Twitter – Wie der Digital Services Act willkürlichen (Ent-)Sperrungen und der „Generalamnestie“ eine Absage erteilt
Die Willkür Elon Musks auf Twitter sorgt für Entsetzen. Im Sinne seines Free-Speech-Ansatzes ging er dazu über, Twitter zu einem möglichst „inklusiven“ Raum zu machen und vormals gesperrte Konten wieder freizuschalten („Unblocking“). Dabei macht der neue Twitter-Chef seine Entscheidungen von den Ergebnissen von Umfragen seines Twitter-Accounts abhängig, die zutreffend als nicht repräsentativ und populistisch kritisiert werden. Nachdem bereits das Twitter-Konto Donald Trumps auf Grundlage einer Umfrage wieder freigeschaltet wurde, kündigte Musk nach einer weiteren Umfrage an, alle gesperrten Twitter-Konten in einer „Generalamnestie“ wieder freizuschalten. Dies wird auf Grund der Gefahren, die unter anderem von radikalen Akteuren ausgehen, zurecht kritisch betrachtet. Außerdem wolle er auch künftig auf Deplatforming, also den (zeitweisen) Ausschlüssen von Nutzer*innen von einer Online-Plattform, weitgehend verzichten. Im Widerspruch zur versprochenen „breiten Inklusivität“ wurden jedoch Vertreter*innen anderer politischer Meinungen gesperrt.
Elon Musk hat durch solche willkürlichen (Ent-)Sperrungen von Nutzer*innen zur Unsicherheit und Polarisierung des Online-Diskurses beigetragen. Derartiger Willkür bei der Mitgliedermoderation wird der neue Digital Services Act (DSA) der EU einen Riegel vorschieben.
Kein Twitter der grenzenlosen Inklusivität
Das Vorhaben Musks, in Zukunft von Deplatforming weitgehend abzusehen, kann unter dem DSA nicht verwirklicht werden. Art. 23 Abs. 1 DSA schreibt vor, dass Anbieter ihre Dienste für Nutzer, die häufig und offensichtlich rechtswidrige Inhalte bereitstellen, nach vorheriger Warnung für einen angemessenen Zeitraum aussetzen. Solch eine Deplatforming-Pflicht war in Deutschland nach dem NetzDG nicht vorgesehen und wurde bislang nur auf der Grundlage privatrechtlicher AGB vorgenommen. Bei der Anwendung des Art. 23 Abs. 1 DSA wird den Dienste-Anbietern wie Twitter zwar ein Spielraum eingeräumt. Jedoch ergibt sich aus dem ausdrücklichen Angemessenheitskriterium des Art. 23 Abs. 1 DSA, dass eine dauerhafte Aussetzung oder gar Kündigung – gerade bei strukturell besonders wichtigen Diensten wie Twitter – nur Ultima Ratio erfolgen darf. Zudem wird den Dienste-Anbietern nach Art. 23 Abs. 4 DSA aufgegeben, festzulegen, wann die Schwelle der Offensichtlichkeit überschritten ist und wie häufig sich das rechtswidrige Verhalten wiederholen sollte. Sie haben dies in ihren AGB klar und ausführlich und anhand von Beispielen darzustellen. Musks Vorstellung eines Raums der maximalen „Inklusivität“ kann damit nicht verwirklicht werden. Der Ausgestaltungsspielraum und die Transparenzpflicht des Art. 23 Abs. 4 DSA stellen jedoch einen gelungenen Kompromiss zwischen der Freiheit der Dienste-Anbieter bei der Gestaltung ihres Geschäftsmodells, dem Recht der Nutzer*innen auf Verhältnismäßigkeit, Objektivität und Gleichbehandlung bei der Deplatforming-Entscheidung und dem Interesse der Online-Community an einem sicheren und vertrauenswürdigen Online-Umfeld dar.
Auch beliebig wirkende Deplatforming-Entscheidungen Musks werden in Zukunft im Anwendungsbereich des DSA nicht mehr möglich sein. Dienste-Anbieter wie Twitter müssen sich auch darauf gefasst machen, dass über die gesetzliche Verpflichtung hinausgehendes freiwilliges Deplatforming auf Grundlage von AGB unter dem DSA nicht uneingeschränkt zulässig ist. Nach Maßgabe des Art. 14 Abs. 1 DSA müssen Beschränkungen der Dienste – auch Deplatforming – in den AGB angegeben werden. Hierdurch trägt der DSA zur Transparenz und Nachvollziehbarkeit von Moderationsmaßnahmen bei. Art. 14 Abs. 4 DSA schreibt zudem vor, dass die AGB in objektiver, die Grundrechte der Nutzer*innen wahrender Weise angewendet werden müssen. Aus dem Objektivitätserfordernis kann geschlossen werden, dass sachliche Kriterien für Deplatforming im Vorfeld festgelegt sein müssen. Zudem folgt aus dem Kriterium der Wahrung der Grundrechte, dass bei der Entscheidung eine Abwägung zwischen den Grundrechten der zu sperrenden Nutzer*innen und den Grundrechten anderer Nutzer*innen erfolgen muss.
Die Pflichten aus Art. 14 Abs. 1, 4 DSA beziehen sich auf jegliche Beschränkungen, also auch auf fortdauernde Sperrungen von Nutzer*innen-Konten. Daher ist davon auszugehen, dass Fälle, in denen das Deplatforming vor Geltungsbeginn des DSA vorgenommen wurde, im Anschluss einer erneuten Prüfung unterzogen werden müssen. Noch ist der DSA nicht anwendbar, könnte aber für Twitter nach Maßgabe des Art. 92 DSA schon in wenigen Monaten gelten, sobald der Dienst als „sehr große Online-Plattform“ i.S.d. Art. 33 Abs. 1 DSA deklariert werden sollte.
Keine „Generalamnestien“ unter dem DSA
Eine „Generalamnestie“, als ein massenhaftes Unblocking gesperrter Konten, würde den Vorgaben des DSA ebenso zuwiderlaufen. Zwar ergibt sich dies nicht explizit aus den beschlossenen Regelungen. Auf Grund der ähnlichen Sachlage muss das zum Deplatfoming Gesagte aber analog für das Unblocking gelten. Auch hier geht es um den Zugang zu einer Online-Plattform für Nutzer*innen, die ggf. wegen der wiederholten Verbreitung offensichtlich rechtswidriger Inhalte gesperrt wurden. Entsprechend muss geprüft werden, ob der Dienst eine angemessene Zeit ausgesetzt wurde. Eine „Generalamnestie“ ohne vorherige Einzelfallprüfung wäre nach dem DSA daher ebenfalls nicht zulässig.
Im Gegensatz zu ungerechtfertigten Sperrungen, die wegen Art. 14 Abs. 1 DSA nach Inkrafttretens des DSA ohne Prüfung nicht weiter aufrecht erhalten bleiben dürfen (s.o.), können Entsperrungen vor In-Geltung-Tretens des DSA zunächst durchgeführt werden. Ab Inkrafttreten des DSA muss jedoch bei Nutzer*innen, die wiederholt rechtswidrige Inhalte verbreiten, in jedem Einzelfall geprüft werden, ob Deplatforming nach Art. 23 Abs. 1 DSA erfolgen muss. Einfacher macht man es sich als Twitter-Chef also mit einer Generalamnestie nicht.
Grundrechtsrelevanz der Deplatforming-Pflicht
Deplatforming kann das Grundrecht auf Meinungs- und Informationsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG bzw. Art. 11 Abs. 1 GRCh in seiner individuellen und objektiven Funktion und den allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG bzw. Art. 20 GRCh verletzen, die hier auf Grund der mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte auch von private Unternehmen wie Twitter zu beachten sind (vgl. Augsberg/Petras, JuS 2022, 97, 101). Dabei beinhaltet der Ausschluss von einer Online-Plattform eine höhere Eingriffsintensität in die Grundrechte der Betroffenen als etwa die Sperrung von Einzelinhalten. Eine Gefahr, die mit der Deplatforming-Pflicht nach Art. 23 Abs. 1 DSA einhergeht, ist das sog. Overblocking, das heißt dass Dienste-Anbieter Nutzer*innen im Zweifel sperren, um gesetzlich angedrohten Bußgeldern zu entgehen. Zu bedenken ist, dass der DSA im Gegensatz zum NetzDG nicht nur eine abschließende Zahl an Straftatbeständen, sondern sämtliche in der EU rechtswidrigen Inhalte betrifft (vgl. EG 12). Zwar besteht eine Kenntnis und damit Haftung der Dienste-Anbieter erst ab Meldung der potenziell rechtswidrigen Inhalte (vgl. Art. 16 Abs. 3, Art. 6 DSA), weshalb diese nicht initiativ nach Rechtsverstößen suchen müssen. Gegen welche konkreten Vorschriften die gemeldeten Inhalte verstoßen, muss jedoch von den Dienste-Anbietern geprüft werden. Es liegt nahe, dass diese Verpflichtung zu einer Überforderung der Dienste-Anbieter, und damit zu einer „vorsorglichen“ extensiveren Löschpraxis im Sinne eines Overblockings führen wird.
Immerhin bietet der DSA Nutzer*innen Schutz vor willkürlichen Sperrungen. Ihnen steht nach Art. 20 Abs. 1 Nr. b), c) DSA ein Beschwerderecht zu. Durch den hier bestehenden Put-Back-Anspruch, also den Anspruch auf Rückgängigmachung der Entscheidung, verspricht dieses Verfahrensrecht eine hinreichende Effektivität – auch gegen Overblocking. So können unverhältnismäßige bzw. willkürliche Deplatforming-Aktionen zumindest durch die betroffenen Nutzer*innen abgewendet werden. Sollte Elon Musk Twitter weiter in der bisherigen Weise organisieren, dürfte das Unternehmen kurzfristig für erhebliches Anschauungsmaterial zu diesem neuen Anspruch sorgen.
Fazit
Im DSA werden rote Linien gezogen, die willkürliche (Ent-)Sperrungen verbieten. Auch eine „Generalamnestie“ gesperrter Nutzer*innen auf der Grundlage populistischer und nicht-repräsentativer Umfragen auf Elon Musks Twitter-Account sind unzulässig. Wie ernst die Gefahr, die von unmoderierten Online-Plattformen ausgeht, ist, machte der EU-Digitalkommissar Thierry Breton klar, indem er damit drohte, Twitter in der EU abzuschalten, sollten die Vorgaben des DSA nicht umgesetzt werden.
Allgemein trägt der DSA durch seine Vorgaben zum Deplatforming und analog zum Unblocking zur Transparenz und Nachvollziehbarkeit von Moderationsmaßnahmen bei. Dienste-Anbieter wie Twitter werden verpflichtet, objektiv und grundrechtskonform über die Mitgliedschaft bei ihren Online-Plattformen zu entscheiden. Dies stellt einen wichtigen Beitrag zur Schaffung einer positiven europäischen Ordnung sozialer Medien dar (vgl. Wagner, ZUM 2022, 861). Wie dringend eine solche erforderlich ist, zeigt sich derzeit nirgends so deutlich wie beim Umgang Elon Musks mit einem der wichtigsten Online-Plattformen unserer Zeit.