30 November 2023

Einseitig besetzte Gerichte

Ein Problem der Unparteilichkeit – nicht nur in Polen

In Polen ist die am 15. Oktober gewählte neue Parlamentsmehrheit nicht nur mit einem von der PiS ins Amt gebrachten Staatspräsidenten konfrontiert, der ihr das Leben schwer machen kann, sondern auch mit einem Verfassungsgericht, das inzwischen von lauter unter der Ägide der PiS gewählten Richtern besetzt ist. Jede Bemühung, in der polnischen Justiz wieder rechtsstaatliche Verhältnisse herzustellen, muss mit Widerständen dieser beiden Veto-Player rechnen. Die Schwierigkeiten rechtsstaatlicher Bewältigung der Rechtsstaatswidrigkeiten, die sich seit 2010 in der polnischen Justiz und speziell auch beim polnischen Verfassungsgerichtshof aufgetürmt haben (zu diesen Schwierigkeiten u.a. hier, S. 227 ff., und hier), lenken den Blick auf ein zugrundeliegendes Kernproblem, das nicht nur in Polen zu besichtigen ist, und auch sonst nicht nur in Staaten, die von wirklich demokratischen und rechtsstaatlichen Verhältnissen noch oder wieder weit entfernt sind: Das Problem politisch einseitig besetzter Verfassungsgerichte. Es handelt sich um ein wenig beachtetes, aber sehr ernstes Problem – solange die politischen und regulatorischen Verhältnisse andauern, auf denen die einseitige Besetzung beruht, und, wie jetzt der polnische Fall deutlich macht, auch noch dann, wenn die politischen Verhältnisse sich ändern.

Individuelle und systemische Unparteilichkeit

Dieses Problem wird, wenn überhaupt, regelmäßig in begrifflich unsauberer Aufhängung diskutiert, nämlich als Problem der richterlichen Unabhängigkeit (dazu noch unten). Das führt häufig dazu, dass die Besetzung von Verfassungsgerichten durch das Parlament und andere politische Verfassungsorgane überhaupt im Hinblick auf die Unabhängigkeit der Richter kritisch betrachtet wird. Die Richterbestellung durch politische Organe erzeugt aber, wie sich an vielen Höchstgerichten weltweit beobachten lässt, keineswegs notwendigerweise Abhängigkeiten. Ein Problem entsteht nicht ohne weiteres durch politische, sondern durch politisch einseitige Besetzung, und dieses Problem ist nicht – und wenn doch, dann nicht der politischen Besetzung oder ihrer Einseitigkeit wegen – ein Problem der Unabhängigkeit. Was dem politisch einseitig besetzten Gericht per se fehlt, ist die strukturelle oder systemische Unparteilichkeit. Hier geht es nicht um besondere Voreingenommenheiten individueller Richterpersönlichkeiten, die eine Befangenheit begründen würden, also um die individuelle Unparteilichkeit der einzelnen Richter, sondern darum, dass dem Spruchkörper als Ganzem die Ausgewogenheit fehlt, die nötig ist, damit Werthaltungen, Vormeinungen, dadurch bedingte selektive Aufmerksamkeiten usf., wie sie jeder einzelne Richter mitbringt, sich nicht kraft numerischen Übergewichts oder gar gänzlicher Konkurrenzlosigkeit zu einer Rechtsprechung fügen, die in vorhersehbarer Weise stets oder weit überwiegend zugunsten oder zulasten bestimmter Seiten des politischen Spektrums ausschlägt.

Dass ein Gericht, dem die systemische Unparteilichkeit fehlt, außerdem auch noch mit Richtern bestückt sein kann, die individuell parteilich sind und nicht die von unabhängigen Richtern zu erwartende Distanz zu den Organen der Politik pflegen, und dass dies beim polnischen Verfassungsgericht zumindest teilweise der Fall war und ist,1) steht auf einem anderen Blatt und ändert nichts daran, dass diese Defizite zunächst einmal voneinander zu unterscheiden sind. Zwar gibt es Zusammenhänge: Abhängigkeit beeinträchtigt stets zugleich die Unparteilichkeit (so zutreffend das Consultative Council of European Judges, hier S. 4 f.). Umgekehrt können aber vollkommen unabhängige Richter nichtsdestoweniger individuell parteiisch sein, und einem vollkommen unabhängigen Spruchkörper kann aufgrund seiner unausgewogenen Zusammensetzung die systemische Unparteilichkeit fehlen.

Unabhängigkeit und Unparteilichkeit – abstrakte Bestimmungen in der Rechtsprechung des EuGH und des EGMR

In der Rechtsprechung der europäischen Gerichte wird systemische Unparteilichkeit bislang nicht explizit als solche und als Verstoß gegen das Unparteilichkeitsgebot der EMRK bzw. der Europäischen Verträge identifiziert.

Der EuGH unterscheidet hinsichtlich der richterlichen Unabhängigkeit die beiden Aspekte des Außen- und Innenverhältnisses und behandelt die Unparteilichkeit als den das Innenverhältnis betreffenden Aspekt der Unabhängigkeit. Dieser beziehe sich „darauf …, dass den Parteien des Rechtsstreits und ihren jeweiligen Interessen am Streitgegenstand mit dem gleichen Abstand begegnet wird. Dieser Aspekt verlangt, dass Sachlichkeit obwaltet und neben der strikten Anwendung der Rechtsnormen keinerlei Interesse am Ausgang des Rechtsstreits besteht“.2) Abgesehen von der wenig glücklichen Gegenüberstellung von Außen- und Innenverhältnis– schließlich geht es auch bei der Unparteilichkeit um das Verhältnis zu Außenstehenden und um deren Wahrnehmung des Gerichts – ist auch die Behandlung der Unparteilichkeit als ein „Aspekt“ der Unabhängigkeit nicht erkenntnisförderlich, weil sie den dargestellten – einseitigen – Zusammenhang zwischen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nicht erhellt und die Möglichkeit einer trotz voller Unabhängigkeit bestehenden Parteilichkeit ganz verdunkelt, indem sie sie per definitionemausschließt (wenn Unparteilichkeit ein „Aspekt“, also ein Element oder Unterfall, der Unabhängigkeit sein soll, beeinträchtigt ja Parteilichkeit zwangsläufig auch die Unabhängigkeit, und umgekehrt impliziert die Feststellung einer so verstandenen Unabhängigkeit, dass auch Parteilichkeit nicht vorliegt). Dass systemische Unparteilichkeit unter die zitierte abstrakte Umschreibung des Begriffs der Unparteilichkeit fällt, ist zwar nicht ausgemacht. Die weitere Erläuterung, wonach „die Garantien der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit“ voraussetzen, „dass es Regeln“ unter anderem „für die Zusammensetzung der Einrichtung …gibt, die es ermöglichen, bei den Einzelnen jeden berechtigten Zweifel an der Unempfänglichkeit dieser Einrichtung für äußere Faktoren und an ihrer Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen auszuräumen“3). Der EuGH hat die zitierte Erläuterung zwar bislang, obwohl dafür durchaus Anlässe bestanden hätten, nicht explizit auf das Problem der systemischen Unparteilichkeit hin konkretisiert, so dass man meinen könnte, er habe sie jedenfalls nicht mit Absicht auch auf die systemische Unparteilichkeit gemünzt. Trotzdem liegt es nahe, sie auch darauf zu beziehen. Dass etwa ein ausschließlich mit Exponenten einer bestimmten politischen Richtung besetztes Verfassungsgericht „berechtigte Zweifel“ an dessen „Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen“ auszulösen geeignet ist, lässt sich ja wohl kaum bestreiten.

Nach der Rechtsprechung des EGMR ist die von Art. 6 Abs. 1 EMRK geforderte Unparteilichkeit anhand eines subjektiven und eines objektiven Tests zu bestimmen, wobei der subjektive die Frage der Voreingenommenheit eines bestimmten Richters in einem gegebenen Fall betrifft, während der objektive darauf zielt, festzustellen, ob das Gericht selbst und unter anderem dessen Zusammensetzung hinreichende Garantien bieten, um jeden berechtigten Zweifel an seiner Unparteilichkeit auszuschließen.4) Zugleich gibt es aber zum sogenannten objektiven Test Erläuterungen, denen zufolge es dabei um objektive Fakten gehen soll, die Zweifel an der Unparteilichkeit eines individuellen Richters wecken, wobei dieser Test meist hierarchische Verbindungen zwischen dem Richter und anderen Protagonisten des Verfahrens betreffe.5) Bei aller Unzulänglichkeit dieser begrifflichen Klärungsversuche wird man doch die explizite Aussage, dass für die Frage der Unparteilichkeit unter anderem die Zusammensetzung des Gerichts relevant ist, ernst nehmen dürfen.

An klaren, imperativen Standards für das insoweit Geforderte fehlt es allerdings in der Rechtsprechung beider Gerichtshöfe, und das ist kein Zufall.

Vorkehrungen gegen systemisch parteiliche Besetzungen

Ein striktes und ausreichend konkretisiertes Postulat, dass Gerichte strukturell unparteilich im oben erläuterten Sinne sein müssen, existiert im internationalen und supranationalen Recht schon deshalb nicht, weil es an entsprechenden institutionellen Ausprägungen auf der nationalen Ebene in den meisten Staaten, und auch in einem großen Teil der demokratischen Rechtsstaaten, fehlt. Es gehört zu den Problemen vieler Verfassungsgerichte – weltweit, auch in Europa, und auch in der EU –, und zu den Ursachen nicht seltener Dysfunktionen und politischer Konflikte um die Verfassungsgerichtsbarkeit, dass selbst gegen politisch grob einseitige Besetzungen oft keine oder keine verlässlichen Vorkehrungen getroffen sind. Zwar findet man neben gänzlich abwesenden Pluralitätssicherungen auch verschiedene Formen des Versuchs, auf eine gewisse politische Pluralität in der Gerichtsbesetzung hinzuwirken. In etlichen davon kann man einen Ausdruck normativer Überzeugungen sehen; zumindest den Ausdruck der Überzeugung, dass gänzliche parteipolitische oder sonstige ideologische Homogenität nach Möglichkeit zu vermeiden ist. Aber all diese Vorkehrungen wirken nur begrenzt und nur unter bestimmten, nicht notwendigerweise permanent gegebenen, in der Praxis oft tatsächlich nicht vorliegenden Voraussetzungen.

Begrenzungen der Richteramtszeit verbessern die Aussicht auf Vermeidung langanhaltend einseitiger Gerichtsbesetzungen dadurch, dass die auswahlzuständigen politischen Organe, die ihrerseits in Demokratien meist nach Ablauf einiger Zeit politisch andersfarbig besetzt werden, in kürzeren Abständen als bei den ohne Altersgrenze auf Lebenszeit berufenen Richtern des US Supreme Court neue Besetzungsentscheidungen treffen können. Die Beteiligung unterschiedlicher Verfassungsorgane an der Richterbestellung, sei es im Split-Modell (jedes beteiligte Organ bestimmt einen Teil der Richter) oder im Kooperationsmodell (mehrere Organe müssen sich auf gemeinsam unterstützte Kandidaten einigen) oder in diversen Kombinationen beider Modelle (dazu näher hier, S. 162 ff.) geht ebenfalls mit verbesserten Chancen auf plurale Gerichtsbesetzungen einher. Sie diente zwar ursprünglich wohl eher der Sicherung von Ausgewogenheit im Verhältnis verschiedener Staatsorgane, erhöht zugleich aber die Wahrscheinlichkeit, dass bei der Richterauswahl unterschiedliche parteipolitische Strömungen zum Zuge kommen. Es kann aber eben auch sein, dass die verschiedenen Organe politisch gleichfarbig besetzt bzw. dominiert sind und sich daran bis zu den nächsten Gelegenheiten, neue Richter zu bestellen, nichts ändert. So berichtete Pierre Joxe, dass er während seiner gesamten neunjährigen Amtszeit (bis 2010) beim französischen Conseil Constitutionnel unter den ernannten Richtern der einzige nicht vom ehemaligen Staatspräsidenten Chirac oder dessen politischen Gefolgsleuten an der Spitze der beiden Parlamentskammern ins Amt gebrachte war.6) Auch Versuche, über eine zeitliche Streckung der Ernennung neuer Richter mittels zeitlich gestaffelter Amtsperioden (staggered appointments) ausreichende politische Pluralität sicherzustellen, scheitern häufig daran, dass im Zeitverlauf kein dafür ausreichender politischer Wechsel in der Besetzung der auswahlberechtigten Verfassungsorgane stattfindet und/oder dass keine ausreichenden Vorkehrungen für Verschiebungen der vorgesehenen Nachwahltermine durch vorzeitige Amtszeitbeendigung (Tod, Rücktritt etc.) oder durch Blockaden im Verfahren der Neubesetzung getroffen sind (näher hier, S. 173 ff.). Es kommt vor, dass die Regularien gerade auf Runderneuerung der gesamten Gerichtsbesetzung im Amtsperiodenrhythmus angelegt sind (Beispiele hier, S. 172, 179), und manchmal ist das zumindest ein Effekt der einschlägigen Besetzungsregeln. In der Tschechischen Republik zum Beispiel findet in zehnjährigen Abständen ein mehr oder weniger weitreichender Austausch der gesamten Besetzung des Verfassungsgerichts statt. Politisch pluralen Besetzungen sind solche Verhältnisse naturgemäß nicht zuträglich, wenn der nominierungsberechtigte Staatspräsident und der Senat, der die Nominierung nur mit einfacher Mehrheit bestätigen muss, ihre Befugnisse nicht auf ausgeprägt überparteiliche Weise auszuüben belieben.7) Im laufenden und im kommenden Jahr sind bzw. waren dreizehn der fünfzehn tschechischen Verfassungsrichter neu zu ernennen. Der seit diesem Jahr amtierende Staatspräsident hat ein beratendes Gremium ernannt, das ihm Kandidaten empfehlen und dabei auf Diversität u.a. der Meinungen achten soll, und zusätzlich verschiedene Institutionen zu Vorschlägen aufgefordert. Ob diese prima facie begrüßenswerte, zumindest transparenzsteigernde und mit gewissen informellen Selbstbindungen einhergehende, aber umstrittene Veränderung auf eine ausgewogene Besetzung hinausläuft, bleibt abzuwarten.

Die mehr oder weniger weitreichende Verlagerung von Auswahlkompetenzen auf empfehlende, abschließend vorschlags- oder sogar abschließend auswahlberechtigte Gremien wie Justizräte u.ä. ist auch sonst verbreitet. Sie wird nicht zuletzt als Instrument der Entpolitisierung der Richterauswahl und damit verbundener Steigerung der Unabhängigkeit der Richter propagiert und kann durchaus auch zu politischer Pluralisierung beitragen. Sie ist aber alles andere als ein sicheres Mittel dazu. Oft verschleiert sie gerade in ihren auf Entpolitisierung zielenden Ausgestaltungen politische Einflüsse – die im Übrigen nicht nur von den politischen Verfassungsorganen, sondern auch von beteiligten Justizorganen und gesellschaftlichen Akteuren ausgehen können –, und verschärft justizinterne Abhängigkeiten. Je verbindlicher der Einfluss solcher Gremien ausgestaltet ist, desto mehr wirft er zudem, besonders bei Verfassungsgerichten, Probleme der demokratischen Legitimation auf (zum Ganzen hier, S. 210 ff.).

Selbst qualifizierte Mehrheitserfordernisse für die Richterwahl, wie sie in Deutschland (Zweidrittelmehrheitserfordernis gem. § 6 II 2, § 7 BVerfGG) und vielen anderen Ländern – zuweilen nur für einen von Mehrpersonenorganen gewählten Teil der Richter – vorgesehen sind, können als Instrumente der Herstellung von Ausgewogenheit versagen, sei es weil das besondere Mehrheitserfordernis sich auf einen zu kleinen Teil der Richter bezieht, sei es wiederum aufgrund von Blockaden, für deren Überwindung ausreichende Auffangmechanismen fehlen, oder sei es, weil eine dominante Partei oder regierende Parteienkoalition in die Lage kommt, ein geltendes qualifizierte Mehrheitserfordernis ohne Einbeziehung der Opposition zu erfüllen, wie es aufgrund eines die Präferenzen der Wähler schlecht widerspiegelnden Wahlrechts wiederholt in Ungarn der Fall war. Normen wiederum, nach denen bei Richterwahlen auf eine proportionale Verteilung der Richterstellen entsprechend den politischen Verhältnissen im jeweiligen Parlament zu achten ist, wie sie in der Schweiz in einigen Kantonen kraft Verfassung statuiert sind und auf eidgenössischer Ebene als Konvention gelten und befolgt werden, wirken nur unter den dort gegebenen Bedingungen eines Vielparteiensystems ohne großkoalitionäre Blockbildungen hinreichend pluralisierend, ganz zu schweigen davon, dass in der gegenwärtigen Phase zunehmender politischer Polarisierung bloße Konventionen zunehmend unter Druck geraten.

Soft law und – nicht nur softes – Rückschrittsverbot

Die internationale Praxis lässt also durchaus einen verbreiteten Sinn für die Notwendigkeit politischer Pluralität in der Besetzung höchster Gerichte erkennen. Allgemein anerkannte strikte Standards dafür, geschweige denn für die nähere Ausgestaltung der Instrumente, mit denen sie zu erreichen wäre, existieren allerdings selbst im Kreis anerkannter rechtsstaatlicher Demokratien nicht und können deshalb auch von internationalen Gerichten, die sich bei der Konkretisierung abstrakter Rechtsstaatlichkeitsnormen nicht beliebig von den in den jeweiligen Mitglieds- bzw. Vertragsstaaten herrschenden Rechtsüberzeugungen abkoppeln können, einstweilen kaum entwickelt werden. Zudem zeigt sich an den obigen Beispielen, dass die Angemessenheit rechtlicher Rahmenbedingungen zur Sicherung einer ausgewogenen Besetzung von Verfassungsgerichten in hohem Maße kontextabhängig ist. Uniforme strikte Standards lassen sich auch aus diesem Grund nicht sinnvoll entwickeln.

Erkennbar ist aber ein soft law, das die ausgewogene Besetzung von Höchstgerichten, die über Verfassungsfragen entscheiden, als ein Desid