„Elfes“ Revisited?
Der Klimabeschluss des Bundesverfassungsgerichts
So überzeugend der Klimabeschluss des BVerfG im Hinblick auf die strukturelle Koppelung der planetaren Grenzen in Form des 1,5-2 Grad-Ziels mit Art. 20a GG im Ergebnis ist, so sehr wirft doch der grundrechtliche Weg dahin in rechtsdogmatischer Hinsicht viele Fragen auf. Diese werden im Verfassungsblog vor allem in den Beiträgen von Aust, Breuer, Buser, Ekardt, Stohlmann sowie Rath/Benner kontrovers diskutiert. Insoweit konzentriere ich mich in diesem Beitrag auf die für den Klimabeschluss zentrale Frage, ob der Erste Senat im Klimabeschluss die berühmte, aber zugleich auch umstrittene „Elfes“-Konstruktion fruchtbar macht und in diesem Rahmen einen im Hinblick auf die Grundrechtsdogmatik tragfähigen und zukunftsweisenden Weg beschritten hat.
Drei grundrechtliche Wege
In der Zulässigkeit erörtert das BVerfG zunächst drei grundrechtliche Wege. Im Hinblick auf das von den Beschwerdeführern angeführte Grundrecht auf ein ökologisches Existenzminimum hält es das BVerfG zumindest für möglich, dass ein solches Grundrecht eine eigenständige Wirkung entfalten kann, sieht aber im konkreten Fall aufgrund seiner diesbezüglichen Auslegung keinen Anwendungsbereich (Rn. 113-115). Bis in die Begründetheit schaffen es demgegenüber die staatlichen Schutzpflichten für die Grundrechte auf Leben, Gesundheit und Eigentum (Rn. 96 und 143 ff.). Sie laufen im Ergebnis aber angesichts des restriktiven Kontrollmaßstabs einer bloßen Evidenzkontrolle ins Leere (Rn. 151-172). Insoweit belässt es der Erste Senat hinsichtlich des Klimaschutzgesetzes bei der inkohärenten Rechtsprechung des BVerfG, indem er das in anderen Fällen etablierte Untermaßverbot samt der ihm inhärenten Vertretbarkeitskontrolle im Bereich des Umwelt- und Klimaschutzes einmal mehr nicht zum Kontrollmaßstab macht. Erstaunlich, denn das Untermaßverbot verlangt doch gerade – nicht mehr und nicht weniger – als jenes in sich schlüssige, wirksame und damit vorausschauende Schutzkonzept, auf das auch der Erste Senat im Ergebnis überzeugend abzielt (Rn. 243 ff.).
Darüber hinaus wird vom Ersten Senat hinsichtlich der Beschwerdeführer „eine verfassungswidrige Gefährdung ihrer grundrechtlich umfassend geschützten Freiheit“ für möglich gehalten (Rn. 96). Hierüber wird jene für das Urteil entscheidende generationenübergreifende Langfristperspektive auf die deutsche Klimapolitik vermittelt (vgl. Rn. 116 ff. und dann Rn. 188 ff.). Mittels einer „Vorwirkung auf künftige Freiheit“ (Rn.116) sowie einer im Vergleich zu anderen Entscheidungen weiten Auslegung der Betroffenheit (Rn. 108 und 129 ff.) eröffnet das BVerfG in der Beschwerdebefugnis den Zugang zum Gericht und definiert zugleich jene maßstabssetzende Kontrolle der „intertemporalen Freiheitssicherung“ (Rn. 122): An und für sich zutreffendes Leitmotiv ist, dass im Interesse des Klimaschutzes notwendig werdende Freiheitsbeschränkungen ums so milder ausfallen können, „je früher diese initiiert“ werden und „je weiter das allgemeine CO2-Emissionsniveaus bereits gesenkt ist“ (Rn. 120 f.).
In der Begründetheit wird dieser Ansatz dann konkretisiert: Es seien, so der Erste Senat, „Grundrechte verletzt“ (Rn. 182), die fehlenden Mindestregelungen des Klimaschutzgesetzes über Reduktionserfordernisse nach 2030 entfalteten eine „eingriffsähnliche Vorwirkung auf die durch das Grundgesetz geschützte Freiheit der Beschwerdeführenden“. In Rn. 184 lässt das BVerfG dann die „Katze aus dem Sack“, wenn es ausführt: „Das Grundgesetz schützt sämtliche menschlichen Freiheitsbetätigungen durch spezielle Freiheitsgrundrechte und jedenfalls durch die in Art. 2 Abs. 1 GG […] verbürgte allgemeine Handlungsfreiheit“.
Die allgemeine Handlungsfreiheit als Freiheit aller Freiheiten
Die Inbezugnahme des Art. 2 Abs. 1 GG kennzeichnet wohl die in grundrechtsdogmatischer Hinsicht entscheidende Stelle des Klimabeschlusses. Nicht zuletzt, weil an dieser Stelle jede Auseinandersetzung mit der eigenen Rechtsprechung und dem einschlägigen Schrifttum fehlt, bleibt der Ansatz des Ersten Senats in vielerlei Hinsicht jedoch unklar und (den Verfasser eingeschlossen) für Missverständnisse anfällig.
Klar ist zunächst einmal nur, dass es dem Ersten Senat beim Prüfungsmaßstab um die abwehrrechtliche Dimension der Grundrechte geht. Zugleich soll dann aber die „verhältnismäßige Verteilung von Freiheitsrechten über die Generationen“ (Rn. 183, 243) zu einer konkreten Pflicht des Gesetzgebers führen, die Minderungsziele für den Zeitraum nach 2030 festzulegen (Rn. 251 ff.). Ein solcher Handlungsauftrag wäre aber eigentlich typische Folge der grundrechtlichen Schutzdimension. Hier deutet der Erste Senat letztlich eine grundrechtliche Schutzpflicht in ein Abwehrrecht um. Im Zuge dieser „Transformation“ kann er das Klimaschutzgesetz dann in Anlehnung an das abwehrrechtliche Eingriffsschema samt rechtsstaatlichem Verteilungsprinzip prüfen. In diesem Rahmen identifiziert das BVerfG Art. 20a GG als rechtfertigende Grenze einer mehrdimensionalen und intertemporalen Freiheitsausübung (Rn. 185, 190) und kann daran anknüpfend praktische Konkordanz im Wege einer Verhältnismäßigkeitsprüfung (192 ff.) im Hinblick auf die Gefährdung künftiger Freiheit einfordern (Rn. 186 ff.).
„Elfes“ Revisited?
Möglicherweise hat das BVerfG das objektiv-rechtliche Staatsziel des Art. 20a GG samt Klimaschutzgesetz hiermit in Anlehnung an die sog. Elfes-Rechtsprechung des BVerfG „versubjektiviert“. Im Zuge der „Elfes“-Konstruktion wirkt die allgemeine Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG – wie es das BVerfG wiederholt formuliert hat – als ein „Grundrecht des Bürgers, nur aufgrund solcher Vorschriften mit einem Nachteil belastet zu werden, die formell und materiell der Verfassung gemäß sind”. Auf diese Weise wird Art. 2 Abs. 1 GG nach herrschender Auffassung zu einem Grundrecht auf Verfassungsmäßigkeit der gesamten Staatstätigkeit. Dies hat zur – freilich vom BVerfG nicht immer so klar benannten – Folge, dass objektiv-rechtliche Verfassungsgrundsätze subjektiviert werden können. Demnach hat jeder Bürger z.B. ein subjektives Recht auf Rechtsstaatlichkeit aller staatlichen Maßnahmen, selbst wenn sie nicht in ein spezielles Grundrecht eingreifen. Infolgedessen muss er nur verhältnismäßige Freiheitseingriffe dulden. Solchermaßen kann der allgemeinen Handlungsfreiheit – was im berühmten Sondervotum des damaligen Verfassungsrichters Grimm zum „Reiten im Walde“ kritisch aufgegriffen wird – eine allgemeine Eingriffsfreiheit entnommen werden, im Zuge derer die gesamte verfassungsmäßige Ordnung subjektiviert wird.
Auf dem Wege zum „Öko-Elfes“?
Maßstabsetzender Anknüpfungspunkt im Klimabeschluss ist nun aber nicht die Rechtsstaatlichkeit, sondern der objektiv-rechtliche Verfassungsgrundsatz der Umweltstaatlichkeit. Insoweit konstatiert das BVerfG eine aus dem Staatsziel des Art. 20a GG fließende Pflicht des Gesetzgebers (Rn. 19-21, 120 mit 158 ff. 216 ff.), die „notwendigen Reduktionen von CO2-Emissionen bis hin zur Klimaneutralität vorausschauend in grundrechtsschonender Weise über die Zeit zu verteilen.“
Über Art. 2 Abs. 1 GG könnte somit also das objektiv-rechtliche Umweltstaatsziel vom BVerfG zu einem unbenannten Grundrecht auf Freiheit von Umweltbelastungen entwickelt worden sein. Diese „Öko-Elfes“-Konstruktion würde ein Umweltgrundrecht schaffen, das kombiniert mit einem weiten Eingriffsbegriff, der sich mit „eingriffsähnlicher Vorwirkung“ auch in die Zeit und damit auch auf künftige Generationen erstreckt, einen allgemeinen Anspruch auf umweltverträgliches, zumindest aber umweltrechtmäßiges Handeln am Maßstab des Art. 20a GG etabliert.
Wenn das BVerfG diesen Ansatz intendiert haben sollte, bestehen aber offene Fragen: Diese kreisen vor allem um die überraschende Feststellung des BVerfG, dass die für den Klimabeschluss zentrale Maßstabsnorm des Art. 20a GG im Ergebnis gar nicht verletzt sein soll (Rn. 183, 196 ff.). Verletzt ist dem BVerfG zufolge „nur“ das Gebot der Verhältnismäßigkeit (Rn. 243). Damit entfällt aber schon der verfassungsrechtliche Anknüpfungspunkt für die „eingriffsähnliche Vorwirkung“, die wiederum Grundlage für die von den Karlsruher Richtern postulierte „intertemporale Freiheitssicherung“ im Klimaschutz bis 2050 ist. Im Zuge dessen stellt sich wiederum die Frage, worauf das Ergebnis des Ersten Senats, dass der Gesetzgeber das Klimaschutzgesetz für die Zeit nach 2030 nachbessern muss, gestützt sein kann, wenn der über Art. 2 Abs. 1 GG vermittelte allgemeine Anspruch auf umweltrechtmäßiges Handeln am Maßstab des Art. 20a GG nicht greift. Selbst wenn man insoweit die klassische „Elfes“-Konstruktion zugrunde legt, die (vermittelt über das Rechtsstaatsprinzip) einen Anspruch auf formell und materiell rechtmäßiges Handeln des Staates postuliert, dann entbehrt auch hier die intertemporale Freiheitsverteilung am Maßstab der Verhältnismäßigkeitsprüfung einer im Wortlaut der Verfassung zum Ausdruck kommenden Grundlage. Damit scheidet für den Klimabeschluss eine auf umweltrechtmäßiges Handeln gerichtete „(Öko)-Elfes“-Konstruktion mangels Verletzung des Art. 20a GG aus.
Fragen und Einwände
Insoweit bleibt als Anknüpfungspunkt für die „intertemporale Freiheitssicherung“ dann nur die „eingriffsähnliche Vorwirkung“ übrig. Wenn diese nicht völlig schwere- und uferlos sein soll, dann bedarf auch sie einer Erdung im Wortlaut der Verfassung. Wo aber ist dieser zu finden, wenn nicht in Art. 20a GG mit seiner ausdrücklichen Einbeziehung der „künftigen Generationen“ in den Umwelt- und Klimaschutz? Ohne eine Verletzung des Art. 20a GG eröffnet das BVerfG dann aber mit der „eingriffsähnlichen Vorwirkung“ tatsächlich die Perspektive für einen Grundrechtsschutz, der sich pauschal auf sämtliche Zukunfts- und Generationenfragen (Haushalt, Sozialversicherungen) erstrecken würde. Auf diese Weise, also ohne Erdung in Art. 20a GG, würde nicht nur das seit 2008 in der politischen Debatte befindliche Staatsziel der Generationengerechtigkeit vom BVerfG (und nicht vom verfassungsändernden Gesetzgeber) eingeführt, sondern es würde zugleich „subjektiviert“. In diesem Rahmen würde das BVerfG zu einem „Hüter der Generationengerechtigkeit“, der – ohne konkreten verfassungsrechtlichen Rahmen, allein auf Basis einer intertemporalen Verhältnismäßigkeitsprüfung – die vom Gesetzgeber vorgenommene „Freiheitsverteilung“ überprüft. Dies ist aber eine politische Aufgabe, die allein durch institutionelle Vorkehrungen im demokratischen Gesetzgebungsprozess gewährleistet werden sollte.
Selbst wenn man all diese Fragen beiseite lässt und annimmt, dass mit dem Klimabeschluss eine tragfähige Fortentwicklung der „Elfes“-Konstruktion ermöglicht werden sollte, so stellt sich noch immer die Frage, wie der Betroffenenkreis ermittelt werden soll, mit anderen Worten, wer grundrechtsberechtigt sein soll. Insoweit gilt, je weiter der Begriff des Eingriffs gefasst wird, desto größer ist der Kreis der Grundrechtsberechtigten, die sich auf jenen weiten Schutzbereich des Art. 2 Abs. 1 GG berufen können. Und genau hier liegt mit Blick auf die Grundrechtsdogmatik ein weiteres Problem. Angesichts der Tatsache, dass die Diskussion um den Eingriffsbegriff sich im Interesse eines effektiven Freiheitsschutzes der Bürger vom klassischen unmittelbaren Grundrechtseingriff gelöst hat, indem auch nur mittelbare bzw. faktische Grundrechtseingriffe anerkannt werden, ergeben sich mit Blick auf den Kreis der Grundrechtsberechtigten erhebliche Abgrenzungsprobleme. Diesen kann man im Ergebnis auf zweierlei Weise begegnen: Zum einen kann ein so weiter Schutzbereich wie derjenige des Art. 2 Abs. 1 GG nur über einen relativ engen Eingriffsbegriff gesteuert werden. Zum anderen muss über das Kriterium der Betroffenheit die Abgrenzung zur Popularklage und einem allgemeinen Gesetzesvollziehungsanspruch erfolgen. Notwendig ist dann aber, anders als das BVerfG meint (vgl. Rn. 110), eine qualifizierte Beziehung des Klägers zur angefochtenen staatlichen Maßnahme, die ihn über die Betroffenheit als bloßes Mitglied der Allgemeinheit heraushebt. So kann die Betroffenheit (wie bei der Interessentenklage) zwar mit Blick auf die faktische Situation bestimmt werden, jedoch ist eine qualifizierte, besondere Beziehung zum Streitgegenstand erforderlich.
Perspektiven nach dem Klimabeschluss
Im Hinblick auf den Klimabeschluss bedeutet dies aber wiederum, dass auf den Bezug zu individuellen Rechtsgütern nicht gänzlich verzichtet werden kann. Pauschal auf „Freiheitsrechte“ abzustellen, wie es das BVerfG tut (Rn. 182 ff.), ist insoweit nicht zielführend. Insoweit besteht die Gefahr, dass beliebige politische Konflikte über Art. 2 Abs. 1 GG auf die Verfassungsebene hochgezont und zu Lasten der Handlungsfreiheit des Gesetzgebers verfassungsrechtlich vorentschieden werden. Nicht von ungefähr hat das BVerfG unbenannte Freiheitsrechte bislang nur im Umfeld der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG entwickelt. So hat es sich z.B. bei der Herausarbeitung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts an einer dieses konkretisierenden Sphärentheorie orientiert, die auf den jeweiligen Menschenwürdegehalt der in Frage stehenden Beeinträchtigungen abstellt.
Vor diesem Hintergrund eröffnen sich mit Blick auf zukünftige Entscheidungen zwei Perspektiven: Zum einen könnte das im Klimabeschluss zwar anerkannte, im konkreten Fall jedoch nicht zur Anwendung gebrachte Grundrecht auf das ökologische Existenzminimum (Rn. 113-115) fruchtbar gemacht werden. Dieses, in Analogie zum anerkannten Grundrecht auf das soziale Existenzminimum in der Wissenschaft entwickelte Grundrecht, knüpft ja gerade an die Menschenwürde an. Versteht man dieses neue Grundrecht in Verbindung mit dem in Art. 20a GG verankerten Vorsorgeprinzip als Leistungsrecht, das einen Mindestschutz vor einem Überschreiten der planetaren Grenze des 1,5-2 Grad-Ziels gewährleistet, dann besteht für die Politik eine Rechtspflicht, dafür Sorge zu tragen, dass zu den irreversiblen Kippunkten mit ihrer wissenschaftsbasierten Folge eines möglichen „Verwüstungsszenarios“ Abstand gehalten wird. Im Lichte der dem Vorsorgeprinzip immanenten widerleglichen Gefährlichkeitsvermutung trifft dann die Politik die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass ihr klimapolitisches Schutzkonzept, konkret das Klimaschutzgesetz, hinreichend effektiv ist.
Zum anderen hat der Erste Senat das Potential der (warum auch immer ungeliebten?) grundrechtlichen Schutzpflichten nicht über das Untermaßverbot entfaltet. Diese Tür hält der Klimabeschluss jedenfalls offen. Im Dreieck der Freiheitsverteilung zwischen den grundrechtlichen Schutzpflichten, den gegenläufigen Abwehrrechten und den Vorgaben des Staatziels des Art. 20a GG könnte die vom BVerfG angestrebte „verhältnismäßige Verteilung von Freiheitschancen über die Generationen“ unter Achtung des notwendigen gesetzgeberischen Spielraums im Rahmen einer mehrpoligen Verfassungsrechtsverhältnisses konkretisiert werden. Dessen Vorgaben setzen den verfassungsrechtlichen Rahmen für ein in sich schlüssiges und gerechtes sowie kontrollierbares gesetzliches Schutzkonzept, das der Gesetzgeber zu formulieren und durch konkrete Maßnahmen auszugestalten hat.
Bekommen wir mit dem Klimabeschluss nun eine erneute „Elfes“- und „Reiten im Walde“-Debatte? Eines ist jedenfalls klar: Ebenso wie die Politik das Ergebnis des verfassungsgerichtlichen Klimabeschlusses über die Jahre noch intensiv beschäftigen wird, so wird die juristische Debatte in Theorie und Praxis noch länger durch den grundrechtlichen Weg dorthin inspiriert werden. Fortsetzung folgt …
Der Beitrag knüpft an Überlegungen an, die der Verfasser in seinem Buch „Rechtsstaat und Umweltstaat, Zugleich ein Beitrag zur Grundrechtsdogmatik im Rahmen mehrpoliger Verfassungsrechtsverhältnisse“, 2001, S. 305 ff. und 417 ff. angestellt hat. Er ist gegenüber der ursprünglich veröffentlichten Version an einigen Stellen aktualisiert (26.5.2021).
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Lieber Christian,
wenn man die Entscheidung tatsächlich einmal nur unter dogmatischen Gesichtspunkten bewertet (was ein Fehler sein könnte, s.u.), hast Du m.E. den neben der völligen Unterbestimmtheit der in der Zukunft drohenden Freiheitseingriffe zentralen Schwachpunkt der Entscheidung ausgemacht: warum man statt des Weges über die Schutzpflicht den ungleich komplizierteren über die Aktivierung des Abwehrrechts mittels der Konstruktion der „eingriffsähnlichen Vorwirkung“ genommen hat. Meine Vermutung, die ich natürlich nicht belegen kann, ist, dass man die ältere Diskussion um die konstruktive Begründung der Schutzpflicht irgendwie nicht mehr richtig parat hatte: In den 1980er und 1990er Jahren hat es ja verschiedene Versuche gegeben, diese nicht aus den objektiv-rechtlichen Gehalten der Grundrechte abzuleiten, sondern als einen Reflex des Abwehrrechts zu rekonstruieren und das bisherige Eingriffs- und Schrankendenken in diesem Sinne fortzuschreiben (Schwabe, Lübbe-Wolff, Schlink etc., 2003 dann nochmals Poscher). Erreichen wollte man das im Wesentlichen dadurch, dass das staatliche Unterlassen bzw. die staatliche Duldung von Freiheitseingriffen durch Dritte dem Staat selber in der einen oder anderen Weise als rechtfertigungsbedürftiger Eingriff zugerechnet wird. Das hat sich im Ergebnis nicht durchgesetzt, weil man es als einen überflüssigen und am Ende auch nicht praktikablen Umweg erkannt hat. Und auch hier sieht man ja die konstruktiven Schwierigkeiten, die man sich damit einhandelt: Die bisherigen „Schranken-Schranken“ kehren sich in ihrer Bedeutung um und fungieren nicht mehr wie sonst als Begrenzung der staatlichen Handlungsmöglichkeiten, sondern als Aufforderung an den Gesetzgeber, mehr zu machen als bisher; das war den Studierenden in der Besprechung der Entscheidung in meinem Kolloquium ziemlich schwer zu vermitteln. Und die Umdeutung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, die man zu diesem Zweck vornehmen muss, lässt sich ja mit keinem der diesem bisher zugeschriebenen Begriffselemente in Einklang bringen oder sich daraus irgendwie ableiten. Für all dies hätte sich die Schutzpflicht – nun nicht für Leben und Gesundheit, aber eben für die künftigen Freiheiten der Beschwerdeführenden, auf deren konkrete Benennung man hier dann genauso hätte verzichten können, wie man es sich nun auch für die abwehrrechtliche Dimension erspart hat – als einfachere und für das, was man erreichen wollte, schon ziemlich passgenaue Alternative geradezu angeboten. Möglicherweise stimmt dann Deine Vermutung, man habe stattdessen Art. 20a GG subjektivieren und individuell einklagbar machen wollen und dafür die Elfes-Logik fruchtbar gemacht. Aber auch das hätte man, wie Du richtig siehst, in Parallele zur Subjektivierung des Sozialstaatsprinzips über Art. 1 Abs. 1 einfacher haben können, zur Not über die beliebte Kombination „Art. 2 Abs. 1 i.V.m.“. Aber vielleicht zeigt das, dass man Entscheidungen des BVerfG nicht nur unter dogmatischen Gesichtspunkten bewerten soll, und die meisten, die sie nun als überfälligen Schritt in die richtige Richtung bejubeln, tun das ja auch nicht.
Lieber Uwe,
Danke für Dein kluges Feedback, den Hintergrund beschreibst Du auch aus meiner Sicht überzeugend. Einleitend habe ich hier in der Tat nur kurz, ausführlicher aber in den Medien und einem Beitrag in Heft 6 der ZUR das Ergebnis des BVerfG ja ebenfalls ausdrücklich begrüßt (https://www.jura.fu-berlin.de/fachbereich/einrichtungen/öffentliches-recht/lehrende/calliessc/Aktuelles/20210430_BVerfG-Klima.html). Da ich von 2008 -2020 Mitglied im vom BVerfG zitierten Sachverständigenrat für Umweltfragen war, wäre auch alles andere überraschend und widersprüchlich. Gleichwohl erscheint es mir im wissenschaftlichen Diskurs wichtig, auch die grundrechtsdogmatischen Fragen – wo nötig – kritisch zu diskutieren. Auch um den Preis, dass man hier und da (bewusst) missverstanden und fälschlich zitiert wird. Unser aus guten Gründen geschätztes Erfolgsmodell des BVerfG ist auf diesen konstruktiv-kritischen Dialog mit der Rechtswissenschaft angewiesen. Aber wem sage ich das 🙂 …. Jedenfalls hoffe ich, diesen Dialog mit meiner Kritik am grundrechtlichen Weg zu befördern, ohne damit das objektivrechtlich überzeugende Ergebnis, das ja vom BVerfG GENAU SO auf anderen grundrechtsdogmatischen Wegen hätte erreicht werden können, in Frage zu stellen.
Lieber Christian,
ich schließe mich Uwe an. Die alte Dogmatik passt nicht mehr und wir müssen den Klimabeschluss wohl als dogmatische Innovation verstehen. Aber Du fragst zu Recht nach dem „Anknüpfungspunkt“. Den suche ich auch. Es kann nicht Art. 20a GG sein und hier liegt das Problem, dem mit „Elfes“ Gedanken nicht aus dem Weg gegangen werden kann, dann aber Fragen offen lässt. Es ist richtig, dass der Erste Senat die abwehrrechtliche Seite aktiviert. Und das ist auch gut so. Aber die Schutzpflichten werden nicht einfach verabschiedet und „laufen“ gewissermaßen mit. Deshalb noch einmal meine Frage, ob wir Dein Problem nicht mit folgender Formulierung lösen können: „Das BVerfG konnte einen Schutzpflichtenverstoß ‚derzeit‘ nicht feststellen, hält ihn aber in Zukunft für möglich, zu dessen Abwendung in Grundrechte eingegriffen werden müsste. Insoweit entfaltet die Verlagerung von Emissionsminderungslasten in die Zukunft ‚eingriffsähnliche Vorwirkungen‘, die durch Art. 20a GG gerechtfertigt sein müssen“. Ich glaube nicht, dass es weiterhilft, über ein ökologisches Existenzminimum weiter nachzudenken, ebensowenig wie das Untermaßverbot hervorgekramt werden müsste. Es ist ein neuer Weg, den wir dogmatisch neu begründen müssen, wenngleich ich die Sorgen nicht teile, hier würde der Primat der Politik ungebührlich relativiert. Es ist ein Steinbruch, freuen wir uns über neue Aufgaben.