Peter M. Huber in nationaler Mission, oder: Wann kommt das dritte Solange-Urteil aus Karlsruhe?
In der FAZ kann man heute sehr ausführlich noch einmal nachlesen, warum aus konservativ-etatistischer Old-School-Staatsrechtslehrerperspektive die Welt aus den Fugen und die Verfassungssituation der Bundesrepublik Deutschland eine furchtbare ist. Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, Gewaltenteilung, Föderalismus – sämtliche Grundpfeiler der deutschen Verfassungsordnung sind morsch und einsturzbedroht, schreibt Peter M. Huber, Lehrstuhlinhaber für Öffentliches Recht und Staatsphilosophie aus München und im Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts zuständig fürs Europäische und Internationale, anlässlich des 25. Jahrestags der Wiedervereinigung auf der Seite “Staat und Recht”. Was genau im Einzelnen so schlimm ist und warum, will ich hier gar nicht diskutieren, sondern einen Punkt herausgreifen, der mir bemerkenswert erscheint.
Im vierten Absatz seines Textes beklagt sich Huber, dass Deutschland seine Partikularinteressen in Europa nicht hinreichend beherzt und selbstbewusst durchsetzt. Wer das wohlverstandene deutsche Interesse mit dem europäischen stets für deckungsgleich hält, der irrt, so Huber – und zeigt darin seine “intellektuelle oder politische Unfähigkeit oder Unwilligkeit zur eigenen Positionsbestimmung“, eine Art nationalpolitischer Schlappschwänzigkeit also, in welcher Huber die wahre Erklärung für die spöttisch “German Vote” genannte Enthaltung im Rat zu finden vermeint (und nicht in den föderalen und wahlrechtlichen Besonderheiten, die das “Durchregieren” bei uns schwerer machen als in Frankreich und UK) und die er in die Nähe dessen rückt, “was unsere angelsächsischen Freunde abschätzig ,German linguistic submissiveness’ nennen, also den anbieternden Verzicht auf unsere Sprache und damit auf die Chance, die europäische Entwicklung auch mit unseren Wertvorstellungen, Traditionen und Bildern zu prägen“.
Diese nationalpolitische Schlappschwänzigkeit hält Huber nicht nur für ärgerlich, sondern offenbar für ein regelrechtes Verfassungsproblem. Das deutsche Volk als Träger der verfassungsgebenden Gewalt und “politische Schicksals- und Handlungsgemeinschaft” habe sich mit dem Grundgesetz die Form eines “letztverbindlich handelnden, souveränen beziehungsweise souveränitätsbefähigten deutschen Nationalstaats” gegeben, und seinem Wohl und seinem Nutzen seien die Verfassungsorgane dieses Staats kraft Amtseid verpflichtet. Ergo: der verfassungsrechtliche Auftrag deutscher Politik in Europa ist nicht etwa, zu tun, was für Europa gut ist. Sondern zu tun, was für Deutschland gut ist.
Zu viel Reluctance, zu wenig Hegemon?
Dass Huber das so sieht, überrascht mich nicht, das ist alles ganz orthodox. Erstaunlich finde ich vielmehr, dass er diesen Punkt gerade jetzt macht, und das obendrein inmitten einer jeremiadischen Verfallsgeschichte. Als ob es im Jahr 2015 in Europa ausgerechnet an harter deutscher Interessenpolitik fehlen würde. Als ob nicht im Jahr 2015 Deutschland in der Durchsetzung seiner fiskal-, migrations- und sonstigen Vorstellungen in Europa ein Maß an Bulligkeit an den Tag gelegt hätte, bei dem nicht nur mir gelegentlich angst und bang wird. Als ob im Jahr 2015 das Problem am vermeintlichen “reluctant hegemon” Deutschland zu viel Reluctance wäre und zu wenig Hegemon!
Vielleicht lässt sich dies erklären, wenn man sich vor Augen hält, dass es der für Europapolitik zuständige Richter im Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts ist, der dieses schreibt. Die Bundeskanzlerin mag in Europa mächtiger sein und auftreten denn je – das Bundesverfassungsgericht plagen ganz andere Sorgen.
Über den Kampf, den der Zweite Senat gegen den EuGH um die Position des verfassungsrechtlichen Letztentscheiders seit vielen Jahren und Jahrzehnten führt, ist in diesem Blog schon viel geschrieben worden. Ich will das jetzt nicht alles rekapitulieren. Das Muster ist immer das gleiche: Das BVerfG schlägt mit großer Geste einen Pfosten ein und sagt, unter diesen oder jenen Voraussetzungen werden wir europäisches Recht an deutscher Verfassung messen und, wenn nötig, für ungültig erklären! Dann geraten alle in große Hektik, der EuGH reagiert, und am Ende stellt sich alles als halb so wild heraus, das BVerfG präzisiert die besagten Voraussetzungen auf einem Level, das seine Realisierung ganz unwahrscheinlich macht, und alles beruhigt sich wieder. Bis das BVerfG wieder nervös wird und nach einer neuen Gelegenheit sucht, sich mitsamt seinem Letztentscheidungsanspruch in Europa wieder in Erinnerung zu rufen.
Das ist ein durchaus verdienstvolles, da die Fortentwicklung der europäischen Verfassungsordnung vorantreibendes, aber für das BVerfG selbst ruhmloses Geschäft. Gebellt, aber nicht gebissen, heißt es am Ende immer. So war es bei Solange I und II und Bananenmarktordnung, so war das bei Lissabon und Honeywell, und wenn nicht alles täuscht, wird das auch bei OMT-Vorlagebeschluss und OMT-Urteil so sein. Huber hat bekanntlich selbst öffentlich gesagt, dass er jede vertretbare Antwort aus Luxemburg akzeptieren werde. Und die Antwort ist denn auch so ausgefallen, dass es wohl genau so kommen wird (gottseidank).
Solange III
Nun scheint mir aber der nächste Streich aus Karlsruhe schon am Horizont erkennbar. Unter den Fällen, die der Zweite Senat laut so genannter “Lügenliste” in diesem Jahr noch entscheiden zu wollen vorgibt, ist einer, der schon seit sechs Jahren in Karlsruhe liegt – und der sich für ein Solange III perfekt zu eignen scheint. Er fällt ins Dezernat von Peter M. Huber und trägt das Aktenzeichen 2 BvR 1961/09.
Es geht dabei um die Verfassungsbeschwerde von Eltern, deren Kinder die Europäische Schule Frankfurt besucht haben, ohne dass sie selbst bei einer EU-Institution arbeiteten (so genannte Nichtberechtigte). Sie wollten sich gegen eine Erhöhung des Schulgelds zur Wehr setzen, mussten aber feststellen, dass sie das nicht konnten – und zwar nicht deshalb, weil die Erhöhung unbedingt rechtmäßig war, sondern weil es schlicht keinen Rechtsschutz gibt in dieser Konstellation.
Nach der Satzung für die Europäischen Schulen legt das Schulgeld ein “Oberster Rat” fest, in dem Vertreter der Mitgliedsstaaten, der Kommission, der Lehrer- und der Elternschaft sitzen. Gegen seine Beschlüsse kann man eine Beschwerdekammer anrufen, aber die erklärte sich in diesem Fall für unzuständig. Vor ein deutsches Gericht kann man aber auch nicht ziehen, weil die Europäischen Schulen, so der Bundesgerichtshof in letzter Instanz, als internationale Organisationen nicht der deutschen Gerichtsbarkeit unterliegen.
Ein rechtsfreier Raum also. Hier wird hoheitlich entschieden und in Grundrechte eingegriffen, und kein Gericht kann das jemals nachprüfen. Das darf es eigentlich nach Art. 19 IV Grundgesetz nicht geben.
Die Europäischen Schulen unterstehen aber nicht dem Grundgesetz. Und nach dem Solange-II-Urteil kann bei einer Lücke im europäischen Grundrechtsschutz das deutsche Bundesverfassungsgericht erst dann intervenieren, wenn die EU generell keinen dem des Grundgesetzes im Wesentlichen gleich zu achtenden Grundrechtsschutz mehr gewährleistet. Wenn also wirklich alles ins Rutschen kommt. Und das wird man im Fall der Frankfurter Schulgelder bei aller Liebe dann doch nicht behaupten können.
Wenn Huber einen Fall sucht, um für das BVerfG wieder den Fuß in die europa-verfassungsrechtliche Tür zu bekommen – das dürfte er sein. Hier müssen mitten in Frankfurt am Main deutsche Eltern von irgendeinem “Obersten Rat” sich ihr sauer verdientes Geld abknöpfen zu lassen, ohne dass dieser irgendeine Art von richterlicher Kontrolle zu befürchten braucht? Das kann nicht sein. Natürlich liegt der Fall sehr speziell, aber als Präzedenz für einen Vorbehalt, wonach nicht erst bei einem generellen Abrutschen des Grundrechtsschutzniveaus, sondern auch bei einzelnen abgrenzbaren Schutzlücken das Bundesverfassungsgericht ins Spiel kommen kann, taugt er allemal.
Ich hätte da auch gar nicht unbedingt was dagegen. Nach den Erfahrungen der letzten Jahre habe ich mir abgewöhnt, jedesmal zu hyperventilieren, wenn ein nationales Verfassungsgericht Prüfvorbehalte gegenüber europäischem Recht anmeldet. Im Zweifel hat das sowieso eine eher anregende Wirkung auf die europäische Verfassungsfortbildung, wie man auch an den jüngsten Bemühungen des EuGH, sich als veritables, Grundrechte schützendes Verfassungsgericht zu etablieren, sehen kann. Solange der Prüfvorbehalt nicht ausgeübt wird, richtet er ohnehin keinen Schaden an, und selbst wenn doch, wie im Fall des tschechischen Verfassungsgerichts vor einiger Zeit, geht offenbar die Welt nicht gleich unter.
Wie das Urteil Europäische Schule Frankfurt am Ende aussehen wird, werden wir sehen. Wann es kommt, kann ich nicht sagen. Die “Lügenliste” trägt ihren Namen nicht umsonst. In Karlsruhe konnte ich nichts Näheres dazu in Erfahrung bringen. Ich wäre aber nicht überrascht, wenn es noch vor dem OMT-Urteil kommt.
Der Aufsatz von Huber ist in mehrerer Hinsicht erschreckend. Etwa bei der “Nutzung” der Präambel des GG. Diese zieht Huber ja heran, um seine betont nationale Vorstellung von (deutscher) Politik zu begründen: “Nach innen knüpft sie [die Präambel] an das deutsche Volk als politische Schicksals- und Handlungsgemeinschaft an und qualifiziert die Bundesrepublik Deutschland so als den letztverbindlich handelnden, souveränen beziehungsweise souveränitätsbefähigten deutschen Nationalstaat.” Nun “vergisst” Huber dabei, dass die Präambel auch noch einen interessanten Passus darüber enthält, dass das Deutsche Volk sich dieses Grundgesetz gegeben hat “von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu diesen”. Bei Huber ist “Europa” allein als Bedrohung relevant – dabei unterschlägt er Teile des GG und seiner Präambel – eine “unbegrenzte Auslegung” möchte man fast sagen. Finstere Zeiten.
“Nun “vergisst” Huber dabei, dass die Präambel auch noch einen interessanten Passus darüber enthält, dass das Deutsche Volk sich dieses Grundgesetz gegeben hat “von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu diesen”.
Das GG wurde 1948 bis 49 geschrieben. “Gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa” kann sich also schon logisch gar nicht auf die aktuelle Situation beziehen, dass das BVerfG hier Klärungsbedarf gegenüber einer Praxis der EZB sieht und sich bei aufkommenden Konflikten mit dem EuGh im Sinne eines vereinten Europas bitte unterzuordnen hat.
Die EU ist, auch wenn viele Menschen das gerne ändern möchten, immer noch ein Staatenbund, kein Bundesstaat.
Wohl eher nicht so der “Solange III” Kandidat. Solange der EuGH sich noch nicht zu der Konstellation geäußert hat (und die Position gehalten hat) schonmal gar nicht. Ich vermute, Sie haben da Hinweise falsch zugeordnet?