte Mehrheitserfordernisse für die Richterwahl) oder, so eine andere Formulierung, die der Zusammensetzung von Verfassungsgerichten ein gewisses Maß an Heterogenität und Pluralismus und größere repräsentative Ausgewogenheit sichern („ensuring to achieve a degree of heterogeneity and pluralism and greater balance in representation“, hier, Rn. 35, betr. Amtszeitbegrenzungen; allgemeiner zum Ausgewogenheitsdesiderat s. auch hier, S. 156 ff.).
Nach der „samtenen Revolution“ von 2018 in Armenien hat die Venedig-Kommission einer Reform, die u.a. auf Pluralisierung des vollkommen einseitig und mit bis zum Ruhestandsalter berufenen Richtern besetzten Verfassungsgerichts zielte und mit Verkürzungen der Amtszeit der vorhandenen Richter verbunden war, keine grundsätzliche Absage erteilt. Unter den gegebenen Umständen hielt sie es nur für notwendig, für einen möglichst schonenden Ausgleich zwischen dem Grundsatz der Unabsetzbarkeit amtierender Richter und den berechtigten Reformanliegen zu sorgen (näher hier, Rn. 27 ff., 52 f.).
Wenn eine Anforderung wie die, dass Verfassungsgerichte nicht politisch einseitig besetzt sein und die Rahmenbedingungen einer einseitigen Besetzung einigermaßen verlässlich entgegenwirken sollten, sich in den Vertragsstaaten des Europarats oder in den Mitgliedstaaten der EU noch nicht so weit durchgesetzt hat, dass sie sich im Wege der Auslegung der EMRK oder des Unionsrechts als harter normativer Standard identifizieren lässt, die Rechtsüberzeugungen sich aber in eine bestimmte Richtung entwickeln, kann immerhin rechtliche Bedeutung erlangen, ob die Entwicklungsrichtung stimmt. Damit lässt sich auch besser als mit einem harten Ausgewogenheitsstandard dem Umstand Rechnung tragen, dass Ausgewogenheit eine Gradfrage und das Ideal auch kaum sinnvoll ganz präzise bestimmbar ist. Und angesichts von Komplexitäten und Kontextabhängigkeiten, die uniforme, kontextfreie harte Standards nur in engen Grenzen als angemessen erscheinen lassen, kann doch eine Beurteilung der Gesamtsituation es zumindest ermöglichen, bestimmte Manöver als im gegebenen Kontext eindeutig rechtsstaatswidrig zu identifizieren.8)
So hat z.B. der EuGH zur (inzwischen umbenannten und umstrukturierten, s. hier, m.w.N.) Disziplinarkammer beim Obersten Gerichtshof festgestellt, der Umstand, dass der in die Ernennung dieser Kammer eingebundene Landesjustizrat überwiegend von der Legislative oder Exekutive ausgewählt wird, für sich genommen nicht zu Zweifeln an der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der gewählten Richter führen könne, wohl aber in Kombination mit anderen, hinzukommenden Gesichtspunkten, zu denen der Gerichtshof u.a. gezählt hat, dass die Regeln für die Zusammensetzung des Justizrates kürzlich dahin geändert worden waren, dass anstelle der früheren Wahl der 15 richterlichen Mitglieder durch ihre Amtskollegen die Wahl durch ein Legislativorgan trat und der Rat in seiner neuen Zusammensetzung daher, statt mehrheitlich aus justizintern Gewählten, fast ausschließlich (23 von 25 Mitgliedern) aus von der polnischen Exekutive und Legislative Benannten bestehe (EuGH, Urt. v. 15.7.2021, C-791/19, Rn 103 f., m.w.N.). Hinzu kamen u.a. Amtszeitverkürzungen, die der EuGH als Beitrag zum negativen Gesamtbild anführt (s. Rn. 105, f.). In der diese und weitere Veränderungen berücksichtigenden Gesamtschau sah der Gerichtshof die von Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Disziplinarkammer nicht gewahrt (ebd. Rn. 112, 147). Es fehlt hier zwar an klaren Zuordnungen speziell zum Gesichtspunkt der Unparteilichkeit und noch spezieller zum Gesichtspunkt der systemischen Unparteilichkeit, und man vermisst u.a. eine Differenzierung dahingehend, dass die Verlagerung der Auswahlkompetenz für die Mitglieder des Landesjustizrats auf ein Legislativorgan nicht als solche einen Rückschritt in Bezug auf die Unparteilichkeit des Rats und damit mittelbar der unter seiner Mitwirkung ernannten Richter darstellt, sondern dass das eigentliche Problem im gänzlichen Fehlen von Vorkehrungen gegen politisch einseitige Besetzungen bestand. Auch dass die durch Amtszeitverkürzungen ermöglichten schubhaften Neubesetzungen die Einseitigkeit zusätzlich förderten, wird nicht explizit vermerkt. Dennoch wird erkennbar, dass im Rahmen der vorgenommenen Gesamtwürdigung die deutliche Verschlechterung der Rahmenbedingungen für eine politisch ausgewogene Besetzung zu den Gesichtspunkten gehörte, deretwegen der Gerichtshof Zweifel u.a. an der „Neutralität“ der Disziplinarkammer „in Bezug auf die widerstreitenden Interessen“ für begründet erachtete (ebd. Rn. 112; zur Gesamtwürdigung von Umständen, einschließlich ihrer Veränderungen, in Bezug auf Justizrat und Disziplinarkammer s. auch EuGH, Urt. v. 22.3.2022, C-508/19, Rn. 74 ff.; Urt. v. 19.11.2019, C-585/18 u.a., Rn. 142 ff.; für die Relevanz der Entwicklungsrichtung auch Urt. v. 5.6.2023, C-204/21, Rn. 286).
Der EGMR hat der Disziplinarkammer beim polnischen Obersten Gericht gleichfalls bescheinigt, dass sie nicht die Anforderung eines i.S.d. 6 I 1 EMRK unabhängigen und unparteiischen Gerichts erfüllt (Urt. v. 22.7.2021, Nr. 43447/19, Rn. 270 ff. 284; vgl. auch zuletzt Urt. v. 6.10.2022, Nr. 35599/20, Rn. 192 ff., 215 3, und Urt. v. 6.7.2023, Nr. 21181/19 u.a., Rn. 340). Insgesamt hat der EGMR als das zugrundeliegende Defizit beim polnischen Justizrat einseitiger die Unabhängigkeit von politischer Einflussnahme als nicht gewahrt in den Vordergrund gestellt und bleibt insofern in concreto, anders als bei den weiter oben behandelten abstrakten Begriffsbestimmungen, hinsichtlich der Frage der systemischen Unparteilichkeit unergiebiger. Ebenso wie der EuGH berücksichtigt aber auch der EGMR in komplexen Materien und wo es sich um noch nicht um eindeutige, harte Standards handelt, Kontexte und Entwicklungsrichtungen (s.o. Text m. Fn. 8).
Der EuGH hat für den Justizbereich der Entwicklungsrichtung sogar die Bedeutung beigemessen, dass „beim Schutz des Wertes der Rechtsstaatlichkeit, insbesondere bei den Garantien der richterlichen Unabhängigkeit“ Rückschritte verboten seien (so die Wiedergabe in den Schlussanträgen des Generalanwalts Collins vom 15.12.2022 in der Rechtssache C-181/21 u.a., Rn. 54, m.w.N.; aus der Rechtspr. s. EuGH, Urt. v. 20.4.2021, C-896/19, Rn. 65, m.w.N.). Das betrifft, auch wenn dies nicht in allen gerichtlichen Formulierungen des postulierten Rückschrittsverbots klar zum Ausdruck kommt,9) offensichtlich gerade auch Rückschritte hin zu einem Zustand, der nicht schon für sich genommen der richterlichen Unabhängigkeit oder anderen „Werten der Rechtsstaatlichkeit“ zuwiderläuft. Verhielte es sich anders, wäre das Rückschrittsverbot überflüssig, da sich in jedem Fall seiner Anwendbarkeit ein Verstoß gegen den betroffenen Wert der Rechtsstaatlichkeit ganz unabhängig von der Entwicklungsrichtung feststellen ließe.
Rückschrittsverbot bei nationalen Vorkehrungen zur Sicherung der systemischen Unparteilichkeit
Das postulierte Rückschrittsverbot gilt zweifelsfrei auch für die Sicherung der gerichtlichen Unparteilichkeit, die gleichfalls einen der zentralen „Werte der Rechtsstaatlichkeit“ – nach der Rechtsprechung des EuGH sogar ein Element der Unabhängigkeit (s.o.) – darstellt. Schon angesichts der im Verbund der europäischen und der nationalen Verfassungsgerichte nach Möglichkeit zu wahrenden Kohärenz der Rechtsprechung zu diesen Werten liegt es deshalb nahe, anzunehmen, dass es der häufig geforderten Hochzonung des deutschen Zweidrittelmehrheitserfordernisses für die Verfassungsrichterwahl auf die Ebene des Verfassungsrechts gar nicht bedarf, weil die Abschaffung dieses Erfordernisses, jedenfalls wenn sie ohne Ersatz durch gleichermaßen wirksame anderweitige Vorkehrungen zur Vermeidung systemischer Unparteilichkeit des Bundesverfassungsgerichts erfolgte, dem Verbot des Rückschritts beim Schutz dieses rechtsstaatlichen Werts zuwiderliefe.
References
↑1 | S. z.B. zum Gebaren der amtierenden Gerichtspräsidentin Julia Przyłębska Sadurski, Poland´s Constitutional Breakdown, 2019, S. S. 67 ff.; Ploszka, hier, S. 54 f. |
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↑2 | Zum Ganzen hier EuGH, Urt. v. 19.11.2019, Rs. C-585/18 u.a., Rn. 121 ff. (zitierte Passage aus Rn. 122); s. auch Urt. v. 29.3.2022, Rs C-132/20, Rn. 95, m.w.N. |
↑3 | EuGH, Urt. v. 19.11.2019, Rs. C-585/18 u.a. Rn. 123; Urt. v. 29.3.2022, Rs C-132/20, Rn. 119, jew. m.w.N. |
↑4 | S. zuletzt EGMR, Urt. v. 7.9.2023, Nr. 43627/16 und 71667/16, Rn 56, m.w.N.). |
↑5 | EGMR (Fn. 4), Rn. 59 f., m.w.N. |
↑6 | Joxe, Cas de conscience, Genf 2010, S. 160 m. Fn. 1. Neben den ernannten Mitgliedern gab und gibt es noch die ehemaligen Staatspräsidenten als Mitglieder von Rechts wegen (membres de droit), darunter zur damaligen Zeit als eines der beiden einzigen, die diese Mitgliedschaft aktiv wahrnahmen, Chirac selbst. Zu Phasen einseitiger Besetzung auch Tusseau, Contentieux constitutionnel comparé, Paris 2021, S. 485 f., Rn. 507. |
↑7 | Dazu Kosař / Vyhnánek in diesem Buch, S. 119 ff., 130, und Šipulová in diesem, S. 32 ff., 35. |
↑8 | Zu beidem näher, mit Rechtsprechungsnachweisen, Lübbe-Wolff, in diesem Buch, S. 363 ff., 370 ff. |
↑9 | Missverständlich zuletzt EuGH, Urt. v. 7.9.2023, C-216/21, Rn. 69, wonach Rückschritte nicht die richterliche Unabhängigkeit unterminieren dürfen. |
It would be useful to read an English version of this important article.
Sehr geehrte Frau Lübbe-Wolff,
ich danke Ihnen herzlich für Ihren äußerst interessanten und lehrreichen Beitrag.
Nachdem Sie auch auf die Situation des Verfassungsgerichts der Republik Armenien eingegangen sind, möchte ich einige Klarstellungen vornehmen. Sie behaupten, dass das armenische Verfassungsgericht bis zur Reform “vollkommen einseitig” besetzt war. Dies scheint mir jedoch eher Ihre persönliche Meinung zu sein, da die von Ihnen zitierte Stellungnahme der Venedig-Kommission diese Aussage nicht unterstützt. Bedauerlicherweise erscheint eine solche Behauptung problematisch, wenn man bedenkt, dass das armenische Verfassungsgericht Richterinnen und Richter hatte, die während der Amtszeiten aller drei Staatspräsidenten der Republik Armenien von 1995 bis 2019 (über 24 Jahre) ernannt wurden.
Beispielsweise wurde Richter Felix Tokhyan 1997 unter Präsident Levon Ter-Petrosyan in das Amt des Verfassungsrichters berufen. Richterin Alvina Gyulumyan wurde 1996 ebenfalls unter Präsident Levon Ter-Petrosyan ernannt und diente von 2003 bis 2014 als Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, bevor sie vom dritten Präsidenten Serzh Sargsyan erneut ins Verfassungsgericht berufen wurde. Richter Hrayr Tovmasyan wurde im März 2018 während der Amtszeit von Serzh Sargsyan vom armenischen Parlament zum Verfassungsrichter gewählt. Richter Kim Balayan wurde im Jahr 2003 vom zweiten Staatspräsidenten Robert Kocharyan ernannt.
Diese Richterinnen und Richter (außer Richter Kim Balayan) waren auch diejenigen, die im Zuge der verfassungswidrigen Verfassungsreform von 2020 aus dem Amt entlassen wurden (nur Richter Tovmasyan blieb im Amt, wurde jedoch als Präsident des Verfassungsgerichts abgesetzt). Die Reform betraf rückwirkend alle Richter des Verfassungsgerichts, die insgesamt 12 Jahre oder mehr im Amt waren, einschließlich des Verfassungsgerichtspräsidenten, der jedoch erst zwei Jahre im Amt war. Dies stellt meiner Meinung nach einen eindeutigen Verfassungsbruch dar, wenn man einigermaßen Wert auf dem Rechtsstaatsprinzip legt.
Zusätzlich dazu kam es zu einem weiteren Verfassungsbruch: Gemäß Artikel 168 Absatz 2 der armenischen Verfassung müssen verfassungsändernde Gesetze vor ihrer Annahme durch das Volk (per Referendum) oder das Parlament (mit 2/3-Mehrheit) dem Verfassungsgericht zur Prüfung vorgelegt werden, um verfassungswidrige Bestimmungen zu vermeiden. Das Parlament hat dies jedoch auf verfassungswidriger Weise unterlassen.
Es dürfte Sie rein aus verfassungsrechtlicher Perspektive interessieren, dass der Verfassungsentwurf die Änderung einer bereits sich erledigten Übergangsklausel in der Verfassung vorsah. Nach armenischem Verfassungsrecht ist dem Parlament nicht gestattet, Übergangsklauseln in der Verfassung zu ändern, geschweige denn dies rückwirkend zu tun. Die Notwendigkeit einer begrenzten Amtszeit für Verfassungsrichter wurde bereits im Jahr 2015 vom armenischen Verfassungsgeber erkannt und in der Verfassung verankert. Um den Anforderungen des Rechtsstaatsprinzips gerecht zu werden, wurden Übergangsvorschriften eingeführt, um das Vertrauen der Richterinnen und Richter zu schützen, die vor der Verfassungsreform von 2015 ernannt wurden.
Wenn eine nachträgliche Änderung einer bereits abgeschlossenen Übergangsvorschrift als zulässig erachtet werden kann, dann hätte dies ausschließlich durch ein Referendum stattfinden dürfen. Persönlich vertrete ich die Meinung, dass eine nachträgliche Änderung einer bereits abgeschlossenen Übergangsvorschrift in der Verfassung unter keinen Umständen zulässig ist.
Gegenwärtig wurden 7 von 9 Richtern allein von der regierenden Mehrheit im Parlament gewählt. Unabhängige Kandidaten wie Gor Hovhannsiyan, dessen Nominierung vom Staatspräsidenten Armen Sargsyan vorgeschlagen wurde, wurden vom Parlament abgelehnt. Stattdessen wurde nur ein Kandidat, Herr Vahe Grigoryan, durchgesetzt, der gleichzeitig der Initiator des gesamten verfassungswidrigen Prozesses war.
Es schmerzt mich persönlich, der in Deutschland studiert hat und nun täglich mit einem so offensichtlich parteiisch besetzten Verfassungsgericht in Armenien konfrontiert ist, die Aussage einer ehemaligen Richterin des Bundesverfassungsgerichts zu lesen, dass das armenische Verfassungsgericht vor der “Reform” “vollkommen einseitig besetzt” war.
Dennoch möchte ich mich nochmals herzlich für Ihren ansonsten sehr wertvollen Beitrag bedanken, dessen Lektüre mir Vergnügen bereitet hat.
Mit freundlichen Grüßen,
Ashot Poghosyan
Sehr geehrter Herr Pogoshyan,
herzlichen Dank für Ihren Kommentar, den ich natürlich sehr ernst nehme. Ich plane eine Übersetzung des Artikels ins Englische. Dabei gehe ich Ihren Informationen nach, ändere ggf. die englische Version und melde mich auch nochmal hier in der Kommentarfunktion. Geben Sie mir aber bitte etwas Zeit; ich habe gerade viel zu tun, und es hat mich die laufende Welle von grippalen Infekten erwischt.
Mit freundlichen Grüßen
Gertrude Lübbe-Wolff
Sehr geehrter Herr Poghosyan,
inzwischen ist schon vor einer ganzen Weile die englische Version des Artikels erschienen, den Sie kommentiert hatten: https://verfassungsblog.de/one-sidedly-staffed-courts/. Die von Ihnen kritisierte Aussage ist darin etwas abgeändert. Bitte entschuldigen Sie die Verzögerung dieses versprochenen Hinweises und die durch einen Tippfehler falsche Schreibung Ihres Namens in der ersten Antwort auf Ihre Kritik.
Mit freundlichen Grüßen
Gertrude Lübbe-Wolff