Europarechtsbruch als Verfassungspflicht: Karlsruhe zündet die Identitätskontrollbombe
Update (abends): Der Text unten, das Ergebnis meiner ersten Lektüre des heutigen BVerfG-Beschlusses zum EU-Haftbefehl, ist teilweise korrekturbedürftig. Ich habe mich in einigen Punkten in die Irre führen lassen, was aber – das sei zu meiner Verteidigung vorgebracht – nicht allein in meiner Schlamperei, sondern auch in den, sagen wir mal, Eigentümlichkeiten der Gedankenführung des Zweiten Senats begründet liegt, wie mir scheint. Die Pointe ist, dass der Senat doch am Ende kurz vor der Zündung der Bombe noch halt gemacht hat, allerdings auf wiederum einigermaßen muppethafte Weise. Näheres dazu in den Kommentaren, deren Lektüre sich hier echt mal lohnt…
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Jetzt ist es passiert. Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat die Bombe gezündet. Hier ist er, der Fall, wo Deutschland sagt: Wir tun nicht, was wir europarechtlich müssen, weil wir glauben, es verfassungsrechtlich nicht zu dürfen. Europarechtsbruch als Verfassungspflicht! Seit Jahrzehnten wälzen wir uns unruhig im Schlaf bei diesem Gedanken. Und ausgerechnet jetzt, in diesem unseligen Januar 2016, wo uns ohnehin schon allerorten die Fundamente Europas unter den Füßen wegbröckeln, wird er Wirklichkeit.
Nun muss man zugeben, dass der zuständige Berichterstatter Peter M. Huber es verstanden hat, seinen Senatskolleg_innen einen Fall zu präsentieren, der diesen Schritt geradezu nahelegt. Es geht um einen alten Bekannten, den Europäischen Haftbefehl: Seit 2002 muss die Justiz von EU-Mitgliedsstaaten Leute, die in einem anderen EU-Land mit Haftbefehl gesucht werden, ohne viel Spielraum für eigene Rechtmäßigkeitsüberprüfungen ausliefern. Das heißt, wenn ein anderer EU-Staat strafprozessual sich Dinge leistet, die wir selbst nicht dürfen, können wir nicht einfach sagen, da machen wir nicht mit.
Zum Streit kommt es immer wieder durch die Möglichkeit der italienischen Justiz, Angeklagte in deren Abwesenheit zu verurteilen. Wer in Italien untertaucht oder ins Ausland flieht, kann im Prinzip trotzdem zu langen Haftstrafen verurteilt werden – im Extremfall sogar, ohne von dem Prozess gegen sich überhaupt etwas mitbekommen zu haben.
Vor zwei Jahren hatte deswegen der spanische Verfassungsgerichtshof vom EuGH klären lassen, ob man in diesem Fall aus verfassungsrechtlichen Gründen von einer Auslieferung nach Italien absehen könne. Könne man nicht, so der EuGH mit apodiktischer Härte: Es könne keinen nationalen Verfassungsvorbehalt gegenüber dem Europarecht geben. Die Ausnahmen, die der Rahmenbeschluss zum EU-Haftbefehl bei Abwesenheitsverurteilungen vorsehe, spiegle den Konsens der Mitgliedsstaaten wider, wie weit die Beschuldigtenrechte hier reichen sollen. Wer da ausscheren und im Alleingang weiter gehen wolle, der stelle den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens und der gegenseitigen Anerkennung in Frage.
Nun war in diesem spanischen Fall der Sachverhalt noch vergleichsweise milde: Herr Melloni hatte sich nach Spanien abgesetzt, nachdem er wegen betrügerischen Konkurses angeklagt worden war, und beklagte sich vor allem darüber, dass sein Anwalt, der ihn bei seiner Verurteilung zu 10 Jahren Gefängnis vertreten hatte, sein Vertrauen nicht länger genossen hatte.
Der Fall, um den es in Karlsruhe geht, ist von anderem Kaliber: Es geht um einen Amerikaner, der 1992 in Florenz als angeblicher Kokainhändler und Mafiosi zu 30 Jahren Haft verurteilt worden war und nach eigenen Angaben davon überhaupt nichts mitbekommen hatte. 22 Jahre später wurde er in Deutschland aufgrund eines EU-Haftbefehls festgenommen und sollte nach Italien ausgeliefert werden. Ob er dort die Chance bekommen würde, in einem neuen Prozess prüfen zu lassen, wie belastbar die Beweise der Strafverfolger gegen ihn sind, ist umstritten. Das BVerfG jedenfalls kam zu der Überzeugung, dass das nicht hinreichend sichergestellt ist.
Hier muss sich, so der Senat offenbar einstimmig, Verfassungsrecht gegen Europarecht durchsetzen können: Wenn man verurteilt wird, ohne selbst dem Gericht Rede und Antwort stehen zu können, dann steht das Schuldprinzip in Frage, und das Schuldprinzip könne man nicht in Frage stellen, ohne auch die Menschenwürde und das Rechtsstaatsprinzip in Frage zu stellen, und Menschenwürde und Rechtsstaatsprinzip gehören bekanntlich zu dem in Art. 79 III GG sogar gegen verfassungsändernde Mehrheiten geschützten Identitätskern der deutschen Verfassung, kurz: Dies ist ein Fall für die Identitätskontrolle. Hier ist somit tatsächlich, wie schon im Solange-II-Urteil 1986 angelegt, die Grenze dessen erreicht, wozu Deutschland als Mitglied der EU dieselbe überhaupt kompetenziell ermächtigen darf. Hier darf Deutschland von vornherein absolut überhaupt gar nicht mitmachen. Und deswegen, so die Logik des Zweiten Senats, sticht hier am Ende eben doch Verfassungsrecht Europarecht.
Ich muss schon sagen: Wenn der Senat im Bereich des Grundrechtsschutzes sich in dieser Weise ins Zeug legt, ist mir das jedenfalls 1000 mal lieber als wenn er das zum Schutz irgendeiner imaginierten Staatsidentität oder -souveränität probiert. Insofern halte ich den Schauplatz, den er für seinen diesjährigen Showdown mit dem EuGH ausgesucht hat, jedenfalls schon mal für einen Gewinn.
Wer als Sieger vom Platz gehen wird? Das ist offen. Was passiert eigentlich (hat tip an Oliver García für diese Idee), wenn das OLG Düsseldorf, solchermaßen vom BVerfG über seine verfassungsrechtlichen Pflichten belehrt, jetzt sagt: Oh, wenn das so ist, dann müssen wir jetzt doch noch mal in Luxemburg nachfragen, was wir jetzt eigentlich machen sollen…
Das BVerfG hat mit geradezu triumphalistischer Kürze befunden, dass für eine Vorlage zum EuGH überhaupt kein Anlass besteht. Schließlich habe der EuGH in Melloni in unmissverständlichen Worten klar gemacht, wie viel Spieraum das Europarecht für verfassungsrechtliche Bedenken lasse, nämlich überhaupt keinen. Bei einem Acte clair bestehe bekanntlich keine Vorlagepflicht, und wenn Melloni irgendwas war, dann clair.
Könnte man aber nicht auf den Gedanken kommen, dass durch den heutigen Beschluss des BVerfG die Claireté dieses Acte dann doch vielleicht am Ende ein klitzekleines bisschen in Frage gestellt ist? Wäre es nicht vielleicht doch ganz gut, dem EuGH anhand dieses doch etwas krasser gelagerten Falles Gelegenheit zu geben, seine Grundrechtsrechtsprechung weiter auszudifferenzieren? Ist nicht gerade dies das Erfolgsgeheimnis der vergangenen vier Jahrzehnte europäischen Verfassungsgerichtsverbunds gewesen, in Reaktion aufeinander das Grundrechtsschutzniveau in Europa zu heben und zu stabilisieren zum Nutzen aller? Ich würde es dem OLG Düsseldorf nicht übel nehmen, wenn es sich diese Fragen stellte und mit Ja beantwortete. Niemand hat etwas dagegen, es hin und wieder tüchtig krachen zu lassen, solange daraus mehr die Lust am lebendigen Diskurs als an der Zerstörung spricht.
Zudem gibt es ja auch noch die Europäische Menschenrechtskonvention – man beachte den Fall Sejdovic v. Italien 2006, welcher sich mit Artikel 6 (1) der Konvention auseinandersetzte.
Lieber Maximilian,
nein, jedenfalls wenn man dem Bundesverfassungsgericht glaubt, ist dies nicht der Fall, auf den wir alle…
Das BVerfG jedenfalls behauptet, die von ihm angemahnte Prüfung von Auslieferungen wg. Abwesenheitsurteilen sei europarechtlich nicht nur zulässig, sondern sogar geboten und der EuGH hätte dieses eindeutige und im Sinne der CILFIT-Rspr. zweifelsfreie Ergebnis bei einer Vorlage auch nur bestätigen können. Deshalb (und nicht etwa wie von Dir angenommen, weil der EuGH eindeutig a.A. sei) sei die Vorlage entbehrlich.
Folgt man der Argumentation des BVerfG ist neu nur, dass das Gericht sich hier ausnahmsweise zum vorinstanzlichen Grundrechtschutzhelfer des EuGH macht, wo es sonst auf eine eigene Prüfung(skompetenz) verzichtet.
Natürlich kann man bezweifeln, ob der EuGH vor dem Hintergrund der Melloni-Entscheidung nicht doch a.A. gewesen wäre. Aber so wie der Senat das aufgeschrieben hat, ist der (vermeintliche?) Bruch jedenfalls sehr ansehnlich überstrichen.
Herzliche Grüße
Bernhard Wegener
@B. Wegener: Stimmt. Hab ich schlampig gelesen. Aber das ist ja noch viel vogelwilder! Wenn das ein Acte Clair ist, dann ist alles einer.
Sehr geehrter Herr Wegener,
Sie haben m.E. Recht. Allerdings hat das BVerfG die (Fehl-?) Interpretation durch M.S. wohl zumindest bedingt vorsätzlich herbeigeführt, indem es
(1) sich erst einmal lang und breit zur Identitätskontrolle äußert, dann
(2) das Melloni-Urteil in grellen Farben (über-) zeichnet, und dann
(3) plötzlich feststellt, dass vorliegend ja “offenkundig” schon das Europarecht selbst den von der Verfassungsidentität gebotenen Weg weist (sprich: alles vorher geschriebene eigentlich unnötig war).
Bei aller Sympathie für die Verfahrensrechte von Beschuldigten und bei allen Zweifeln am Europäischen Haftbefehl: Eine offenkundig konstruierte Entscheidung, die ganz von dem Bedürfnis getragen scheint, dem EuGH mal richtig eins vor den Latz zu geben (und die nebenbei noch Italien einen anhaltenden Verstoß gegen die Menschenwürde attestiert; geht’s auch eine Nummer kleiner?).
Bleibt zu hoffen, dass jetzt etwas Druck aus dem Karlsruher Kessel entwichen ist – und der Beschluss nicht nur der zurechtgelegte Anlauf für OMT war.